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Wladimir I. Lenin 19170914 Aus dem Tagebuch eines Publizisten

Wladimir I. Lenin: Aus dem Tagebuch eines Publizisten

[„Rabotschij", Nr. 10 14. (1.) September 1917 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 149-160]

1. Die Wurzel des Übels

Wenn wir den Schriftsteller Suchanow aus der „Nowaja Schisn" nehmen, so werden sicherlich alle damit einverstanden sein, dass dieser nicht der schlechteste, sondern einer der besten Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie ist. Er hat eine aufrichtige Neigung zum Internationalismus, die er in den schwersten Zeiten, mitten im Wüten der zaristischen Reaktion und des Chauvinismus bewiesen hat. Er hat Kenntnisse und den Wunsch, sich ein selbständiges Urteil über ernste Fragen zu bilden, was seine lange Entwicklung von der sozialrevolutionären Ideologie zum revolutionären Marxismus beweist.

Umso bezeichnender ist es, dass sogar solche Leute es fertig bringen, in entscheidendsten Augenblicken der Revolution den Lesern so leichtsinnige Betrachtungen über grundlegende Fragen der Revolution vorzusetzen, wie es die folgende ist:

„ … Wie viele revolutionäre Errungenschaften uns in den letzten Wochen auch verloren gegangen sind, eine davon, die wichtigste vielleicht, bleibt in Kraft: Die Regierung und ihre Politik können sich durch den Willen der Rätemehrheit halten. Die revolutionäre Demokratie hat all ihren Einfluss aus freien Stücken abgetreten; die demokratischen Organe könnten diesen aber noch ganz leicht zurücknehmen; hätten sie das nötige Verständnis für die Forderungen des politischen Augenblicks, so könnten sie die Politik der Provisorischen Regierung mühelos in das richtige Fahrwasser lenken." („Nowaja Schisn", Nr. 106 vom 20. August.)1

Diese Worte enthalten eine ganz leichtfertige, eine ganz ungeheuerliche Unwahrheit über die wichtigste Frage der Revolution, und zwar gerade eine Unwahrheit, die am häufigsten in den verschiedensten Ländern in den Kreisen der kleinbürgerlichen Demokratie verbreitet und den meisten Revolutionen zum Verhängnis wurde.

Überlegt man sich genau diesen Komplex kleinbürgerlicher Illusionen, der in der zitierten Auffassung enthalten ist, so kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, die Mitbürger von der „Nowaja Schisn" sitzen gar nicht zufällig auf dem „Vereinigungskongress"2 zusammen mit den Ministern, mit den ministeriablen Sozialisten, zusammen mit den Zeretelli und Skobelew, zusammen mit den Mitgliedern der Regierung, den Kollegen Kerenskis, Kornilows und Co. Das ist ganz und gar kein Zufall. Diese Leute haben tatsächlich eine gemeinsame ideologische Grundlage: die sinnlose, von dem Spießermilieu kritiklos übernommene philisterhafte Vertrauensseligkeit gegenüber frommen Wünschen. Denn eben von einer solchen Vertrauensseligkeit ist die ganze Überlegung Suchanows durchdrungen, ebenso wie die ganze Tätigkeit jener auf dem Standpunkt der Vaterlandsverteidigung stehenden Menschewiki, die in gutem Glauben handeln. In dieser kleinbürgerlichen Vertrauensseligkeit liegt die Wurzel des Übels für unsere Revolution.

Sicherlich würde Suchanow mit beiden Händen die Forderung unterschreiben, die der Marxismus an jede ernsthafte Politik stellt, die Forderung nämlich, dass der Politik Tatsachen zugrunde liegen, zugrunde gelegt werden, die eine genaue objektive Prüfung gestatten. Versuchen wir vom Standpunkte dieser Forderung aus an die zitierte Behauptung Suchanows heranzugehen.

