Wladimir I. Lenin 19170512 Rede über die nationale Frage

Wladimir I. Lenin: Rede über die nationale Frage1

am 12. Mai (29. April)

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in dem Buche „Die Petrograder Stadtkonferenz und die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im April 1917" (russisch). Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 366-368-374]

Seit dem Jahre 1903, wo unsere Partei sich ein Programm gegeben hatte, sind wir immer wieder auf die erbitterte Opposition der Polen gestoßen. Wenn ihr die Protokolle des zweiten Parteitages studiert, so werdet ihr sehen, dass sie schon damals dieselben Argumente ins Feld führten, mit denen wir es jetzt zu tun haben, und die polnischen Sozialdemokraten haben diesen Parteitag verlassen, weil sie fanden, dass die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker für sie unannehmbar sei.

Und seither stoßen wir immer wieder auf dieselbe Frage. Im Jahre 1903 gab es bereits den Imperialismus, damals aber fehlte unter den Argumenten der Hinweis auf den Imperialismus; heute wie damals bleibt die Stellung der polnischen Sozialdemokratie ein merkwürdiger, ungeheuerlicher Fehler: diese Leute wollen, dass unsere Partei den Standpunkt der Chauvinisten beziehe.

Die Politik Polens ist dank der langjährigen Knechtung durch Russland durchaus nationalistisch, und das ganze polnische Volk ist von dem einzigen Gedanken erfüllt, sich an den Moskowitern zu rächen. Niemand hat die Polen so unterdrückt, wie das russische Volk. Das russische Volk diente in den Händen der Zaren als Henker der polnischen Freiheit. Es gibt kein Volk, das Russland so sehr hasst, wie die Polen, und daraus ergibt sich eine seltsame Erscheinung. Polen ist wegen der polnischen Bourgeoisie ein Hindernis für die sozialistische Bewegung. Mag die ganze Welt im Feuer aufgehen – wenn nur Polen frei wird. Eine solche Fragestellung ist natürlich ein Hohn auf den Internationalismus. Natürlich wird Polen jetzt vergewaltigt … Dass aber die polnischen Nationalisten ihre Befreiung von Russland erwarten sollen – das ist ein Verrat an der Internationale. Die polnischen Nationalisten haben das polnische Volk mit ihren Ansichten so durchtränkt, dass man dort die Dinge so betrachtet.

Das gewaltige geschichtliche Verdienst der Genossen von der polnischen Sozialdemokratie ist, dass sie die Losung des Internationalismus ausgaben und sagten: das Wichtigste für uns ist das brüderliche Bündnis mit dem Proletariat aller übrigen Länder, und wir werden einen Krieg für die Befreiung Polens nie mitmachen. Das ist ihr Verdienst, und darum haben wir immer nur diese Genossen von der polnischen Sozialdemokratie für Sozialisten gehalten. Die anderen, das sind Patrioten, polnische Plechanows. Aber aus dieser originellen Lage, in der Leute, um den Sozialismus zu retten, gegen den tollen, krankhaften Nationalismus kämpfen mussten, ergab sich eine seltsame Erscheinung: die Genossen kommen zu uns und sagen, dass wir auf die Freiheit Polens, auf seine Lostrennung verzichten sollen.

