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Wladimir I. Lenin 19170609 Berichte über die wirtschaftliche Zerrüttung

Wladimir I. Lenin: Berichte über die wirtschaftliche Zerrüttung

[„Prawda" Nr. 67, 9. Juni (27. Mai) 1917 Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 47-50]

Das Herannahen der Katastrophe ist die Haupt- und Grundfrage der Gegenwart. Es muss darüber möglichst genaues Material gesammelt werden. Hier einige überaus lehrreiche Stellen aus einer Zeitung unserer Gegner, der vereinigten Narodniki und Menschewiki. („Iswestija des Petrograder Rates" Nr. 70 vom 19. Mai.)

Das Elend der Massenarbeitslosigkeit rückt immer näher. Der Widerstand der vereinigten Unternehmer gegen die Forderungen der Arbeiter wächst. Die Unternehmer greifen zu passiver Resistenz und zu versteckten Aussperrungen."1

Und weiter:

„… Die Kapitalisten tun nichts, um dem Staat zu helfen, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden…

Die Kapitalisten, die sich hartnäckig an ihre Profite klammern, sind die wahren Desorganisatoren und Konterrevolutionäre. Aber die Revolution will und darf nicht untergehen. Wenn die Kapitalisten ihr nicht freiwillig entgegenkommen, so muss sie ihre Hand auf sie legen."2

Nicht wahr, es ist schwer, sich beredter auszudrücken? Die Lage ist also wirklich außerordentlich kritisch. Die „Revolution" muss „ihre Hand auf die Kapitalisten legen" – welche Revolution? Die Revolution welcher Klasse? Wie soll sie die Hand auf die Kapitalisten legen?

Hier die Antwort der Referenten in der Sitzung des Exekutivkomitees vom 16. Mai3:

Mehrere Referenten haben das düstere Bild der allgemeinen wirtschaftlichen Zerrüttung des Landes gezeichnet… Die bürgerlichen Presseorgane … verschweigen die wahren Ursachen der Not: den Krieg und das selbstsüchtige Verhalten der Bourgeoisie."

Aus dem Referat des menschewistischen Ministerialisten Tscherewanin:

Die wirtschaftliche Zerrüttung, die wir erleben, ist so ernst, dass mit einzelnen Palliativmittelchen, mit einzelnen konkreten Maßnahmen die Lage nicht gerettet werden kann. Was Not tut, ist ein allgemeiner Plan, ist die Regelung des ganzen wirtschaftlichen Lebens durch den Staat…

Zur konkreten Verwirklichung unseres Planes ist die Schaffung eines besonderen Wirtschaftsrates beim Ministerium notwendig."

Der kreißende Berg hat ein Mäuslein geboren. Anstatt der „Revolution, die ihre Hand auf die Kapitalisten legt" – ein rein bürokratisches Rezept.

Aus dem Referat Awilows:

Die Hauptursache der jetzigen wirtschaftlichen Zerrüttung ist der Mangel an den wichtigsten Industrieprodukten …

Die Lage der Arbeiter grenzt für viele Kategorien in Anbetracht der wachsenden Teuerung an chronischen Hunger …

Die Unternehmer, die gewaltige Gewinne einheimsen, wollen den Arbeitern keine Zugeständnisse machen, wenn nicht gleichzeitig die Preise für ihre Erzeugnisse erhöht werden …

Der einzige Ausweg aus dieser Lage ist die Normierung der Warenpreise. Aber eine solche Normierung kann praktisch nur dann durchgeführt werden, wenn die gesamte Verteilung der Produkte nach den Anweisungen der öffentlichen Gewalt vor sich geht.

Bei einer solchen zwangsweisen Verteilung zu festgesetzten Preisen muss man auch eine Kontrolle über die Produktion einführen, denn sonst kann die Produktion zurückgehen und sogar zum Stillstand kommen…

Gleichzeitig wird man auch jene Quellen unter Staatskontrolle stellen müssen, die die Industrie mit den Umlaufmitteln versorgen, nämlich die Kreditinstitutionen."

Dass der „Staat" eine Maschine ist, die von der Arbeiterklasse und den Kapitalisten nach verschiedenen Richtungen gezogen wird, scheint Genosse Awilow vergessen zu haben. Welche Klasse ist jetzt fähig, die Staatsmacht auszuüben? Aus dem Referat Basarows:

Die festen Preise werden faktisch umgangen; die Staatsmonopole stehen auf dem Papier; die Regelung der Versorgung der Fabriken mit Kohle und Metall hat nicht nur nicht die Möglichkeit gegeben, die Produktion im Interesse des Staates zu leiten, sie war nicht einmal imstande, der Anarchie auf dem Markte Herr zu werden, sie vermochte nicht, die hemmungslose Spekulation der Zwischenhändler zu beseitigen.

Notwendig ist eine staatliche Zwangsvertrustung der Industrie.

