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Wladimir I. Lenin 19170912 An das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

Wladimir I. Lenin: An das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands1

[Geschrieben am 12. September (30. August) 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht am 7. November 1920 in der „Prawda", Nr. 250. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1931, Band 21, S. 145-148]

Es ist möglich, dass diese Zeilen zu spät kommen, denn die Ereignisse entwickeln sich mit manchmal geradezu schwindelerregender Schnelligkeit. Ich schreibe dies Mittwoch, den 30. August und die Empfänger werden es frühestens Freitag, den 2 September lesen. Trotzdem halte ich es für meine Pflicht, auf alle Fälle folgendes zu schreiben:

Der Aufstand Kornilows ist eine ganz und gar unerwartete (in diesem Augenblick und in dieser Form unerwartete) und geradezu unwahrscheinlich schroffe Wendung in den Ereignissen.2

Wie jede schroffe Wendung, erfordert auch diese eine Revision und Änderung der Taktik. Und wie bei jeder Revision, muss man außerordentlich vorsichtig sein, um nicht in Prinzipienlosigkeit zu verfallen.

Meiner Überzeugung nach verfallen jene in Prinzipienlosigkeit die (wie Wolodarski) zum Standpunkt der Vaterlandsverteidigung oder (wie andere Bolschewiki) zum Block mit den Sozialrevolutionären, zur Unterstützung der Provisorischen Regierung hinab gleiten Das ist grundfalsch. Das ist Prinzipienlosigkeit. Vaterlandsverteidiger werden wir erst nach der Übernahme der Macht durch das Proletariat sein, nach dem Friedensangebot, nach der Zerreißung der Geheimverträge und der Verbindungen mit den Banken, erst nachher. Weder die Besetzung von Riga noch die Besetzung von Petrograd wird uns zu Vaterlandsverteidigern machen. (Ich bitte sehr, dies Wolodarski zum Lesen zu geben.) Bis dahin sind wir für die proletarische Revolution, sind wir gegen den Krieg, sind wir keine Vaterlandsverteidiger.

Die Kerenski-Regierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen Das wäre prinzipienlos. Man wird fragen: Soll man denn nicht gegen Kornilow kämpfen? Gewiss soll man es! Aber das ist nicht ein und dasselbe, hier gibt es eine Grenze. Sie wird von manchen Bolschewiki, die ins „Kompromisslertum" verfallen sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen, überschritten.

Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso, wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied. Das ist ein ziemlich feiner, aber äußerst wesentlicher Unterschied, den man nicht vergessen darf.

Worin besteht nun die Änderung unserer Taktik nach Kornilows Aufstand?

Darin, dass wir die Form unseres Kampfes gegen Kerenski ändern. Ohne unsere Feindschaft gegen ihn um einen Deut zu mildern, ohne ein Wort von dem, was wir gegen ihn gesagt haben, zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe seines Sturzes zu verzichten, sagen wir: man muss dem Augenblick Rechnung tragen. Sofort wollen wir Kerenski nicht stürzen. Wir wollen jetzt an die Aufgabe des Kampfes gegen ihn anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche, über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher. Jetzt aber ist das die Hauptsache geworden: darin besteht die Änderung.

Ferner besteht die Änderung darin, dass jetzt die Hauptsache ist: Verstärkte Agitation für Forderungen an Kerenski, die gewissermaßen „Teilforderungen" sind: Verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger, Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma3 auseinander, verhafte Rodsjanko. erhebe die Übergabe der gutsherrlichen Ländereien an die Bauern zum Gesetz, führe die Arbeiterkontrolle über das Brot und über die Fabriken ein, usw. usw. Nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski sind diese Forderungen zu richten, als vielmehr an die Arbeiter. Soldaten und Bauern, die der Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen hat. Man muss sie noch weiter mitreißen, sie anspornen, die Generale und Offiziere, die für Kornilow eintreten, zu verprügeln; man muss darauf bestehen, dass sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; man muss sie auf den Gedanken bringen, dass Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die „Rjetsch" und die anderen bürgerlichen Zeitungen verboten und gerichtlich belangt werden müssen. Ganz besonders die „linken" Sozialrevolutionäre müssen in diese Richtung gedrängt werden.

Es wäre falsch, anzunehmen, dass wir uns von der Aufgabe der Eroberung der Macht durch das Proletariat entfernt haben. Nein. Wir sind dieser Aufgabe bedeutend näher gekommen, aber nicht direkt, sondern von der Seite her. Und die Agitation muss sofort nicht so sehr direkt gegen Kerenski gerichtet sein, wie indirekt gegen ihn, und zwar so, dass wir den aktiven, den alleraktivsten, wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow fordern. Einzig und allein die Entwicklung dieses Krieges kann uns zur Macht führen, und man muss möglichst wenig von dieser Agitation reden (wobei man nie vergessen darf, dass die Ereignisse uns morgen schon an die Macht bringen können, die wir dann nicht aus der Hand geben werden) Meines Erachtens müsste man das in einem Brief an die Agitatoren (nicht durch die Presse) den Kollegien der Agitatoren und Propagandisten, überhaupt den Mitgliedern der Partei mitteilen. Die Phrasen von der Verteidigung des Landes, von der Einheitsfront der revolutionären Demokratie, von der Unterstützung der Provisorischen Regierung usw. usw. müssen wir eben als Phrasen rücksichtslos bekämpfen. Jetzt ist es Zeit zu handeln. Ihr Herren Sozialrevolutionäre und Menschewiki habt diese Phrasen längst abgedroschen. Jetzt ist es Zeit zu handeln. Den Krieg gegen Kornilow muss man revolutionär fuhren, indem man die Massen hineinzieht, sie in Bewegung bringt, sie entflammt. (Kerenski aber fürchtet die Massen fürchtet das Volk.) Im Krieg gegen die Deutschen gilt es gerade jetzt, zu handeln: sofort und unbedingt ist zu genauen Bedingungen der Frieden anzubieten. Tut man das, so kann man entweder einen raschen Frieden erreichen oder die Umwandlung des Krieges in einen revolutionären Krieg. Andernfalls bleiben alle Menschewiki und Sozialrevolutionäre Lakaien des Imperialismus.