Welche Tatsachen liegen diesen Behauptungen zugrunde? Womit könnte Suchanow beweisen, dass die Regierung sich „nur durch den Willen der Räte halten kann", dass es den Räten „ganz leicht" wäre, „all ihren Einfluss wieder zurückzunehmen", dass sie „mühelos" die Politik der Provisorischen Regierung ändern könnten.

Suchanow könnte sich erstens auf seinen allgemeinen Eindruck, auf die „offensichtliche" Stärke der Räte, auf Kerenskis Erscheinen im Rat, auf die liebenswürdigen Äußerungen dieses oder jenes Ministers usw. berufen. Das wäre natürlich schon ein ganz schlechter Beweis; er würde damit eigentlich den völligen Mangel an Beweisen, das völlige Fehlen objektiver Tatsachen zugeben.

Zweitens könnte sich Suchanow auf die objektive Tatsache berufen, dass die erdrückende Mehrheit der Arbeiter-, Soldaten-und Bauernresolutionen entschieden für die Räte und für ihre Unterstützung eintreten. Diese Resolutionen drücken, könnte er sagen, den Willen der Mehrheit des Volkes aus.

Diese Auffassung ist bei den Spießern nicht weniger verbreitet als die zuerst angeführte. Sie ist aber ganz unhaltbar.

In allen Revolutionen war die Mehrheit der Arbeiter und Bauern, d. h. ohne Zweifel der Wille der Mehrheit der Bevölkerung, für die Demokratie. Nichtsdestoweniger endete die überwiegende Mehrzahl aller Revolutionen mit der Niederlage der Demokratie.

Marx zog die Konsequenzen aus dieser Erfahrung der meisten Revolutionen, insbesondere der Revolution von 1848, die unserer jetzigen am ähnlichsten ist, und verspottete erbarmungslos die kleinbürgerlichen Demokraten, die durch Resolutionen und durch Berufung auf den Willen der Mehrheit des Volkes siegen wollten.

Unsere eigene Erfahrung bestätigt das noch anschaulicher. Im Frühling 1906 war die Mehrzahl aller Arbeiter- und Bauernresolutionen zweifellos für die erste Duma. Zweifellos stand die Mehrheit des Volkes hinter ihr. Nichtsdestoweniger gelang es dem Zaren, sie auseinanderzujagen, weil der Aufschwung der revolutionären Klassen (Arbeiterstreiks und Bauernunruhen im Frühjahr 1906) für eine neue Revolution zu schwach war.

Man überdenke die Erfahrungen der jetzigen Revolution. Sowohl im März-April wie im Juli-August 1917 war die Mehrheit der Resolutionen, die Mehrheit des Volkes für die Räte; und doch sieht, weiß und fühlt heute jeder, dass im März-April die Revolution vorwärtsging, während sie im Juli-August zurückgeht. Also entscheidet die Berufung auf die Mehrheit des Volkes in den konkreten Fragen der Revolution noch gar nichts.

Mit dieser Berufung allein irgend etwas beweisen zu wollen, ist eben das Musterbeispiel einer kleinbürgerlichen Illusion. Man will nicht zugeben, dass in der Revolution die feindlichen Klassen besiegt und die diese verteidigende Staatsgewalt niedergeworfen werden muss und dass dazu „der Wille der Mehrheit" nicht genügt, sondern dass dazu die Kraft der kampffähigen und kampfbereiten revolutionären Klassen unerlässlich ist, eine Kraft, die die feindlichen Kräfte im entscheidenden Augenblick und an der entscheidenden Stelle zermalmt.

Wie oft ist es in den Revolutionen vorgekommen, dass die kleine, aber gut organisierte, bewaffnete und zentralisierte Streitkraft der herrschenden Klassen, der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die schlecht organisierte, schlecht bewaffnete, zersplitterte Streitkraft der „Mehrheit des Volkes" stückweise zerschlug.

Nur der stumpfsinnigste Kleinbürger kann die konkreten Fragen des Klassenkampfes im Augenblick seiner besonderen Zuspitzung durch die Revolution ersetzen durch „allgemeine" Hinweise auf den „Willen des Volkes".