Nur indem man die Betriebsleitungen und die Kapitalisten zum Pflichtdienst für den Staat einberuft, wird man wirkliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Anarchie ergreifen können, die die Industriellen bewusst in die Produktion hinein tragen".

Der Staat der Kapitalisten (die bewusst die Anarchie hinein tragen) soll die Kapitalisten zum Pflichtdienst für den Staat einberufen – das heißt soviel, wie den Klassenkampf vergessen.

Aus dem Referat G. W. Schubas:

Trotz unserer unaufhörlichen Forderungen im Verlaufe von zwei Monaten kommt die allgemeine Frage, die Frage der Organisation der Volkswirtschaft und der Arbeit, nicht vom Fleck. Das Ergebnis ist, dass man nicht weiterkommt. Die Lage ist jetzt so: es ist uns, wenn auch nach Kämpfen, gelungen, eine ganze Reihe von Maßnahmen, von Gesetzen, durchzubringen, wir haben bereits ein Gesetz über das Getreidemonopol… Aber das alles bleibt auf dem Papier…

Wir haben die grundsätzliche Lösung der Frage der Munizipalisierung der landwirtschaftlichen Maschinen durchgesetzt. Sie aber durchzuführen ist unmöglich, da keine oder fast keine Maschinen vorhanden sind. Die Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen aber sind mit der Herstellung von gar nicht wichtigen Gegenständen für das Heer beschäftigt. Aber nicht nur das gesamte wirtschaftliche Leben des Landes muss geregelt werden, es ist auch endlich notwendig, den gesamten ausführenden Apparat der Staatsmacht zu zerschlagen und neu aufzubauen …"

Das kommt schon der Sache, dem Kern der Dinge näher! „Den gesamten ausführenden Apparat der Staatsmacht zerschlagen und neu aufbauen" – das ist richtig. Ist es aber nicht klar, dass die Frage des Apparates der Staatsmacht nur ein Teil der Frage nach der Klasse ist, in deren Händen sich die Macht befindet? Aus dem Referat Kukowetzkis:

Die finanzielle Lage des Landes befindet sich in einem fürchterlichen Zustand. Wir gehen mit raschen Schritten dem finanziellen Bankrott entgegen… Rein finanzielle Maßnahmen werden nicht helfen …

Es müssen Maßnahmen zur zwangsweisen Verteilung der Anleihe ergriffen werden, und wenn das nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigen sollte, müsste zu einer Zwangsanleihe geschritten werden.

Die zweite Maßnahme ist die obligatorische Regelung der Industrie, die Festsetzung von Höchstpreisen für die Produkte."

Zwang" ist eine gute Sache, die Frage ist nur die, welche Klasse zwingen wird und welche gezwungen werden soll?

Aus dem Bericht Gromanns:

Was jetzt in allen Ländern vor sich geht, kann als Prozess des Zerfalls des volkswirtschaftlichen Organismus charakterisiert werden. Ihm wird überall das organisierende Prinzip entgegengestellt. Der Staat ist überall an die Organisation der Wirtschaft und der Arbeit herangegangen …

Weder die Regierung noch das Land hat bisher ein Zentrum, das das wirtschaftliche Leben des Landes zu regeln imstande wäre. Es fehlt sozusagen das wirtschaftliche Gehirn. Dieses muss nun geschaffen werden Es muss ein machtvolles ausführendes Organ organisiert werden. Man muss einen Wirtschaftsrat schaffen …"

Eine neue bürokratische Institution – darauf läuft der Gedanke Gromanns hinaus. Das ist traurig.

Alle geben zu, dass eine unerhörte Katastrophe unausbleiblich ist. Aber sie verstehen die Hauptsache nicht: das Land aus dieser Katastrophe herauszuführen, dazu ist nur die revolutionäre Klasse imstande.

1 Aus dem Appell der Arbeitsabteilung des Petrograder Rates „An alle Arbeitsabteilungen bei den Räten der Arbeiter- und Soldatendeputierten", „Iswestija" Nr. 70 vom 1. Juni (19. Mai) 1917.

2 Aus dem Artikel „Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital" in der gleichen Nummer der „Iswestija".

3 In einer außerordentlichen Sitzung am 29. (16.) Mai 1917 beschäftigte sich das Exekutivkomitee des Petrograder Rates mit der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Im Auftrag der Ökonomischen Abteilung des Exekutivkomitees referierten Tscherewanin, Awilow, Basarow, Schuba, Kukowetzki und Gromann. Die Referate behandelten die einzelnen Seiten des Wirtschaftslebens des Landes: Produktion, Verbrauch, Verpflegungswesen, Finanzen usw. Alle Referenten stellten die äußerst kritische Lage fest und wiesen auf die Notwendigkeit hin, entschiedene und sofortige Maßnahmen zu ergreifen.

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