P. S. Nach Niederschrift dieser Zeilen las ich sechs Nummern des „Rabotschij", und ich muss sagen, dass wir vollkommen übereinstimmen Ich begrüße von Herzen die ausgezeichneten Leitartikel, die Presserundschau und die Artikel von W. M–n und Wolski. Hinsichtlich der Rede Wolodarskis habe ich seinen Brief an die Redaktion gelesen, der ebenfalls meine Vorwürfe „liquidiert". Noch einmal beste Grüße und Wünsche!

Lenin.

1 Den Brief an das Zentralkomitee der SDAPR im Zusammenhang mit dem Kornilow-Aufstand schrieb Lenin in Helsingfors. Lenins Einschätzung der durch den Kornilow-Aufstand geschaffenen Lage stimmte im Wesentlichen mit der Linie des ZK überein, das mit Lenin in ständiger Verbindung stand. Der Brief trug konspirativen Charakter und war außer den Mitgliedern des ZK nur wenigen Parteimitgliedern bekannt.

Die am Ende des Artikels genannten W. Miljutin („W. M-n") und W. Wolodarski („W-ski") waren enge Mitarbeiter des bolschewistischen Zentralorgans, das unter der allgemeinen Leitung J. Stalins stand. In den Nrn. 1-6 des „Rabotschij" war eine Reihe von ihnen verfasster Artikel veröffentlicht. Nr. 2 des „Rabotschij" brachte einen Brief Wolodarskis an die Redaktion, in dem dieser die falsche Darstellung widerlegt, die die „Nowaja Schisn" und andere Zeitungen von einer seiner Reden im Zentralen Exekutivkomitee gegeben hatten. Diese Darstellung war augenscheinlich der Anlass für die Vorwürfe, die Lenin Wolodarski machte. Der „Brief an die Redaktion" zerstreute das entstandene Missverständnis, wie Lenin selber schreibt.

2 Die Aktion des Generals Kornilow war von den Kommandospitzen der Armee und den politischen Führern der Kadetten vorbereitet worden. Am 8. September (26. August), nach geheimer Verabredung mit der Provisorischen Regierung, die in Petrograd zuverlässige Truppen zu ihrer Unterstützung brauchte, beorderte Kornilow – unter Vorwand einer zu erwartenden Aktion der Bolschewiki – ein Armeekorps, mehrere Kosakenregimenter und die sogenannte wilde Division von der Front zurück und zog sie in Petrograd zusammen. Gleichzeitig stellte Kornilow durch den Fürsten Lwow eine Reihe von Forderungen an Kerenski, die darauf hinausliefen, Kornilow zum Diktator zu proklamieren und eine neue Regierung zu bilden, die fähig wäre, die Revolution zu unterdrücken. Es kam jedoch zu keiner Verständigung zwischen Kornilow und der Provisorischen Regierung, und Kerenski war gezwungen, Kornilow, hinter dem die Großbourgeoisie und die Kadettenpartei, von der er sich politisch führen ließ, standen, für einen Hochverräter zu erklären. Die bürgerliche Presse mit der „Rjetsch" an der Spitze unterstützte den Aufstand Kornilows. An der Spitze der Verteidigung standen die Petrograder und die Moskauer Arbeiterräte. In Petrograd waren in den Arbeitervierteln rote Garden organisiert worden. Die bolschewistischen Organisationen der beiden Hauptstädte, besonders die militärischen, spielten während des Kornilow-Aufstandes eine entscheidende Rolle, sie organisierten die Massen und veranstalteten Versammlungen in Kasernen und Betrieben, an denen Tausende und aber Tausende teilnahmen. Der Einfluss der Bolschewiki wuchs in wenigen Tagen ungeheuer an. Agitatoren und revolutionäre Truppen wurden den Kornilowschen Regimentern entgegengeschickt. Die Kornilowschen Truppen wurden, noch bevor sie Petrograd erreichten, unter dem Einfluss der revolutionären Agitation zersetzt und erwiesen sich als untauglich für einen konterrevolutionären Umsturz. Die Aktion Kornilows revolutionierte selbst die rückständigsten Massen und beschleunigte den Oktobersieg des Proletariats.

3 Die vierte Reichsduma, die am 12. März (27. Februar) 1917 durch einen Ukas Nikolaus II. aufgelöst worden war, hatte sich geweigert, dem Befehl zu gehorchen, und wählte aus ihrer Mitte das Provisorische Komitee der Reichsduma. Die Provisorische Regierung hat die Reichsduma offiziell nicht aufgelöst; diese setzte unter dem Namen „Beratungen der Mitglieder der Reichsduma" ihre Existenz fort und übte einen starken Einfluss auf die Politik der Provisorischen Regierung aus. Die Kadettenpartei setzte ernste Hoffnungen auf die Reichsduma, sie betrachtete sie als eine Stütze, die man bei günstigen Gelegenheiten der Konstituierenden Versammlung, deren Einberufung absichtlich hinausgeschoben wurde, entgegensetzen konnte. Trotz des Sturzes des Zarismus bestand also nach wie vor ein Organ der Großbourgeoisie und der Grundherren, das auf der Grundlage des Zensus-Wahlrechtes des gestürzten Zarismus gewählt worden war. Die Provisorische Regierung entschloss sich erst nach dem Kornilow-Aufstand, die Reichsduma aufzulösen.

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