Drittens führt Suchanow in der zitierten Betrachtung ein im Spießermilieu ebenfalls ziemlich häufiges „Argument" an. Er beruft sich darauf, dass „die revolutionäre Demokratie aus freien Stücken ihren ganzen Einfluss abgetreten hat". Daraus scheint er folgern zu wollen, dass das „freiwillig abgetretene" auch leicht wieder zurückgenommen werden kann …

Diese Schlussfolgerung taugt nichts. Vor allem setzt die Zurückgewinnung des „aus freien Stücken abgetretenen" Einflusses das „freiwillige Einverständnis" desjenigen voraus, an den der Einfluss abgetreten wurde. Dass ein solches freiwilliges Einverständnis vorhanden ist, folgt daraus. An wen aber wurde der Einfluss „abgetreten"? Wer hat „den Einfluss" ausgenutzt, den die „revolutionäre Demokratie" abgetreten hat?

Es ist sehr bezeichnend, dass Suchanow diese, für jeden nicht ganz hirnlosen Politiker grundlegende Frage ganz beiseite lässt… Der Kern, das Wesen der Sache ist doch aber: In wessen Händen befindet sich tatsächlich das, was die (mit Verlaub zu sagen) „revolutionäre" Demokratie „aus freien Stücken abgetreten hat"?

Gerade diesen Kern der Sache umgeht Suchanow, wie ihn alle Menschewiki und Sozialrevolutionäre, alle kleinbürgerlichen Demokraten überhaupt umgehen.

Weiter. In der Kinderstube mag ein „Verzicht aus freien Stücken" auf eine leichte Rückgabe hinweisen. Wenn Käthchen ihren Ball freiwillig Mariechen gegeben hat, so ist es möglich, dass sie ihn ganz „leicht zurücknehmen" kann. Man muss schon ein russischer Intellektueller sein, um diese Begriffe auf die Politik, auf den Klassenkampf zu übertragen.

In der Politik beweist das freiwillige Abtreten des „Einflusses" eine solche Ohnmacht, eine solche Schwäche, eine solche Charakterlosigkeit und Schlappschwänzigkeit des Verzichtenden, dass man daraus überhaupt nur eins „folgern" kann: wer freiwillig den Einfluss abtritt, verdient, dass man ihm nicht nur den Einfluss, sondern auch die Existenzberechtigung nimmt. Oder mit anderen Worten, die Tatsache des freiwilligen Verzichtes auf den Einfluss „beweist" an sich nur, dass der, an den dieser freiwillig abgetretene Einfluss übergegangen ist, unvermeidlich dem Verzichtenden auch seine Rechte nehmen wird.

Hat die „revolutionäre Demokratie" freiwillig ihren Einfluss abgetreten, so war sie keine revolutionäre, sondern eine spießerhaft gemeine, feige, noch in der Knechtschaft steckende Demokratie, die von ihren Feinden (gerade infolge dieses Verzichtes) auseinandergejagt oder auf ein Nichts reduziert wird, der es überlassen bleibt, ebenso „aus freien Stücken" zu sterben, wie sie „aus freien Stücken" den Einfluss abgetreten hat.

In dem Verhalten politischer Parteien nur Launen sehen heißt auf jedes Studium der Politik verzichten. Ein solches Verhalten aber, wie „das freiwillige Abtreten des Einflusses" durch zwei gewaltige Parteien, die nach allen Informationen, Nachrichten und objektiven Ergebnissen der Wahlen die Mehrheit des Volkes hinter sich haben, ein solches Verhalten muss erklärt werden. Es kann nicht zufällig sein. Es muss mit einer bestimmten wirtschaftlichen Lage irgendeiner großen Klasse des Volkes zusammenhängen Es muss zusammenhängen mit der geschichtlichen Entwicklung dieser Parteien.