Warum sollen wir, die Großrussen, die wir eine größere Zahl von Nationen unterdrücken als irgendein anderes Volk, auf die Anerkennung des Lostrennungsrechtes Polens, der Ukraine, Finnlands verzichten? Man empfiehlt uns: werdet Chauvinisten, ihr werdet dadurch die Stellung der Sozialdemokraten in Polen erleichtern; wir erheben keinen Anspruch auf die Befreiung Polens, weil das polnische Volk zwischen zwei kampffähigen Staaten lebt. Anstatt aber zu sagen, dass die polnischen Arbeiter folgendermaßen urteilen müssen: nur jene Sozialdemokraten bleiben Demokraten, die der Auffassung sind, dass das polnische Volk frei sein müsse, denn für Chauvinisten ist in den Reihen der Sozialistischen Partei kein Platz, sagen die polnischen Sozialdemokraten: gerade weil wir ein Bündnis mit den russischen Arbeitern für vorteilhaft halten, sind wir gegen die Lostrennung Polens. Das ist ihr gutes Recht. Aber sie wollen nicht einsehen, dass man, um den Internationalismus zu stärken, nicht ein und dieselben Worte wiederholen muss, dass man vielmehr in Russland die Freiheit der Lostrennung unterdrückter Nationen betonen, während man in Polen die Freiheit der Vereinigung unterstreichen muss. Die Freiheit der Vereinigung setzt die Freiheit der Lostrennung voraus. Wir Russen müssen die Freiheit der Lostrennung betonen, die Polen aber die Freiheit der Vereinigung.

Wir sehen hier eine Reihe von Sophismen, die zur völligen Preisgabe des Marxismus führen. Der Standpunkt des Genossen Pjatakow ist eine Wiederholung des Standpunktes von Rosa Luxemburg…2 (Das Beispiel Hollands.) So urteilt Genosse Pjatakow, und damit schlägt er sich selbst, denn in der Theorie ist er für die Verneinung der Freiheit der Lostrennung, während er dem Volke sagt: wer die Freiheit der Lostrennung verneint, ist kein Sozialist. Was Genosse Pjatakow hier gesagt hat, ist eine unglaubliche Konfusion. In Westeuropa überwiegen die Länder, in denen die nationale Frage längst gelöst ist. Wenn man davon spricht, dass die nationale Frage gelöst sei, so ist Westeuropa gemeint. Genosse Pjatakow überträgt das dahin, wohin es nicht gehört, nämlich nach Osteuropa, und wir geraten in eine lächerliche Lage.

Man bedenke, was für ein furchtbarer Brei dabei herauskommt! Finnland liegt in unserer unmittelbaren Nähe. Genosse Pjatakow gibt in Bezug auf Finnland keine konkrete Antwort, er hat sich ganz verrannt. In der „Rabotschaja Gazeta" habt ihr gestern gelesen, dass in Finnland die separatistische Bewegung wächst. Die Finnländer kommen her und sagen, dass der Separatismus bei ihnen wachse, weil die Kadetten Finnland keine volle Autonomie gewähren. Dort reift eine Krise heran, es wächst die Unzufriedenheit mit dem General-Gouverneur Roditschew, die „Rabotschaja Gazeta" aber schreibt, die Finnen sollen auf die Konstituante warten, da dort eine Verständigung zwischen Finnland und Russland erzielt werden würde. Was heißt Verständigung? Die Finnen müssen sagen, dass sie das Recht haben, über ihr Schicksal nach eigenem Ermessen zu bestimmen, und der Großrusse, der dieses Recht leugnen wollte, wäre ein Chauvinist. Etwas anderes ist es, wenn wir dem finnischen Arbeiter sagen: wie ist es für dich vorteilhaft zu entscheiden…3

Genosse Pjatakow beschränkt sich darauf, unsere Losung abzulehnen, indem er sagt, das sei keine Losung für die sozialistische Revolution, er selbst aber hat eine entsprechende Losung nicht gegeben. Die Methode der sozialistischen Revolution unter der Losung: „Fort mit den Grenzen" ist vollkommene Konfusion. Es war mir nicht möglich, jenen Artikel zu veröffentlichen, in dem ich diese Auffassung als „Imperialistischen Ökonomismus" bezeichnete. Was bedeutet die „Methode" der sozialistischen Revolution unter der „Losung „Fort mit den Grenzen"? Wir sind für die Notwendigkeit des Staates, der Staat aber setzt Grenzen voraus. Der Staat kann natürlich eine bürgerliche Regierung haben, während wir Räte brauchen. Aber auch für sie steht die Frage der Grenzen. Was heißt „Fort mit den Grenzen"? Hier beginnt die Anarchie …

