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Wladimir I. Lenin 19170629 Aus welcher Klassenquelle kommen und „werden" die Cavaignacs kommen?

Wladimir I. Lenin: Aus welcher Klassenquelle kommen und „werden" die Cavaignacs kommen?

[„Prawda" Nr. 83, 29. (16.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 187-191]

Wenn der wirkliche Cavaignac kommt, werden wir mit euch zusammen in einer Reihe kämpfen" – schrieb in Nr. 80 an unsere Adresse die „Rabotschaja Gazeta"1, das Organ derselben menschewistischen Partei, deren Mitglied, der Minister Zeretelli, in seiner Rede traurigen Angedenkens sich bis zur Drohung mit der Entwaffnung der Petrograder Arbeiter verstieg.

In dem angeführten Ausspruch der „Rabotschaja Gazeta" treten besonders hervorstechend die Grundfehler der beiden regierenden Parteien in Russland, der menschewistischen wie der Sozialrevolutionären, hervor, und deshalb verdient dieser Ausspruch Beachtung. Ihr sucht den Cavaignac nicht zur rechten Zeit oder nicht am rechten Ort – das ist der Sinn der Ausführungen des Ministerorgans.

Rufen wir uns die Klassenrolle Cavaignacs ins Gedächtnis. Im Februar 1848 wurde in Frankreich die Monarchie gestürzt. Die bürgerlichen Republikaner gelangten an die Macht. Genau so, wie unsere Kadetten, wollten sie die „Ordnung", worunter sie die Wiederherstellung und Festigung der monarchistischen Werkzeuge zur Unterdrückung der Massen, der Polizei, des stehenden Heeres, des privilegierten Beamtentums, verstanden. Genau so, wie unsere Kadetten, wollten sie der Revolution ein Ende machen, hassten sie das revolutionäre Proletariat mit seinen damals noch sehr unklaren „sozialen" (d. h. sozialistischen) Bestrebungen. Genau so, wie unsere Kadetten, standen sie der Politik der Ausdehnung der französischen Revolution auf ganz Europa, der Politik ihrer Umwandlung in die proletarische Weltrevolution entschieden feindlich gegenüber. Genau so, wie unsere Kadetten, bedienten sie sich geschickt des kleinbürgerlichen „Sozialismus" Louis Blancs, indem sie ihn zum Minister machten und ihn aus einem Führer der sozialistischen Arbeiter, der er sein wollte, in ein Anhängsel, einen Schleppenträger der Bourgeoisie verwandelten.

Dies waren die Klasseninteressen, die Stellung und die Politik der herrschenden Klasse.

Die zweite grundlegende gesellschaftliche Kraft war das schwankende, durch das rote Gespenst eingeschüchterte, dem Geschrei gegen die „Anarchisten" erliegende Kleinbürgertum. In seinen Bestrebungen träumerisch und phrasenhaft-„sozialistisch", fürchtete das Kleinbürgertum, das sich selber mit Vorliebe als „sozialistische Demokratie" bezeichnete (selbst diesen Ausdruck übernehmen jetzt die Sozialrevolutionäre und Menschewiki), sich der Führung des revolutionären Proletariats anzuvertrauen, ohne zu begreifen, dass diese Furcht es zum Vertrauen gegenüber der Bourgeoisie verdammte. Denn in einer Gesellschaft des erbitterten Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, besonders bei der unvermeidlichen Zuspitzung dieses Kampfes durch die Revolution, kann es keine „Mittellinie" geben. Das ganze Wesen der Klassenstellung und der Bestrebungen des Kleinbürgertums besteht aber eben darin, das Unmögliche zu wollen, nach dem Unmöglichen zu trachten, d. h. gerade nach einer solchen „Mittellinie".

Die dritte entscheidende Klassenkraft war das Proletariat, das nicht nach der „Aussöhnung" mit der Bourgeoisie strebte, sondern nach dem Siege über sie, nach der furchtlosen Vorwärtsentwicklung der Revolution, und zwar im internationalen Maßstabe.

Das war der objektive historische Boden, der den Cavaignac hervorbrachte. Die Schwankungen des Kleinbürgertums haben es von der Rolle des aktiven Faktors „ausgeschaltet", und der französische Kadett, der General Cavaignac, nützte die Angst des Kleinbürgertums, sich dem Proletariat anzuvertrauen, aus und schritt zur Entwaffnung der Pariser Arbeiter, zu Massenerschießungen.

Mit diesen historischen Erschießungen endete die Revolution; das zahlenmäßig überwiegende Kleinbürgertum war und blieb ein politisch ohnmächtiges Anhängsel der Bourgeoisie, und drei Jahre später war in Frankreich die cäsarische Monarchie in einer besonders abscheulichen Form wieder hergestellt.

