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Wladimir I. Lenin 19171101 Brief an das ZK der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Brief an das Zentralkomitee der SDAPR

[Geschrieben am 1. November (19. Oktober) 1917. Zum ersten Mal veröffentlicht am 4. November 1927 in der „Prawda", Nr. 180. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 449-453]

Werte Genossen!

Eine Partei, die sich selbst achtet, kann keinen Streikbruch und keine Streikbrecher in ihrer Mitte dulden. Das ist offensichtlich. Je mehr man aber über das Auftreten Sinowjews und Kamenews in der außerparteilichen Presse nachdenkt, um so unzweifelhafter wird es, dass ihre Handlungsweise den vollendeten Tatbestand des Streikbruchs darstellt. Die Ausflüchte Kamenews in der Sitzung des Petrograder Rates sind geradezu niederträchtig. Er ist nämlich, sagt er, ganz mit Trotzki einverstanden. Aber ist es denn schwer, zu begreifen, dass Trotzki vor den Feinden nicht mehr sagen konnte und durfte, als er gesagt hat. Ist es denn schwer, zu begreifen, dass die Partei, die den eigenen Beschluss (über die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes, über seine völlige Reife, seine allseitige Vorbereitung usw.) dem Feinde verheimlicht, verpflichtet ist, dass dieser Beschluss sie dazu verpflichtet, in öffentlichen Äußerungen nicht nur die Schuld, sondern auch die Initiative auf den Gegner abzuwälzen. Nur Kinder können das nicht begreifen. Die Ausflucht Kamenews ist einfach ein Schwindel.1 Dasselbe muss für den Winkelzug Sinowjews gesagt werden. Wenigstens von seinem „Rechtfertigungs"-Brief (im Zentralorgan, wie mir scheint), nur diesen Brief habe ich gesehen (denn die Sondermeinung, die angebliche Sondermeinung, von der die bürgerliche Presse voll ist, habe ich, ein Mitglied des ZK, bisher nicht gesehen). Aus den Argumenten Sinowjews: Lenin hat seine Briefe „vor der Annahme irgendwelcher Beschlüsse" verschickt, und ihr habt nicht protestiert. Das schreibt Sinowjew buchstäblich und unterstreicht selbst das Wort vor viermal. Ist es denn schwer, zu begreifen, dass man für und gegen einen Streik agitieren darf, bevor in der Zentrale der Streik beschlossen ist, dass nach einem Streikbeschluss aber (nach dem Zusatzbeschluss, das vor dem Feind geheim zuhalten) gegen den Streik zu agitieren, Streikbruch ist? Jeder Arbeiter wird das begreifen. Die Frage des bewaffneten Aufstandes wurde in der Zentrale im September diskutiert. Damals hätten Sinowjew und Kamenew mit ihrem Brief auftreten können und müssen, dann hätten alle ihre Argumente gesehen und ihre völlige Kopflosigkeit erkannt. Seine Ansichten einen ganzen Monat lang vor der Beschlussfassung verbergen und dann, nach der Beschlussfassung, eine Sondermeinung verbreiten, heißt Streikbrecher sein.

Sinowjew tut so, als verstünde er diesen Unterschied nicht, als verstünde er nicht, dass nach einem Streikbeschluss der Zentrale nur Streikbrecher bei den unteren Instanzen gegen diesen Beschluss agitieren können. Jeder Arbeiter wird das begreifen.

Und Sinowjew hat sowohl in der Versammlung am Sonntag, wo er und Kamenew keine einzige Stimme gewonnen haben, wie in seinem jetzigen Brief eben gegen den Beschluss der Zentrale agitiert und diesen Beschluss untergraben. Denn Sinowjew hat die Schamlosigkeit, zu behaupten, dass „die Partei nicht befragt" worden sei und dass „solche Fragen nicht von zehn Leuten entschieden werden können". Man bedenke nur: alle ZK-Mitglieder wissen, dass bei der entscheidenden Sitzung mehr als zehn Mitglieder des ZK zugegen waren, dass die Mehrheit des Plenums anwesend war, dass Kamenew selber bei dieser Sitzung erklärte: „Diese Versammlung ist beschlussfähig", dass man von den nicht anwesenden ZK-Mitglieder sehr gut wusste, dass ihre Mehrheit mit Sinowjew und Kamenew nicht einverstanden war. Und nun hat nach dem Beschluss des ZK in einer Sitzung, die Kamenew als beschlussfähig bezeichnete, ein ZK-Mitglied die Dreistigkeit, zu schreiben: „die Partei ist nicht befragt worden", „solche Fragen können nicht von zehn Leuten entschieden werden". Das ist der volle Tatbestand des Streikbruchs. Bis zum Parteitag entscheidet das ZK. Das ZK hat entschieden. Kamenew und Sinowjew, die vor dem Beschluss nicht mit Briefen auftraten, haben begonnen, gegen den Zentrale-Beschluss anzukämpfen, nachdem dieser schon gefasst war.

