Wladimir I. Lenin 19170510 Rede zur Resolution über den Krieg

Wladimir I. Lenin: Rede zur Resolution über den Krieg1

Am 10. Mai (27. April) 1917

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in dem Buche „Die Petrograder Stadtkonferenz und die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im April 1917" (russisch). Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 345-358]

Genossen! Den ursprünglichen Entwurf der Resolution über den Krieg habe ich auch auf der Stadtkonferenz verlesen. Infolge der Krise, die in Petrograd die Aufmerksamkeit und die Kräfte aller Genossen in Anspruch nahm, war es uns nicht möglich, diesen Entwurf zu korrigieren. Gestern und heute aber hat die Kommission fleißig gearbeitet, und der Entwurf ist abgeändert, stark verkürzt und, meiner Ansicht nach, besser geworden.

Ich will einige Worte über den Aufbau dieser Resolution sagen. Sie zerfällt in drei Teile: der erste Teil enthält eine Klassenanalyse des Krieges, ergänzt durch eine prinzipielle Erklärung, warum die Partei davor warnt, den Regierungsversprechungen irgendwie Glauben zu schenken und die Provisorische Regierung in irgendeiner Weise zu unterstützen. Der zweite Teil der Resolution beschäftigt sich mit der Frage des revolutionären Oboronzentums als einer ungewöhnlich breiten Massenströmung, die zur Zeit die übergroße Mehrheit des Volkes gegen uns vereinigt hat. Die Aufgabe besteht darin, die Klassenbedeutung dieses revolutionären Oboronzentums zu bestimmen, sein Wesen, das reale Kräfteverhältnis, und festzustellen, wie wir gegen diese Strömung ankämpfen können. Der dritte Teil der Resolution behandelt die Frage, wie man den Krieg beenden kann. Auf diese praktische Frage, die von größter Wichtigkeit für die Partei ist, war es notwendig, ausführlich zu antworten, und wir sind der Ansicht, dass es uns gelungen ist, eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben. In einer Reihe von Artikeln der „Prawda" und der Provinzblätter (die wir sehr unregelmäßig erhalten: die Post funktioniert nicht, und man ist auf Gelegenheiten angewiesen, örtliche Blätter für das ZK zu beschaffen), in denen eine große Anzahl von Artikeln über den Krieg veröffentlicht wurde, ist die ablehnende Stellung zum Krieg und zur Anleihefrage klar zum Ausdruck gekommen. Ich denke, dass mit der Abstimmung gegen die Anleihe die Frage der ablehnenden Stellung gegenüber dem revolutionären Oboronzentum entschieden ist. Es ist mir nicht möglich, ausführlicher dabei zu verweilen.

Der gegenwärtige Krieg ist auf Seiten beider Gruppen der kriegführenden Mächte ein imperialistischer Krieg, d. h. ein Krieg, den die Kapitalisten führen um die Aufteilung der Vorteile, die die Weltherrschaft bietet, um die Märkte für das Finanzkapital (Bankkapital), um die Unterwerfung schwacher Völkerschaften usw."

Das erste und grundlegende Prinzip ist die Frage nach dem Inhalt des Krieges, eine Frage allgemeinen und politischen Charakters, eine strittige Frage, die die Kapitalisten und Sozialchauvinisten sorgfältig umgehen. Deshalb müssen wir diese Frage an die erste Stelle setzen und eine Ergänzung hinzufügen.

Jeder Tag des Krieges bereichert die Finanz- und Industriebourgeoisie und ruiniert und erschöpft die Kräfte des Proletariats und der Bauernschaft aller kriegführenden, aber auch der neutralen Länder. Für Russland aber bringt die Verlängerung des Krieges überdies die größte Gefahr für die Errungenschaften der Revolution, für ihre weitere Entwicklung mit sich.

Der Übergang der Staatsmacht in Russland auf die Provisorische Regierung, die Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten, hat diesen Charakter und die Bedeutung des Krieges seitens Russlands nicht geändert und konnte daran auch nichts ändern."