Suchanows Auffassung ist deshalb so typisch für Tausende und Abertausende gleichartiger Spießerauffassungen, weil sie eigentlich auf dem Begriff des freien Willens („aus freien Stücken") beruht und die Geschichte der in Frage kommenden Parteien ignoriert. Suchanow hat einfach diese Geschichte aus seiner Überlegung herausgestrichen; er hat vergessen, dass das freiwillige Abtreten des Einflusses eigentlich am 28. Februar begonnen hat, als der Rat Kerenski das Vertrauen aussprach und den „Pakt" mit der Provisorischen Regierung billigte, der 6. Mai aber war ein Verzicht auf den Einfluss in geradezu gigantischem Ausmaß. Im Großen und Ganzen haben wir es hier mit einer in die Augen springend klaren Erscheinung zu tun: die Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki gerieten gleich zu Beginn auf die schiefe Ebene und rollten sie dann mit immer wachsender Geschwindigkeit hinab. Nach dem 3. bis 5. Juli waren sie ganz unten im Straßengraben angelangt.

Jetzt aber zu sagen – der Verzicht wäre „aus freien Stücken'' geschehen, man könne ganz „leicht" die großen politischen Parteien rechtsum Kehrt machen lassen, sie „mühelos" dazu bewegen, eine ihrer seit Jahren (und monatelang während der Revolution) verfolgten Richtung entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, man könne sich „ganz leicht" aus dem Straßengraben wieder herausarbeiten und die schiefe Ebene wieder heraufklettern, – ist das nicht der Gipfel der Leichtfertigkeit?

Endlich könnte sich Suchanow viertens zur Verteidigung seiner Ansicht darauf berufen, dass die Arbeiter und Soldaten, die dem Rat das Vertrauen ausgesprochen haben, bewaffnet seien und deshalb den ganzen Einfluss „ganz leicht" zurücknehmen könnten. Doch gerade in diesem allerwichtigsten Punkte steht es besonders schlimm um die Spießerauffassungen, die uns der Mitarbeiter der „Nowaja Schisn" wiedergibt.

Um möglichst konkret zu bleiben, wollen wir den 20.-21. April mit dem 3.-5. Juli vergleichen.

Am 20. April kommt die Empörung der Massen gegen die Regierung zum Durchbruch. Ein bewaffnetes Regiment geht in Petrograd auf die Straße, um die Regierung zu verhaften. Zur Verhaftung kommt es nicht. Aber die Regierung sieht deutlich, dass sie keine Stütze mehr hat. Sie hat keine Truppen mehr hinter sich. Eine solche Regierung zu stürzen, ist tatsächlich „ganz leicht", deshalb stellt die Regierung dem Rat ein Ultimatum: „Entweder gehen wir, oder ihr unterstützt uns".

Am 4. Juli sehen wir denselben Ausbruch der Massenempörung, einen Ausbruch, den alle Parteien zurückzudämmen suchten, der sich trotz allen Bremsversuchen Bahn bricht. Dieselbe bewaffnete Demonstration gegen die Regierung. Doch der ungeheure Unterschied liegt in Folgendem: die verwirrten, vom Volke losgerissenen Sozialrevolutionären und menschewistischen Führer verständigen sich bereits am 3. Juli mit der Bourgeoisie über die Beorderung der Kaledinschen Truppen nach Petrograd. Da liegt der Hund begraben!

Mit soldatischer Offenheit sprach es Kaledin auf der Moskauer Beratung aus: „Ihr sozialistischen Minister habt ,uns' ja selber am 3. Juli zu Hilfe gerufen!" Niemand wagte auf der Tagung Kaledin zu widersprechen, denn er sagte die Wahrheit. Kaledin verspottete die Menschewiki und Sozialrevolutionäre; sie aber mussten dazu schweigen. Ein Kosakengeneral spuckte ihnen ins Gesicht, sie aber wischten sich bloß ab und sagten: Es regnet".3

Die bürgerlichen Zeitungen veröffentlichten diese Worte Kaledins, aber die menschewistische Zeitung „Rabotschaja Gazeta" und das Sozialrevolutionäre „Djelo Naroda" verheimlichten ihren Lesern diese auf der Moskauer Beratung gemachte wesentlichste politische Erklärung.