Das ist der vollendete Tatbestand des Streikbruchs. Nach Annahme eines Beschlusses ist keine Bekämpfung zulässig, insofern es sich um die sofortige geheime Vorbereitung eines Streiks handelt. Sinowjew hat die Frechheit, die Warnung des Feindes jetzt uns in die Schuhe zu schieben. Wo ist die Grenze der Schamlosigkeit? Wer hat in Wirklichkeit die Sache verpatzt, den Streik durch die Warnung des Feindes unmöglich gemacht, wenn nicht die Leute, die in der außerparteilichen Presse aufgetreten sind?

In einer Zeitung, die in dieser Frage mit der ganzen Bourgeoisie einig ist, gegen einen „entscheidenden" Beschluss der Partei aufzutreten.

Wenn das jetzt möglich ist, so ist die Partei unmöglich, so ist die Partei zerstört.

Eine Sondermeinung nennen, was Basarow erfährt und in der außerparteilichen Presse abdruckt, heißt die Partei verhöhnen.

Das Auftreten Kamenews und Sinowjews in der außerparteilichen Presse war auch noch darum besonders niederträchtig, weil die Partei ihre verleumderische Lüge nicht offen widerlegen kann: ich kenne die Beschlüsse über den Zeitpunkt nicht, schreibt und druckt Kamenew im eigenen Namen und im Namen Sinowjews (Sinowjew ist für das ganze Verhalten und Vorgehen Kamenews nach einer solchen Erklärung voll verantwortlich).

Wie kann das ZK das widerlegen?

Wir können vor den Kapitalisten nicht die Wahrheit sagen, nämlich, dass wir den Streik beschlossen haben und dass wir die Wahl des Zeitpunktes geheim halten wollen.

Wir können die verleumderische Lüge Sinowjews und Kamenews nicht widerlegen, ohne der Sache noch mehr zu schaden. Die maßlose Niedertracht, der tatsächliche Verrat dieser beiden, besteht gerade darin, dass sie den Kapitalisten den Plan der Streikenden verraten haben, denn wenn wir in der Presse schweigen, errät jeder, wie die Sache steht.

Kamenew und Sinowjew haben Rodsjanko und Kerenski den Beschluss des Zentralkomitees ihrer Partei über den bewaffneten Aufstand und über die Verheimlichung der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands und der Wahl des Zeitpunkts für den Aufstand verraten. Das ist eine Tatsache. Keinerlei Winkelzüge können diese Tatsache aus der Welt schaffen. Zwei Mitglieder des ZK haben durch eine verleumderische Lüge den Kapitalisten die Beschlüsse der Arbeiter verraten. Die Antwort darauf kann und darf nur der sofortige Beschluss des ZK sein:

Das ZK stellt fest, dass das Auftreten Sinowjews und Kamenews in der außerparteilichen Presse den vollendeten Tatbestand des Streikbruchs darstellt, und schließt beide aus der Partei aus."

Es fällt mir nicht leicht, das über Genossen zu schreiben, die mir früher nahestanden, aber ein Schwanken würde ich jetzt für Verbrechen halten, denn eine revolutionäre Partei, die an hervorragender Stelle stehende Streikbrecher nicht bestraft, geht zugrunde.

Die Frage des bewaffneten Aufstandes, auch wenn er durch die Streikbrecher, die die Sache an Rodsjanko und Kerenski verrieten, auf lange Zeit hinausgeschoben wurde, ist von der Tagesordnung nicht gestrichen. Die Partei hat sie nicht gestrichen. Wie kann man sich aber zum bewaffneten Aufstand und den Aufstand selbst vorbereiten, wenn man in seiner Mitte „hervorragende" Streikbrecher duldet? Je „hervorragender", um so gefährlicher, um so weniger der Verzeihung würdig, sagen die Franzosen. Zum Verräter kann nur der Freund werden.