Dieser von mir soeben verlesene Satz ist für unsere gesamte Propaganda und Agitation von großer Bedeutung. Hat sich jetzt der Klassencharakter des Krieges geändert und kann er sich ändern? Unsere Antwort beruht darauf, dass die Macht in die Hände der Gutsbesitzer und Kapitalisten übergegangen ist, in die Hände derselben, die diesen Krieg vorbereitet haben. Weiter kommen wir zu einer Tatsache, die den Charakter des Krieges am anschaulichsten zeigt. Es ist zweierlei, der Klassencharakter, wie er zum Ausdruck kommt in der gesamten Politik, die bestimmte Klassen im Laufe von Jahrzehnten getrieben haben, und der anschauliche Klassencharakter des Krieges.

Diese Tatsache kam anschaulich zum Ausdruck in dem Umstand, dass die neue Regierung nicht nur die Geheimverträge, die der Exzar Nikolaus II. mit den kapitalistischen Regierungen Englands, Frankreichs usw. abgeschlossen hat, nicht veröffentlichte, sondern diese Geheimverträge, die den russischen Kapitalisten die Ausplünderung Chinas, Persiens, der Türkei, Österreichs usw. versprechen, ohne Befragung des Volkes auch formell bestätigte. Durch die Verheimlichung dieser Verträge wird das russische Volk über den wahren Charakter des Krieges getäuscht."

Also, ich betone nochmals, dass wir auf die anschauliche Bestätigung des Charakters des Krieges besonders hinweisen. Selbst wenn es gar keine Verträge gäbe, würde sich der Charakter des Krieges nicht im Geringsten ändern, denn eine Verständigung zwischen Kapitalistengruppen kann sehr häufig ohne jeden Vertrag erreicht werden. Aber diese Verträge existieren, ihre Bedeutung ist besonders anschaulich, und wir erachten es im Interesse der agitatorischen und propagandistischen Arbeit für notwendig, diese Tatsache besonders zu unterstreichen, und haben deshalb beschlossen, diesen Punkt getrennt zu behandeln. Die Aufmerksamkeit des Volkes richtet sich auf diese Tatsache, und sie muss sich darauf richten, um so mehr, als diese Verträge bei uns geschlossen wurden von dem Zaren, der gestürzt ist, so dass nunmehr die Aufmerksamkeit des Volkes darauf gelenkt werden muss, dass die Regierungen den Krieg führen auf Grund von Verträgen, die von den alten Regierungen geschlossen wurden. Ich glaube, dass hier die Gegensätze zwischen den Interessen der Kapitalisten und dem Volkswillen in der plastischsten Form zum Vorschein kommen, und die Aufgabe der Agitatoren ist es, durch die Aufdeckung dieser Gegensätze die Aufmerksamkeit des Volkes darauf zu richten, sich zu bemühen, das Bewusstsein der Massen aufzuhellen, indem sie an ihr Klassenbewusstsein appellieren. Der Inhalt der Verträge aber ist derart, dass kein Zweifel darüber bestehen kann, dass sie den Kapitalisten gewaltige Gewinne durch die Ausplünderung anderer Länder in Aussicht stellen, soweit diese Verträge stets in allen Ländern geheim bleiben. Es gibt keine einzige Republik in der Welt, die ihre Außenpolitik offen betreibt. Solange die kapitalistische Ordnung besteht, ist nicht zu erwarten, dass die Kapitalisten ihre Geschäftsbücher öffnen. Mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ist eben auch das Privateigentum an Aktien und Finanzoperationen gegeben. Die Hauptgrundlage der jetzigen Diplomatie sind eben Finanzoperationen, die auf die Ausplünderung und Erdrosselung der schwachen Völkerschaften hinauslaufen. Das sind, von unserem Standpunkt aus, die Grundsätze, aus denen sich die gesamte Beurteilung des Krieges ergibt. Aus ihnen ziehen wir die Schlussfolgerung:

Die proletarische Partei kann deshalb weder den jetzigen Krieg noch die jetzige Regierung noch ihre Anleihen unterstützen, ohne mit dem Internationalismus, d. h. mit der brüderlichen Solidarität der Arbeiter aller Länder gegen das Joch des Kapitals vollständig zu brechen."

Das ist unsere wichtigste, grundlegende Methode, die unsere ganze Taktik bestimmt und uns von allen anderen Parteien trennt, wie sehr sie sich auch sozialistisch nennen mögen. Durch diesen Grundsatz, der für uns unbestreitbar ist, ist die Frage unserer Stellung zu allen anderen politischen Parteien im Voraus entschieden.