Und so kam es, dass die Regierung zum ersten Mal die Kaledinschen Truppen zu ihrer besonderen Verfügung hatte, während die entschlossenen, wirklich revolutionären Truppen und Arbeiter entwaffnet wurden. Das ist die Grundtatsache, die Suchanow so „leicht" vergisst und mit Schweigen übergeht, die aber Tatsache bleibt. Und sie ist für den gegebenen Revolutionsabschnitt, für die erste Revolution eine entscheidende Tatsache.

An einer entscheidenden Stelle ging die Macht, zuerst an der Front, dann in der ganzen Armee, in die Hände der Kaledins über. Das ist eine Tatsache. Die aktivsten der gegen sie feindlich gestimmten Truppen wurden entwaffnet. Wenn die Kaledins auch nicht sofort ihre Macht ausnutzen, um eine völlige Diktatur aufzurichten, so widerlegt das in keiner Weise die Tatsache, dass sie die Macht besitzen. Besaß der Zar nicht die Macht nach dem Dezember 1905? Und zwangen ihn denn nicht die Umstände, diese Macht so vorsichtig zu handhaben, dass er erst noch zwei Dumas einberief, bevor er sie ganz an sich riss, d. h. bevor er den Staatsstreich vollzog?

Die Macht muss nach ihren Taten, nicht nach ihren Worten beurteilt werden. Die Taten der Regierung seit dem 5. Juli beweisen, dass die Kaledins im Besitze der Macht sind, dass sie langsam, aber unbeirrt immer weiter vorrücken und jeden Tag neue „Konzessionen" und „Konzessiönchen" erlangen: Heute Straflosigkeit der Junker, die die „Prawda" plündern, „Prawda"-Mitarbeiter ermorden, willkürlich verhaften; morgen ein Gesetz über Zeitungsverbote, über Auflösung von Versammlungen und Kongressen; über Verbannungen ins Ausland ohne Gerichtsverfahren, über Gefängnisstrafen wegen Beleidigung „befreundeter" Botschafter, über Zuchthausstrafen wegen Anschläge gegen die Regierung, über die Einführung der Todesstrafe an der Front, und so weiter und so weiter.

Die Kaledins sind keine Dummköpfe. Weshalb überstürzt, Hals über Kopf vorgehen und einen Misserfolg riskieren, wenn man jeden Tag ein neues Stück von dem in die Hand bekommt, was man haben will? Die Narren Skobelew und Zeretelli, Tschernow und Awksentjew, Dan und Liber aber schreien: „Triumph der Demokratie! Sieg!" bei jedem Schritt der Kaledins nach vorwärts; den Sieg sehen sie darin, dass die Kaledin, Kornilow und Kerenski sie nicht mit einem Male verschlingen!!

Die Wurzel des Übels besteht eben darin, dass die kleinbürgerliche Masse schon durch ihre wirtschaftliche Lage zu einer geradezu erstaunlichen Vertrauensseligkeit und Unbewusstheit erzogen wurde, dass sie immer noch halb schläft und im Schlaf murmelt: Es ist „ganz leicht", das aus freien Stücken Abgetretene zurückzunehmen! Man versuche doch zurückzunehmen, sich von Kaledin und Kornilow freiwillig zurückgeben zu lassen!

Die Wurzel des Übels besteht darin, dass die „demokratische" Publizistik diese stumpfe, spießige, bornierte lakaienhafte Illusion unterstützt, statt sie zu bekämpfen.

Geht man an die Dinge so heran, wie ein Historiker der Politik im Allgemeinen und ein Marxist im Besonderen an sie herangehen muss, d. h. betrachtet man die Ereignisse in ihrem Zusammenhang, so ergibt sich klar, dass die entscheidende Wendung jetzt nicht nur nicht „leicht", sondern im Gegenteil ohne eine neue Revolution absolut unmöglich ist.