Je „hervorragender" die Streikbrecher, um so notwendiger ist es, sie sofort mit dem Ausschluss zu bestrafen.

Nur auf diese Weise kann die Arbeiterpartei gesunden, nur so kann sie von dem Dutzend charakterloser Intellektueller gesäubert werden, nur so können wir die Reihen der Revolutionäre fester schließen, den großen und größten Schwierigkeiten die Stirne bieten und mit den revolutionären Arbeitern marschieren.

Wir können die Wahrheit nicht veröffentlichen: dass nach der entscheidenden Sitzung des ZK Sinowjew und Kamenew die Frechheit hatten, bei der Sonntagssitzung eine Revision zu verlangen, dass Kamenew schamlos schrie: „Das ZK hat versagt, denn es hat seit einer Woche nichts getan" (ich konnte das nicht widerlegen, denn man durfte nicht sagen, was getan worden ist), und dass Sinowjew mit Unschuldsmiene die von der Sitzung abgelehnte Resolution vorschlug: „Bis zur Beratung mit den am 20. zum Rätekongress ankommenden Bolschewiki nicht in Aktion zu treten."

Man überlege nur: nachdem die Zentrale die Frage des Streiks entschieden hat, der Versammlung unterer Parteischichten vorzuschlagen, die Entscheidung aufzuschieben (bis zum Kongress am 20. Aber dieser Kongress wurde dann aufgeschoben: die Sinowjew glauben den Liber-Dan) und einem Kollegium zu übertragen, das die Parteistatuten nicht kennt, dem ZK nicht übergeordnet ist und Petrograd nicht kennt.

Und nach alledem hat Sinowjew noch die Frechheit, zu schreiben: „So wird man kaum die Einheit der Partei stärken."

Kann man das anders nennen als eine Drohung mit der Spaltung?

Ich antworte auf diese Drohung, dass ich bis ans Ende gehen werde, dass ich mir die Redefreiheit vor den Arbeitern verschaffen und um jeden Preis den Streikbrecher Sinowjew als Streikbrecher brandmarken werde. Auf die Drohung mit der Spaltung antworte ich mit der Erklärung des Krieges bis zum Äußersten, für den Ausschluss beider Streikbrecher aus der Partei.

Die Leitung einer Gewerkschaft hat nach monatelanger Diskussion beschlossen: der Streik ist unvermeidlich und reif, den Zeitpunkt wollen wir vor den Unternehmern verheimlichen. Darauf wenden sich zwei Mitglieder der Leitung an die unteren Organisationen, um gegen diesen Beschluss zu agitieren, und erleiden einen Misserfolg. Daraufhin gehen die beiden zur Presse und verraten durch eine verleumderische Lüge den Beschluss der Leitung an die Kapitalisten, untergraben damit den Streik zur guten Hälfte oder verzögern ihn bis zu einem schlechteren Zeitpunkt und warnen den Feind.

Das ist der vollendete Tatbestand des Streikbruchs. Darum fordere ich den Ausschluss beider Streikbrecher und behalte mir das Recht vor (im Hinblick auf ihre Drohung mit der Spaltung), alles, sobald es möglich ist, zu veröffentlichen.

1 In der Sitzung des Petrograder Rates vom 31. (18.) Oktober 1917 erklärte Trotzki aus Anlass der Mitteilungen der bürgerlichen Presse über eine bevorstehende Aktion, dass weder die Bolschewiki noch der Petrograder Rat einen Aufstand für die nächsten Tage vorbereiten oder irgendwelche bewaffneten Aktionen angesetzt haben, sie werden es aber nicht gestatten, dass die revolutionäre Garnison aus Petrograd entfernt wird, und bei dem ersten Versuch der Konterrevolution, den Rätekongress zu sprengen, wird das ganze revolutionäre Russland mit einer energischen Gegenaktion antworten, die rücksichtslos sein wird und die wir bis zu Ende durchführen werden. Kamenew, der nach ihm das Wort ergriff, erklärte, dass er jedes Wort Trotzkis unterschreibe („Rabotschij Putj", Nr. 40 und 41 vom 1. November [19. Oktober] und 2. November [20. Oktober] 1917). In der Sitzung des ZK vom 2. November (20. Oktober) teilte Trotzki mit, dass seine Erklärung erzwungen wurde durch die Drohung Kamenews, in der Sitzung des Rates eine Resolution gegen die Aktion einzubringen („Protokolle der Sitzungen des ZK der SDAPR", „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 10 [69], 1927).

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