Im Weiteren ist die Rede davon, dass unsere Regierung die Frage der Versprechungen besonders umfassend gestellt hat. Um diese Versprechungen geht die fortwährende Kampagne der Räte, die sich in diesen Versprechungen, mit denen man das Volk ködert, verstrickt haben. Darum halten wir es für unerlässlich, der rein objektiven Analyse der Klassenlage eine Einschätzung der Versprechungen hinzuzufügen – der Versprechungen, die natürlich an und für sich für einen Marxisten gar keine Bedeutung haben. Aber für die breiten Massen bedeuten sie viel und für die Politik noch mehr. Der Petrograder Rat hat sich in diesen Versprechungen verstrickt und verleiht ihnen Gewicht, indem er seine Unterstützung verspricht. Aus diesem Grunde fügen wir diesem Punkt folgende Formulierung hinzu:

Keinerlei Vertrauen verdienen die Versprechungen der jetzigen Regierung, auf Annexionen zu verzichten, d. h. auf die Eroberung fremder Länder oder auf das gewaltsame Festhalten irgendwelcher Völkerschaften innerhalb der Grenzen Russlands."

Da das Wort „Annexion" ein Fremdwort ist, geben wir ihm eine genaue politische Definition, die weder die Partei der Kadetten noch die Parteien der kleinbürgerlichen Demokraten (Narodniki und Menschewiki) ihm geben können. Es gibt keine Worte, die ähnlich sinnlos und schlampig gebraucht worden wären.

Denn erstens können die Kapitalisten, die durch Tausende von Fäden des Bankkapitals miteinander verknüpft sind, nicht auf Annexionen in diesem Kriege verzichten, ohne auf die Profite aus den Milliarden zu verzichten, die in den Anleihen, in den Konzessionen, in den Kriegsindustriebetrieben usw. investiert sind; zweitens hat die neue Regierung, nachdem sie, um das Volk zu betrügen, auf Annexionen verzichtete, durch den Mund Miljukows am 9. April 1917 in Moskau erklärt, dass sie auf Annexionen nicht verzichtet, und durch die Note vom 18. April sowie deren Erläuterung vom 22. April hat sie den Eroberungscharakter ihrer Politik bestätigt.

Indem die Konferenz das Volk vor den leeren Versprechungen der Kapitalisten warnt, erklärt sie, dass man streng unterscheiden muss zwischen einem Verzicht auf Annexionen in Worten und einem Verzicht auf Annexionen in der Tat, d. h. durch sofortige Veröffentlichung aller geheimen Raubverträge und sofortige Einräumung des Rechtes an alle Völkerschaften, durch freie Abstimmung über die Frage zu entscheiden, ob sie unabhängige Staaten sein oder sich irgendeinem Staate anschließen wollen."

Darauf hinzuweisen hielten wir für notwendig, weil die Frage eines Friedens ohne Annexionen die Hauptfrage in all diesen Diskussionen über die Friedensbedingungen ist. Alle Parteien geben zu, dass der Friede zu einer Alternative wird, und dass ein Friede mit Annexionen eine unerhörte Katastrophe für alle Länder bedeuten würde. Und in einem Lande, wo politische Freiheit herrscht, kann vor dem Volke die Frage des Friedens nicht anders gestellt werden als die eines Friedens ohne Annexionen. Deshalb spricht man sich für den Frieden ohne Annexionen aus, im Übrigen schwindelt man, indem man den Begriff der Annexion verdunkelt oder diese Frage umgeht. Die „Rjetsch" z. B. schreibt, dass die Wiedererlangung Kurlands eben ein Verzicht auf Annexionen sei. Als ich vor dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat sprach, überreichte mir ein Soldat einen Zettel mit der Frage: „Wir müssen uns schlagen, um Kurland zurückzuerobern. Wenn man Kurland zurückerobert, heißt das denn für Annexionen sein?" Ich musste bejahend antworten. Wir sind dagegen, dass Deutschland mit Gewalt Kurland einverleibt, aber wir sind auch dagegen, dass Russland mit Gewalt Kurland festhält. Z. B. hat unsere Regierung ein Manifest über die Unabhängigkeit Polens erlassen und es mit nichtssagenden Redensarten vollgestopft. Sie schrieb da, Polen müsse sich in einem freien militärischen Bündnis mit Russland befinden. Nur in diesen drei Worten steckt Wahrheit. Das freie militärische Bündnis des kleinen Polen mit dem gewaltigen Russland ist in Wirklichkeit die völlige militärische Versklavung Polens. Politisch kann es Polen die Freiheit geben, seine Grenzen werden sowieso durch das militärische Bündnis bestimmt.