Ich gehe hier gar nicht auf die Frage ein, ob eine solche Revolution erwünscht ist; ich untersuche gar nicht, ob sie friedlich und legal vor sich gehen kann (in der Geschichte hat es, allgemein gesprochen, Beispiele friedlicher und legaler Revolutionen gegeben). Ich stelle nur die geschichtliche Unmöglichkeit einer entscheidenden Wendung ohne neue Revolution fest. Denn die Macht ist bereits in anderen Händen, sie ist nicht mehr in der Hand der „revolutionären Demokratie", die Macht ist bereits ergriffen und gefestigt. Das Verhalten der Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki aber ist nicht zufällig, es ist das Produkt der wirtschaftlichen Lage des Kleinbürgertums und das Resultat der langen Kette der politischen Ereignisse vom 28. Februar bis zum 6. Mai, vom 6. Mai bis zum 9. Juni, vom 9. Juni bis zum 18.–19. Juni (Offensive) usw. Eine Wendung ist hier erforderlich, in der ganzen Lage der Regierungsmacht, in ihrer ganzen Zusammensetzung, in allen Tätigkeitsbedingungen der größten Parteien, in den „Bestrebungen" der Klasse die diese Parteien nährt. Solche Wendungen sind geschichtlich undenkbar ohne eine neue Revolution.

Statt dem Volk alle wichtigsten geschichtlichen Vorbedingungen einer neuen Revolution, ihre wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die politischen Aufgaben, das ihr entsprechende Wechselverhältnis der Klassen usw. auseinanderzusetzen, schläfern Suchanow und viele andere kleinbürgerliche Demokraten das Volk durch müßige Spielereien ein, halten das Volk dazu an, sich selbst auszuschalten, suchen dem Volk einzureden dass wir alles „ganz leicht", „mühelos" zurücknehmen können, dass die „wichtigste" revolutionäre Errungenschaft in „Kraft bleibe" und ähnlichen leichtsinnigen, dummen, geradezu verbrecherischen Unsinn.

Anzeichen einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Wendung sind vorhanden. Sie zeigen anschaulich die Richtung der Arbeit auf den sinkenden Einfluss der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, den offensichtlich steigenden Einfluss der Bolschewiki im Proletariat. Im Übrigen haben sogar die Wahlen am 20. August gegenüber den Juniwahlen für die Bezirksdumas in Petrograd den Bolschewiki einen Stimmenzuwachs gebracht. Und dies trotz der Beorderung der „Kaledinschen Truppen nach Petrograd"4 Das objektive Anzeichen für eine Wendung ist bei der unvermeidlich zwischen Proletariat und Bourgeoisie schwankenden kleinbürgerlichen Demokratie das Erstarken, die Festigung und Entwicklung revolutionärer, internationalistischer Strömungen: Martow und andere bei den Menschewiki, Spiridonowa, Kamkow und andere bei den Sozialrevolutionären. Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, dass der nahende Hunger, der Zerfall, die militärischen Niederlagen diese Wendung zur Machtergreifung durch das von der ärmsten Bauernschaft unterstützte Proletariat sehr beschleunigen können.

2. Frondienst und Sozialismus

Besonders erbitterte Gegner des Sozialismus erweisen ihm manchmal einen Dienst durch den unvernünftigen Eifer ihrer „Enthüllungen". Sie fallen gerade über das her, was Sympathie und Nachahmung verdient und öffnen dem Volke schon durch den Charakter ihrer Angriffe die Augen über die Niedertracht der Bourgeoisie.

Gerade so ist es einer der niederträchtigsten bürgerlichen Zeitungen, der „Russkaja Wolja", ergangen, die am 20. August unter dem Titel „Frondienst" eine Korrespondenz aus Jekaterinburg brachte, in der folgendes mitgeteilt wird:

„ … Der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat hat in unserer Stadt den Bürgern, die Pferde besitzen, die Pflicht auferlegt, für die täglichen Dienstfahrten der Ratsmitglieder abwechselnd ihre Pferde zur Verfügung zu stellen.