Die historische Rede Zeretellis vom 11. Juni, offensichtlich von den kadettischen Cavaignacs eingeflüstert (vielleicht direkt von den bürgerlichen Ministern, vielleicht indirekt von der bürgerlichen Presse und der bürgerlichen öffentlichen Meinung suggeriert, dieser Unterschied ist nicht wichtig), diese historische Rede ist deshalb so bemerkenswert, ist deshalb eine historische, weil Zeretelli mit unnachahmlicher Naivität die „geheime Krankheit" des gesamten Kleinbürgertums, des Sozialrevolutionären wie des menschewistischen, ausgeplaudert hat. Diese „geheime Krankheit" besteht erstens in der vollständigen Unfähigkeit zu einer selbständigen Politik; zweitens in der Angst, sich dem revolutionären Proletariat anzuvertrauen und seine selbständige Politik rückhaltlos zu unterstützen; drittens in dem sich hieraus unvermeidlich ergebenden Abgleiten zur Unterordnung unter die Kadetten oder die Bourgeoisie überhaupt (d. h. zur Unterordnung unter die Cavaignacs).

Das ist der Kernpunkt. Nicht Zeretelli oder Tschernow persönlich und nicht einmal Kerenski sind berufen, die Rolle Cavaignacs zu spielen – dazu werden sich andere Leute finden, die im geeigneten Augenblick den russischen Louis Blancs sagen werden: „Schert euch!" – aber Zeretelli und Tschernow sind die Führer einer solchen kleinbürgerlichen Politik, die das Erscheinen der Cavaignacs möglich und notwendig macht.

Wenn der wirkliche Cavaignac kommt, werden wir mit euch sein" – ist ein ausgezeichnetes Versprechen, eine prachtvolle Absicht! Schade nur, dass sie die für das sentimentale oder ängstliche Kleinbürgertum typische Verkennung des Klassenkampfes offenbart. Denn Cavaignac ist kein Zufall, sein „Kommen" kein einmaliger Moment. Cavaignac ist der Vertreter einer Klasse (der konterrevolutionären Bourgeoisie), der Schrittmacher ihrer Politik. Und gerade diese Klasse, gerade diese Politik unterstützt ihr jetzt schon, ihr Herren Sozialrevolutionäre und Menschewiki!

Dieser Klasse und ihrer Politik überlasst ihr, die ihr in diesem Augenblick im Lande die unbestrittene Mehrheit habt, das Übergewicht in der Regierung, d. h. ihr liefert ihr eine ausgezeichnete Basis für ihre Arbeit.

In der Tat. Der Allrussische Bauernkongress war fast ausschließlich von den Sozialrevolutionären beherrscht. Auf dem Allrussischen Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte stand die erdrückende Mehrheit hinter dem Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Dasselbe bei den Wahlen zu den Bezirksdumas in Petrograd. Es ist eine Tatsache: die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind jetzt die regierende Partei. Und diese regierende Partei tritt freiwillig die Macht (die Mehrheit in der Regierung) der Partei der Cavaignacs ab!!

Wenn nur der Sumpf da ist, die Teufel werden sich schon finden. Ist einmal das unsichere, schwankende, die Entfaltung der Revolution fürchtende Kleinbürgertum da – so wird das Erscheinen der Cavaignacs nicht auf sich warten lassen.

Vieles ist jetzt in Russland, was unsere Revolution von der französischen Revolution des Jahres 1848 unterscheidet: der imperialistische Krieg, die Nachbarschaft fortgeschrittenerer Länder (und nicht rückständigerer, wie damals in Frankreich), die Agrar- und Nationalbewegung. Aber all das kann nur die Form des Auftretens der Cavaignacs, den Augenblick, die äußeren Anlässe usw. ändern. Das Wesen der Sache kann dadurch nicht geändert werden, denn das Wesentliche liegt in den Wechselbeziehungen der Klassen.

In Worten war auch Louis Blanc himmelweit von Cavaignac entfernt. Auch Louis Blanc hat unzählige Versprechungen abgegeben, „in einer Reihe" mit den revolutionären Arbeitern gegen die bürgerlichen Konterrevolutionäre zu kämpfen. Und doch wird kein marxistischer Historiker, kein Sozialist zu bezweifeln wagen, dass gerade die Schwäche, das Schwanken, die Vertrauensseligkeit der Louis Blancs der Bourgeoisie gegenüber Cavaignac erzeugt,, ihm den Erfolg gesichert haben.

Einzig und allein von der Standhaftigkeit und Wachsamkeit, m« der Kraft der revolutionären Arbeiter Russlands hängt es ab, ob Sieg oder Niederlage die russischen Cavaignacs erwartet, die von der konterrevolutionären russischen Bourgeoisie, mit den Kadetten an der Spitze, und von der Unsicherheit, der Ängstlichkeit, dem Hin- und Herschwanken der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki unvermeidlich erzeugt werden.

1 In der „Rabotschaja Gazeta" Nr. 80 vom 27. (14.) Juni 1917 erschien ein Artikel unter dem Titel: „Mahnung zur Ruhe". Der menschewistische Artikelschreiber fällt über die Bolschewiki her und empfiehlt ihnen, „sich von den Agitatoren abzugrenzen, die überall die Forcierung des Bürgerkrieges predigen, abzurücken von jenen, die meinen, dass ,die sozialistischen Minister sich an die Bourgeoisie verkauft' hätten, dass selbst der Rätekongress von den Grundbesitzern und Kapitalisten bestochen sei…" Der Artikelschreiber sieht keine Gefahr der Konterrevolution von rechts, die Cavaignacs seien nirgends zu sehen, doch „wenn der wirkliche Cavaignac kommt, werden wir mit euch zusammen in einer Reihe kämpfen …".

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