Wenn wir dafür kämpfen werden, dass die russischen Kapitalisten sich Kurlands und Polens in den früheren Grenzen bemächtigen, so gibt das den deutschen Kapitalisten das Recht, Kurland zu rauben. Sie können einwenden: wir haben Ende des XVIII. Jahrhunderts gemeinsam Polen geraubt, damals war Preußen ein sehr kleiner und schwacher Staat, während Russland groß war, und Russland hat mehr rauben können. Jetzt sind wir stärker geworden, gestattet uns also, einen größeren Teil für uns zu nehmen. Gegen diese Logik der Kapitalisten lässt sich nichts einwenden. Japan war 1863, verglichen mit Russland, eine Null, 1905 aber hat es Russland verprügelt. Deutschland war in den Jahren 1863-1873, verglichen mit England, eine Null, jetzt ist es stärker als dieses. Dann könnten die Russen wieder sagen: wir waren schwach, als man uns Kurland wegnahm, jetzt sind wir stärker als ihr und wollen es zurückhaben. Auf Annexionen nicht verzichten, heißt endlose Kriege um die Eroberung schwacher Völker rechtfertigen. Der Verzicht auf Annexionen bedeutet das Recht für jedes Volk, frei zu entscheiden, ob es allein oder zusammen mit einem andern leben will. Natürlich muss man dazu die Truppen zurückziehen. Die geringsten Schwankungen in der Annexionsfrage zulassen, heißt endlose Kriege rechtfertigen. Folglich konnten wir in dieser Hinsicht keine Schwankungen zulassen. Unsere Antwort in Bezug auf Annexionen lautet: freie Entscheidung der Völker. Was ist zu tun, damit diese politische Freiheit auch zu einer ökonomischen wird? Dazu ist der Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und die Abschüttelung des kapitalistischen Jochs erforderlich.

Jetzt komme ich zum zweiten Teil der Resolution.

Das sogenannte ,revolutionäre Oboronzentum', das jetzt in Russland fast alle volkstümlerischen Parteien (Volkssozialisten, Trudowiki, Sozialrevolutionäre) und die opportunistische Sozialdemokratische Partei der Menschewiki vom O. K. (Tschcheïdse, Zeretelli u. a.j sowie die Mehrheit der parteilosen Revolutionäre erfasst hat, stellt seiner Klassenbedeutung nach einerseits die Interessen und den Standpunkt der wohlhabenden Bauern und eines Teiles der Kleinbesitzer dar, die ebenso wie die Kapitalisten aus der Vergewaltigung schwacher Völker Gewinne ziehen. Anderseits ist das ,revolutionäre Oboronzentum' das Resultat der kapitalistischen Beschwindelung eines Teils der städtischen und ländlichen Proletarier, die ihrer Klassenlage nach an den Profiten der Kapitalisten und am imperialistischen Krieg nicht interessiert sind."

Hier ist es also unsere Aufgabe, festzustellen, aus welchen Schichten die Stimmung des Oboronzentums herauswachsen konnte und herausgewachsen ist. Russland ist das kleinbürgerlichste Land, und die oberen Schichten des Kleinbürgertums sind an der Fortsetzung dieses Krieges direkt interessiert. Die wohlhabende Bauernschaft zieht, ebenso wie die Kapitalisten, Profite aus dem Krieg. Anderseits ist die Masse des Proletariats und des Halbproletariats an Annexionen nicht interessiert, da sie vom Bankkapital keine Profite erhalten. Wie konnten diese Klassen sich auf den Standpunkt des revolutionären Oboronzentums stellen? Eine solche Stellung dieser Klassen zum revolutionären Oboronzentum ist das Resultat der Ideologie der Kapitalisten; dies wird in der Resolution mit dem Worte „Beschwindelung" gekennzeichnet. Sie können die Interessen der Kapitalisten von denen des Landes nicht unterscheiden. Daraus ergibt sich für uns die Schlussfolgerung:

Die Konferenz erklärt Zugeständnisse irgendwelcher Art an das ,revolutionäre Oboronzentum' für absolut unzulässig und in Wirklichkeit gleichbedeutend mit einem völligen Bruch mit dem Internationalismus und Sozialismus. Was die Oboronzenstimmungen der breiten Volksmassen anbelangt, so wird unsere Partei gegen diese Stimmungen ankämpfen durch unermüdliche Klarlegung der Wahrheit, dass das blind vertrauensselige Verhalten zur Regierung der Kapitalisten in diesem Augenblick eines der Haupthindernisse zur raschen Beendigung des Krieges ist."