Die Reihenfolge dieser Dienstleistung wurde in einem besonderen Plan festgelegt. Pünktlich und genau wird jeder ,Pferde besitzende' Bürger schriftlich davon benachrichtigt, wo, an welchem Tage, zu welcher Stunde er mit seinem Pferde zur Dienstleistung antreten muss.

Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, wird im ,Befehl' zum Schlusse hinzugefügt: ,Sollten Sie dieser Pflicht nicht nachkommen, wird der Rat auf Ihre Kosten einen Wagen bis zu dem Betrage von 25 Rubel mieten'…"

Der Verteidiger der Kapitalisten ist natürlich entrüstet. Die Kapitalisten sehen seelenruhig zu, wie die ungeheure Mehrheit des Volkes sich ihr ganzes Leben im Elend abrackert, nicht nur im „Frondienst", sondern geradezu im Zuchthaus der Fabrik, des Bergwerks oder einer anderen Lohnarbeit, oder auch sehr oft arbeitslos hungert. Da sehen die Kapitalisten ruhig zu.

Wenn aber die Arbeiter und Soldaten eine wenn auch ganz geringfügige öffentliche Leistungspflicht für die Kapitalisten einführen, schreien die Herren Ausbeuter über „Frondienst"!!

Man frage einen beliebigen Arbeiter, einen beliebigen Bauer, ob er es schlimm fände, wenn die Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte die einzige Macht im Staate wären und überall eine öffentliche Leistungspflicht für die Reichen einführten, z. B. obligatorischen Dienst mit ihren Pferden, Automobilen und Fahrrädern oder obligatorische tägliche Schreibarbeiten zur Registrierung der Lebensmittel, der Zahl der Bedürftigen usw., usw.?

Jeder Arbeiter und jeder Bauer, mit Ausnahme vielleicht des Kulaken, wird das gutheißen.

Und das ist richtig. Das ist noch kein Sozialismus, sondern nur einer der ersten Schritte zum Sozialismus, aber es ist gerade das, was das arme Volk dringend und unverzüglich braucht. Ohne solche Maßnahmen kann man das Volk nicht vor dem Hunger und dem Untergang retten.

Warum bleibt nun aber der Jekaterinburger Rat eine seltene Ausnahme? Warum werden solche Maßnahmen nicht schon längst in ganz Russland durchgeführt? Warum werden nicht gerade Maßnahmen solcher Art zu einem ganzen System ausgebaut?

Warum führt man nach der öffentlichen Pflicht der Reichen, ihre Pferde zur Verfügung zu stellen, nicht auch eine öffentliche Pflicht für die Reichen ein, über ihre Geldoperationen vollständig Rechenschaft zu geben, besonders bei Lieferungen an den Staat, unter einer ebensolchen Kontrolle der Räte, mit einer ebensolchen „pünktlichen schriftlichen" Benachrichtigung, wann und wo die Abrechnung vorzulegen ist, wann, wo und wie viel Steuern zu bezahlen sind?

Weil an der Spitze der überwiegenden Mehrzahl der Räte sozialrevolutionäre und menschewistische Führer stehen, die in Wirklichkeit zur Bourgeoisie übergelaufen, in eine bürgerliche Regierung eingetreten sind, sich zu ihrer Unterstützung verpflichtet, nicht nur den Sozialismus, sondern auch die Demokratie verraten haben. Diese Führer paktieren mit der Bourgeoisie, die z. B. in Petrograd nicht nur keine Einführung irgendeiner öffentlichen Dienstpflicht für die Reichen zulassen würde, sondern seit Monaten viel bescheidenere Reformen hintertreibt.

Diese Führer betrügen ihr eigenes Gewissen und das Volk mit dem Argument, dass „Russland für die Einführung des Sozialismus noch nicht reif" sei.

Warum müssen solche Argumente als Betrug angesehen werden?