Die „Methode" der sozialistischen Revolution unter der Losung „Fort mit den Grenzen" – ist einfach Brei. Wenn die sozialistische Revolution herangereift sein wird, wenn sie da ist, wird sie auf andere Länder übergreifen, und wir werden ihr helfen, aber wie, das wissen wir nicht. Die „Methode der sozialistischen Revolution" ist eine inhaltslose Phrase. Soweit noch Reste der von der bürgerlichen Revolution nicht gelösten Fragen vorhanden sind, sind wir für ihre Lösung. Wir stehen der separatistischen Bewegung gleichgültig, neutral gegenüber. Wenn Finnland, wenn Polen oder die Ukraine sich von Russland lostrennen, so ist daran nichts Schlimmes. Was ist daran Schlimmes? Wer das sagt, ist ein Chauvinist. Man muss den Verstand verloren haben, um die Politik des Zaren Nikolaus fortsetzen zu wollen. Hat sich doch Norwegen von Schweden getrennt… Ehedem tauschten Alexander I. und Napoleon Völker miteinander aus, ehedem tauschten die Zaren Polen aus, und wir sollen diese Taktik der Zaren fortsetzen? Das wäre ein Verzicht auf die Taktik des Internationalismus, das wäre Chauvinismus schlimmster Sorte. Wenn Finnland sich lostrennt, was ist daran Schlimmes? Bei beiden Völkern, beim Proletariat Norwegens und Schwedens, ist das Vertrauen zueinander nach der Trennung stärker geworden. Die schwedischen Gutsbesitzer wollten einen Krieg beginnen, aber die schwedischen Arbeiter widersetzten sich dem und sagten: diesen Krieg werden wir nicht mitmachen.

Die Finnländer wollen jetzt nur Autonomie. Wir sind dafür, dass Finnland völlige Freiheit gegeben wird, dann wird das Vertrauen zur russischen Demokratie erstarken, gerade dann, wenn das durchgeführt wird, werden sie sich nicht lostrennen. Während Herr Roditschew zu ihnen kommt und um die Autonomie feilscht, kommen zu uns finnische Genossen und sagen: wir brauchen Autonomie. Gegen sie aber wird ein Feuer aus allen Geschützen eröffnet, indem man ihnen sagt: „Wartet auf die Konstituierende Versammlung." Wir aber sagen: „Ein russischer Sozialist, der die Freiheit Finnlands verneint, ist ein Chauvinist."

Wir sagen, dass über die Grenzen der Wille der Bevölkerung zu bestimmen hat. Russland, wage es nicht, wegen Kurland Krieg zu führen! Deutschland, weg mit den Truppen aus Kurland! So lösen wir die Frage der Lostrennung Das Proletariat kann nicht zur Gewalt greifen, denn es darf die Freiheit der Völker nicht behindern. Die Losung „Fort mit den Grenzen" wird dann richtig sein, wenn die sozialistische Revolution eine Realität ist und nicht eine Methode, dann werden wir sagen, Genossen, kommt zu uns …

Etwas ganz anderes ist die Frage des Krieges. Im Notfalle werden wir auf einen revolutionären Krieg nicht verzichten. Wir sind keine Pazifisten … Wenn bei uns Miljukow sitzt und Roditschew nach Finnland schickt, der dort schamlos mit dem finnischen Volk feilscht, so sagen wir: nein, russisches Volk, wage es nicht, Finnland zu vergewaltigen: das Volk kann nicht frei sein, das selbst andere Völker unterdrückt. In der Resolution über Borgbjerg sagen wir: zieht die Truppen zurück und lasst die Nationen die Frage selbständig entscheiden. Also wenn morgen der Rat die Macht in seine Hände nimmt, so wird das nicht eine „Methode der sozialistischen Revolution" sein; wir werden dann sagen: Deutschland, heraus mit den Truppen aus Polen, Russland, heraus mit den Truppen aus Armenien! Alles andere wäre Betrug.