Hier, in diesen letzten Worten, kommt die Eigenart zum Ausdruck, die Russland von allen übrigen westlichen kapitalistischen Ländern und von allen kapitalistisch-demokratischen Republiken scharf unterscheidet. Denn dort kann man nicht sagen, dass die Vertrauensseligkeit der unaufgeklärten Massen die Hauptursache der Fortsetzung des Krieges sei. Dort sind die Massen jetzt in die eisernen Klammern der militärischen Disziplin eingezwängt, und je größer die Disziplin, um so demokratischer die Republik, denn in der demokratischen Republik stützt sich das Recht auf den „Volkswillen". In Russland gibt es infolge der Revolution diese Disziplin nicht. Die Massen wählen frei ihre Vertreter in die Räte – eine Erscheinung, die jetzt nirgends in der Welt zu beobachten ist. Aber sie sind blind vertrauensselig, und darum werden sie in bestimmter Weise für den Krieg ausgenützt. Hier kann man nur durch aufklärende Arbeit wirken. Diese aufklärende Arbeit muss sich auf die direkten revolutionären Aufgaben und Aktionsmethoden beziehen. Wenn die Massen frei sind, wäre es alberner Blanquismus, bloßes Abenteurertum, wollte man versuchen, irgend etwas im Namen der Minderheit zu unternehmen, ohne die Massen aufzuklären. Nur durch die Gewinnung der Masse – wenn man sie gewinnen kann – nur so schaffen wir einen festen Stützpunkt für den Sieg des proletarischen Klassenkampfes.

Ich komme zum dritten Teil der Resolution:

Was die wichtigste Frage anbelangt, wie man diesen Krieg der Kapitalisten möglichst rasch beendigen kann, und zwar nicht durch einen Gewaltfrieden, sondern durch einen wahrhaft demokratischen Frieden, so erkennt die Konferenz an und beschließt:

Es ist unmöglich, diesen Krieg zu beenden durch die Weigerung der Soldaten nur einer Seite, den Krieg fortzusetzen, durch die einfache Einstellung der Kriegsoperationen durch eine der kriegführenden Parteien."

Der Gedanke einer derartigen Beendigung des Krieges wird uns sehr häufig von Leuten unterschoben, die sich den Kampf mit dem Gegner leicht machen wollen, indem sie seine Ansichten entstellen – die übliche Methode der Kapitalisten, die uns den sinnlosen Gedanken der Beendigung des Krieges durch eine einseitige Weigerung unterschieben. Und sie erwidern: „Der Krieg lässt sich nicht beenden, indem man das Bajonett in die Erde stößt", wie ein Soldat es formuliert hat, ein typischer Anhänger des revolutionären Oboronzentums. Das ist kein Argument, sage ich. Es ist eine anarchistische Idee, man könne den Krieg beenden ohne Wechsel der regierenden Klassen, diese Idee ist entweder eine anarchistische Idee, die keine Bedeutung, keinen politischen Sinn hat, oder eine humanitär-pazifistische, die den Zusammenhang zwischen Politik und unterdrückender Klasse überhaupt nicht versteht: der Krieg ist ein Hebel, der Friede eine Wohltat… Natürlich muss man diesen Gedanken den Massen klar machen, popularisieren. Allgemein gesprochen, werden alle unsere Resolutionen für die führenden Schichten, für die Marxisten geschrieben, sie eignen sich gar nicht als Lektüre für die Massen, doch müssen sie jedem Propagandisten und Agitator einen zusammenfassenden Leitfaden der gesamten Politik geben. Zu diesem Zweck ist ein weiterer Absatz hinzugefügt worden:

Die Konferenz protestiert erneut mit allem Nachdruck gegen die niederträchtige Verleumdung, die die Kapitalisten gegen unsere Partei verbreiten, als seien wir für einen Separatfrieden mit Deutschland. Wir halten die deutschen Kapitalisten für ebensolche Räuber wie die russischen, englischen, französischen u. a. Kapitalisten, und den Kaiser Wilhelm für einen ebensolchen gekrönten Räuber wie Nikolaus II. und die Monarchen Englands, Italiens, Rumäniens und alle andern."