Weil man mit Hilfe solcher Argumente die Sache fälschlich so darstellt, als handelte es sich um irgendeine ungeheuerlich komplizierte und schwierige Umgestaltung, die das gewohnte Leben vieler Millionen Menschen zerschlagen würde. Die Sache wird verlogen so dargestellt, als ob jemand den Sozialismus in Russland mit einem einzigen Ukas „einführen" wollte, ohne den Stand der Technik, die unzähligen Kleinbetriebe, die Gewohnheiten und den Willen der Volksmehrheit zu berücksichtigen.

Das alles ist eine einzige Lüge. Niemand hat ähnliches vorgeschlagen. Keine Partei, kein Mensch dachte daran, „den Sozialismus durch einen Ukas einzuführen". Es handelt und handelte sich ausschließlich um solche Maßnahmen, die, ähnlich wie die Einführung der öffentlichen Leistungspflicht für die Reichen in Jekaterinburg, von der Masse der Armen, d. h. von der Mehrheit der Bevölkerung, vollkommen gebilligt werden, um Maßnahmen, die technisch und kulturell vollkommen zeitgemäß sind, die eine unmittelbare Erleichterung der Lebensbedingungen der armen Leute bedeuten und die Verminderung und die gleichmäßigere Verteilung der Kriegslasten ermöglichen.

Fast ein halbes Jahr der Revolution liegt hinter uns, aber die sozialrevolutionären und menschewistischen Führer hintertreiben alle solche Maßnahmen; sie verraten die Interessen des Volkes um der Interessen des „Paktierens" mit der Bourgeoisie willen.

So lange die Arbeiter und Bauern nicht begreifen, dass diese Führer Verräter sind, die überall verjagt und ihrer Posten enthoben werden müssen, werden die Werktätigen unvermeidlich Sklaven der Bourgeoisie bleiben.

1 Lenin meint den Artikel N. Suchanows „Zur Liquidierung des Kampfes um den Frieden" („Nowaja Schisn", Nr. 106 vom 2. September [20. August] 1917).

2 Der „Vereinigungskongress der SDAPR", einberufen von der „Zentralkommission", der die Menschewiki, die „Nowaja Schisn"-Leute, die Martow-Gruppe, die Bundisten und Vertreter der Kaukasischen Gebietsorganisation angehörten, fand in der Zeit vom 1. September (19. August) bis zum 6. September (24. August) 1917 in Petrograd statt. Der Kongress endete mit der Vereinigung der genannten Richtungen und der Wahl eines Zentralkomitees, dem Vertreter aller auf dem Kongress vertretenen Richtungen angehörten (Zeretelli, Dan, Tschcheïdse, Martow, Roschkow, Jachontow, Abramowitsch u. a.).

3 General Kaledin hatte in seiner Rede in der Moskauer Staatsberatung am 27. (14.) August 1917 unter anderem gesagt: „…die Beschuldigung der konterrevolutionären Gesinnung wurde gerade erst erhoben, nachdem die Kosakenregimenter, die die revolutionäre Regierung retten sollten, am 3. Juli (alten Stils. D. Red.)dem Rufe der sozialistischen Minister folgend – zur Verteidigung des Staates gegen Anarchie und Verrat in Aktion getreten waren…" („Rjetsch", Nr. 190 vom 28. [15.] August 1917).

4 Die Wahlen zur Petrograder Stadtduma am 2. September (20. August) 1917 haben im Vergleich zu den Bezirksdumawahlen, die im Mai stattfanden, die Bolschewiki außerordentlich gestärkt. Die Bolschewiki erhielten 33 Prozent aller abgegebenen Stimmen (gegen 20 Prozent im Mai), der kompromisslerische menschewistisch-sozialrevolutionäre Block 44 Prozent (gegen 58 Prozent im Mai) und die Kadetten 23 Prozent (gegen 22 Prozent). Die Stadtverwaltung wurde aus Kompromissler-Sozialisten und Kadetten, die sich sofort der Koalition anschlossen, zusammensetzt; zum Stadtoberhaupt wurde der rechte Sozialrevolutionär Schreder gewählt.

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