Von seinem unterdrückten Polen sagt uns der Genosse Dzierzynski, dass dort alle Chauvinisten seien. Warum aber sagt niemand von den Polen ein Wort darüber, was mit Finnland, was mit der Ukraine werden soll? Wir streiten darüber seit 1903 so viel, dass es einem schwer fällt, darüber zu sprechen. Entscheide selbst, wohin du gehen willst… Wer nicht auf diesem Standpunkt steht, ist ein Annexionist, ist ein Chauvinist. Wir wollen das brüderliche Bündnis aller Völker. Wenn es eine ukrainische Republik und eine russische Republik geben wird, so wird es zwischen ihnen mehr Zusammenhang, mehr Vertrauen geben. Wenn die Ukrainer sehen werden, dass wir eine Sowjetrepublik haben, werden sie sich nicht lostrennen, wenn wir aber eine Republik Miljukows haben werden, werden sie sich lostrennen. Wenn Genosse Pjatakow, in vollem Widerspruch zu seinen Auffassungen, sagte: wir sind gegen ein gewaltsames Festhalten innerhalb der Grenzen, so ist das eben die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Wir wollen durchaus nicht, dass der Bauer in Chiwa unter dem Joch des Chans von Chiwa lebe. Durch die Entwicklung unserer Revolution werden wir die unterdrückten Massen beeinflussen. Die Agitation innerhalb der unterdrückten Masse kann nur in dieser Weise getrieben werden.

Aber jeder russische Sozialist, der die Freiheit Finnlands und der Ukraine nicht anerkennt, wird zum Chauvinismus abrutschen, und durch keinerlei Sophismen oder Hinweise auf ihre „Methode" werden sie sich je rechtfertigen können.

1 Referent über die nationale Frage auf der Aprilkonferenz war J. W. Stalin. Er fasste seine Rede in folgenden Sätzen zusammen: „Anerkennung des Rechtes der Völker auf Lostrennung; für diejenigen Völker, die in den Grenzen des gegebenen Staates verbleiben, Gebietsautonomie; für die nationalen Minderheiten besondere Gesetze, die ihnen freie Entwicklung gewährleisten; für die Proletarier aller Nationalitäten des betreffenden Staates eine einheitliche unteilbare proletarische Gemeinschaft, die einheitliche Partei."

Das Koreferat hielt G. L. Pjatakow. Er vertrat die Ansicht, dass die nationale Zwietracht und die Zuspitzung der nationalen Frage Überbleibsel aus der Epoche des Feudalismus und der Periode des Kampfes der entstehenden Bourgeoisie gegen den Feudalismus sei. In dem Maße, wie die Epoche des entwickelten Kapitalismus und Imperialismus die Frage der sozialen Revolution aufrollt, verschwinde die nationale Frage, da es unter dem Sozialismus keine nationale Trennung geben könne und die entwickelten Industrieländer notwendigerweise einen einheitlichen Wirtschaftsorganismus bilden würden. Die Losung der Lostrennung der Nationen müsse ersetzt werden durch die Losung: „Fort mit den Grenzen zwischen den Nationen und den Staaten".

Felix Dzierzynski, auf dem traditionellen Standpunkt der polnischen Sozialdemokratie verharrend, wandte sich gegen die von Lenin vorgeschlagene Resolution, indem er nachzuweisen suchte, dass die nationalistischen Bestrebungen reaktionär seien und dass der Kampf um die soziale Revolution die separatistischen Bestrebungen der kleinen Völker beiseite schieben werde.

Die Aufzeichnung der Rede Lenins über die nationale Frage ist außerordentlich ungenau und voller Lücken.

2 Lücke in den Aufzeichnungen des Protokolls. D. Red.

3 Lücke in den Aufzeichnungen des Protokolls. D. Red.

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