Über diesen Punkt kam es in der Kommission zu Meinungsverschiedenheiten, einerseits sollen wir uns an dieser Stelle einer zu populären Sprache bedient haben, anderseits sollen die Monarchen Englands, Italiens, Rumäniens die Ehre nicht verdient haben, hier genannt zu werden. Aber nach eingehenden Diskussionen kamen wir zu dem einmütigen Beschluss, dass wir in diesem Augenblick, wo es für uns darauf ankam, die gegen uns gerichteten Verleumdungen zu widerlegen, die die „Birschowka" meist in grober Form, die „Rjetsch" etwas feiner und das „Jedinstwo" durch offene Anspielungen gegen uns zu verbreiten suchen, in einer solchen Frage, mit Rücksicht auf die breitesten Massen, mit der klarsten und allerschärfsten Kritik dieser Begriffe aufzutreten. Und wenn man uns sagt: da ihr Wilhelm für einen Räuber haltet, so helft uns ihn stürzen, so können wir antworten, dass doch alle anderen ebenfalls Räuber sind, die man genau so bekämpfen muss, so dass man auch die Könige von Italien und Rumänien nicht vergessen darf, auch in den Reihen unserer Verbündeten sind solche zu finden. Diese beiden Absätze enthalten eine Widerlegung der Verleumdungen, die die Sache auf einen Pogrom und auf eine gegenseitige Schimpferei reduzieren wollen. Deshalb müssen wir im Weiteren zu der ernsten Frage übergehen, wie dieser Krieg beendet werden kann.

Unsere Partei wird geduldig, aber beharrlich dem Volke die Wahrheit klarmachen, dass Kriege von Regierungen geführt werden, dass Kriege stets verknüpft sind mit der Politik bestimmter Klassen, dass man diesen Krieg mit einem demokratischen Frieden beenden kann nur durch den Übergang der gesamten Staatsgewalt wenigstens in einigen kriegführenden Ländern in die Hände der Klasse der Proletarier und Halbproletarier, die wirklich fähig ist, der Unterjochung durch das Kapital ein Ende zu machen."

Für einen Marxisten sind diese Wahrheiten, dass Kriege von Kapitalisten geführt werden und dass sie mit ihren Klasseninteressen verknüpft sind, absolute Wahrheiten. Der Marxist braucht sich bei solchen Dingen nicht aufzuhalten. Aber den breiten Massen müssen alle geschickten Propagandisten und Agitatoren diese Wahrheit ohne Fremdwörter erklären können, weil bei uns die Auseinandersetzungen gewöhnlich in eine inhaltslose Zänkerei ausarten, bei der nichts herauskommt. Und die Klarlegung dieser Wahrheit erstreben wir in allen Teilen der Resolution. Wir sagen: um den Krieg zu begreifen, muss man fragen, für wen ist der Krieg von Vorteil? Um zu begreifen, in welcher Weise der Krieg beendet werden kann, muss man fragen, welchen Klassen bringt er keine Vorteile? Der Zusammenhang ist hier klar, und daraus ergibt sich weiter der Schluss:

Die revolutionäre Klasse würde nach der Eroberung der Staatsgewalt in Russland eine Reihe von Maßnahmen treffen, die die ökonomische Herrschaft der Kapitalisten untergraben, Maßnahmen, die zu einer vollkommenen politischen Unschädlichmachung der Kapitalisten führen würden; die revolutionäre Klasse würde allen Völkern sofort und offen einen demokratischen Frieden vorschlagen auf der Grundlage des völligen Verzichtes auf irgendwelche Annexionen und Kontributionen."

Wenn wir im Namen der revolutionären Klasse sprechen, so hat das Volk das Recht, zu fragen: nun, und ihr, was würdet ihr an ihrer Stelle tun, um den Krieg zu beenden? Das ist eine unvermeidliche Frage. Das Volk wählt uns jetzt als seine Vertreter, und wir müssen eine ganz genaue Antwort geben. Die revolutionäre Klasse würde damit beginnen, die Herrschaft der Kapitalisten zu untergraben, und würde allen Völkern genau formulierte Friedensbedingungen vorschlagen, denn wenn die ökonomische Herrschaft der Kapitalisten nicht untergraben wird, wird alles nur auf dem Papier bleiben. Nur die siegreiche Klasse kann das tun, kann zu einer Änderung der Politik führen.

Ich wiederhole noch einmal: für die unaufgeklärten Volksmassen bedarf diese Wahrheit der Zwischenglieder, die unvorbereitete Menschen in die Frage einführen. Der ganze Fehler und der ganze Schwindel der populären Literatur über den Krieg besteht darin, dass diese Frage umgangen wird, dass man sich darüber ausschweigt und die Sache so darstellt, als gäbe es keinen Klassenkampf, als hätten zwei Länder freundschaftlich miteinander gelebt, dann habe das eine das andere überfallen und dieses müsse sich nun verteidigen. Das ist eine vulgäre Betrachtungsweise, in der es keine Spur von Objektivität gibt – eine bewusste Beschwindelung des Volkes durch die Gebildeten. Wenn wir es verstehen, an diese Frage richtig heranzugehen, so wird jeder aus dem Volke das Wesentliche erfassen; denn das Interesse der herrschenden Klassen und die Interessen der unterdrückten Klassen sind zwei verschiedene Dinge.

Was wäre, falls die revolutionäre Klasse die Macht eroberte?

Diese Maßnahmen und dieses offene Friedensangebot würden das völlige Vertrauen der Arbeiter der kriegführenden Länder zueinander herstellen…"

Jetzt kann dieses Vertrauen nicht bestehen, mit Manifesten werden wir dieses Vertrauen nicht erzeugen. Wenn ein Denker gesagt hat, dass dem Menschen die Sprache gegeben sei, damit er seine Gedanken verbergen könne, so sagen die Diplomaten stets: „Die Konferenzen treten zusammen, um die Volksmassen zu beschwindeln". Nicht nur die Kapitalisten, sondern auch die Sozialisten urteilen so. Insbesondere kann das auch von der von Borgbjerg einberufenen Konferenz gesagt werden.

„ … und würden unvermeidlich zu Aufständen des Proletariats gegen jene imperialistischen Regierungen führen, die sich dem vorgeschlagenen Frieden widersetzen sollten."

Wenn jetzt eine kapitalistische Regierung sagt: „Wir sind für einen Frieden ohne Annexionen", – so glaubt niemand an diesen Frieden. Die Volksmassen haben den Instinkt der unterdrückten Klassen, der ihnen sagt, dass sich nichts geändert hat. Erst wenn in einem Lande die Politik sich tatsächlich geändert hätte, würde Vertrauen da sein und es gäbe Aufstandsversuche. Wir sprechen von „Aufständen", weil jetzt von allen Ländern die Rede ist. „In einem Lande hat die Revolution stattgefunden, jetzt muss sie in Deutschland stattfinden" – diese Betrachtungsweise ist eine falsche. Man versucht, eine Reihenfolge festzulegen, das geht aber nicht. Wir haben alle die Revolution von 1905 erlebt, wir alle konnten hören, oder wir haben gesehen, wie sie den Aufschwung der revolutionären Ideen in der ganzen Welt verursachte, wie Marx das stets gesagt hat. Die Revolution kann weder gemacht noch kann eine Reihenfolge festgelegt werden. Man kann keine Revolution auf Bestellung machen, die Revolution wächst hervor. Es ist pure Scharlatanerie, was jetzt in Russland besonders häufig getrieben wird. Man sagt dem Volke: ihr in Russland habt nun die Revolution gemacht, jetzt sind die Deutschen an der Reihe. Wenn sich die objektiven Verhältnisse ändern, ist ein Aufstand unvermeidlich. In welcher Reihenfolge aber, in welchem Moment und mit welchem Erfolg, das wissen wir nicht. Man sagt uns: wenn die revolutionäre Klasse in Russland die Macht in ihre Hände nimmt, während es in den anderen Ländern keinen Aufstand gibt, was soll dann die revolutionäre Partei machen? Was soll dann geschehen? Auf diese Frage gibt der letzte Punkt unserer Resolution die Antwort.

Solange die revolutionäre Klasse in Russland nicht die ganze Staatsmacht in ihre Hände genommen hat, wird unsere Partei jene proletarischen Parteien und Gruppen im Auslande in jeder Weise unterstützen die wirklich schon während des Krieges einen revolutionären Kampf gegen ihre imperialistische Regierung und gegen ihre Bourgeoisie führen."

Das ist alles, was wir sofort versprechen können und tun müssen. Die Revolution reift in allen Ländern heran, aber wann und in welchem Maße sie reif sein wird, das weiß niemand. In allen Ländern gibt es Leute, die einen revolutionären Kampf gegen ihre Regierungen führen. Sie und nur sie müssen wir unterstützen. Das ist eine ernste Sache, alles übrige ist Lug und Trug. Und wir fügen hinzu:

Insbesondere aber wird die Partei die begonnene Massenverbrüderung der Soldaten aller kriegführenden Länder an der Front unterstützen…"

Das bezieht sich auf den Einwand Plechanows. „Was wird dabei herauskommen," sagt Plechanow. „Nun, ihr werdet euch verbrüdern, und was weiter? Das bedeutet doch die Möglichkeit eines Separatfriedens an der Front." Das ist Hokuspokus, aber kein ernstes Argument. Wir wollen die Verbrüderung an allen Fronten, und dafür wirken wir. Als wir in der Schweiz arbeiteten, haben wir den Text eines Aufrufes in zwei Sprachen verbreitet: auf der einen Seite französisch, auf der anderen deutsch, und wir haben zu dem aufgerufen, wozu wir jetzt die russischen Soldaten aufrufen. Wir beschränken uns nicht auf die Verbrüderung nur zwischen Russland und Deutschland, wir rufen alle zur Verbrüderung auf. Wie soll aber nun die Verbrüderung aufgefasst werden?

„ … indem sie danach strebt, diese elementare Äußerung der Solidarität der Unterdrückten umzuwandeln in eine bewusste und möglichst organisierte Bewegung, die auf den Übergang der gesamten Staatsgewalt in allen kriegführenden Ländern in die Hände des revolutionären Proletariats gerichtet ist."

Jetzt geht eine elementare Verbrüderung vor sich, und man soll sich in dieser Hinsicht keiner Täuschung hingeben. Das muss zugegeben werden, damit das Volk nicht irregeführt wird. Ein klarer politischer Gedanke ist bei den sich verbrüdernden Soldaten nicht vorhanden. Aus ihnen spricht der Instinkt unterdrückter Menschen, die müde und erschöpft sind und aufgehört haben, den Kapitalisten zu glauben: „Während ihr dort vom Frieden redet, – das hören wir bereits seit zweieinhalb Jahren – wollen wir selbst den Anfang machen." Das ist der sichere Klasseninstinkt. Ohne einen solchen Instinkt wäre die Sache der Revolution aussichtslos. Denn ihr wisst, niemand wird die Arbeiter befreien, wenn sie sich nicht selbst befreien. Genügt aber dieser Instinkt? Mit dem Instinkt allein kommt man nicht weit, darum ist notwendig, dass aus dem Instinkt Bewusstsein wird.

In dem Aufruf „An die Soldaten aller kriegführenden Länder" geben wir die Antwort auf die Frage: wozu soll diese Verbrüderung führen? Zum Übergang der politischen Macht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte. Natürlich werden die deutschen Arbeiter ihre Sowjets anders nennen, das ist nicht wichtig. Das Wesentliche aber ist, und das steht für uns zweifellos fest, dass diese Verbrüderung einen elementaren Charakter trägt und dass wir uns nicht auf die Ermunterung zur Verbrüderung beschränken, sondern uns die Aufgabe stellen müssen, diese elementare Annäherung der Arbeiter und Bauern aller Länder im Waffenrock zu verwandeln in eine bewusste Bewegung, deren Ziel der Übergang der Macht in allen kriegführenden Ländern in die Hände des revolutionären Proletariats ist. Diese Aufgabe ist sehr schwierig, aber auch die Lage, in die die Menschheit durch die Macht der Kapitalisten gebracht worden ist, ist unerhört schwierig und führt die Menschheit geradewegs zum Untergang. Darum wird sie jenen Ausbruch der Empörung hervorrufen, die eine Gewähr ist für die proletarische Revolution.

Das ist unsere Resolution, die wir der Aufmerksamkeit der Konferenz empfehlen.

1 Die Resolution der Aprilkonferenz über den Krieg ist eine Kollektivarbeit der Redaktionskommission, an der Lenin mitwirkte; sie wurde nach seinem grundlegenden Referat ausgearbeitet. Am 10. Mai (27. April) beendete die Kommission ihre Arbeit und Lenin hielt als Berichterstatter der Kommission die Rede zur Begründung der Resolution.

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