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Wladimir I. Lenin 19171020 Brief an die Petrograder Stadtkonferenz

Wladimir I. Lenin: Brief an die Petrograder Stadtkonferenz1

In geschlossener Sitzung zu verlesen

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in dem Buche L. Trotzkis: „1917", Staatsverlag. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 370-373]

Genossen! Gestattet mir, die Aufmerksamkeit der Konferenz auf den äußersten Ernst der politischen Lage zu lenken. Ich kann mich nur auf die Nachrichten der Sonnabend-Morgenzeitungen stützen. Diese Nachrichten aber zwingen, die Frage so zu stellen:

Beweist nicht die vollständige Untätigkeit der englischen Flotte im Allgemeinen und auch der englischen Unterseeboote bei der Eroberung Ösels durch die Deutschen, im Zusammenhang mit der Absicht der Regierung, ihren Sitz von Petrograd nach Moskau zu verlegen, dass zwischen den russischen und den englischen Imperialisten, zwischen Kerenski und den englisch-französischen Kapitalisten eine Verschwörung geschmiedet wurde, deren Ziel die Übergabe Petrograds an die Deutschen und die Erdrosselung der russischen Revolution auf diesem Wege ist?

Ich glaube, ja. Die Verschwörer haben vielleicht nicht direkt konspiriert, sondern wiederum durch die Vermittlung irgendwelcher Kornilow-Leute (Maklakows, anderer Kadetten, „parteiloser" russischer Millionäre usf.), das ändert aber nichts am Kern der Sache.

Die Schlussfolgerung ist klar.

Man muss einsehen, dass die Revolution zugrunde geht, wenn die Kerenski-Regierung nicht in der allernächsten Zukunft von den Proletariern und Soldaten gestürzt wird. Die Frage des Aufstands wird auf die Tagesordnung gesetzt.

Man muss alle Kräfte mobilisieren, um den Arbeitern und Soldaten den Gedanken der unbedingten Notwendigkeit des verzweifelten, entscheidenden Endkampfes für den Sturz der Kerenski-Regierung einzuflößen.

Man muss sich an die Moskauer Genossen wenden und sie veranlassen, die Macht in Moskau zu ergreifen, die Kerenski-Regierung für abgesetzt zu erklären und den Arbeiterdeputiertenrat von Moskau zur Provisorischen Regierung Russlands auszurufen, die sofort ein Friedensangebot macht und Russland vor der Verschwörung rettet. Die Frage des Aufstands in Moskau müssen die Moskauer Genossen auf die Tagesordnung setzen.

Man muss den auf den 8. Oktober in Helsingfors einberufenen Gebietskongress der Soldatendeputiertenräte des Nordbezirks ausnützen und (bei der Rückreise der Delegierten über Petrograd) alle Kräfte mobilisieren, um sie für den Aufstand zu gewinnen.2

Man muss sich an das ZK unserer Partei mit der Bitte und dem Vorschlag wenden, den Austritt der Bolschewiki aus dem Vorparlament zu beschleunigen und alle Kräfte darauf zu richten, die Verschwörung Kerenskis mit den Imperialisten anderer Länder vor den Massen aufzudecken, und den Aufstand so vorzubereiten, dass sein Zeitpunkt richtig gewählt werden kann.

P.S.: Die Resolution der Soldatensektion des Petrograder Rates gegen die Übersiedlung der Regierung aus Petrograd hat gezeigt, dass auch unter den Soldaten die Überzeugung von der Verschwörung Kerenskis heranreift. Man muss alle Kräfte anspannen, um diese richtige Überzeugung zu stärken und die Agitation unter den Soldaten zu unterstützen.3

Ich beantrage die Annahme folgender Resolution: Die Konferenz stellt nach Erörterung der von allen als im höchsten Grade kritisch anerkannten Lage folgende Tatsachen fest:

1. Die Offensivoperationen der deutschen Flotte, die sehr merkwürdige völlige Untätigkeit der englischen Flotte und im Zusammenhang damit die Absicht der Regierung, von Petrograd nach Moskau zu übersiedeln, erwecken den stärksten Verdacht, dass die Regierung Kerenskis (oder, was dasselbe ist, die hinter ihm stehenden russischen Imperialisten) eine Verschwörung mit den englisch-französischen Imperialisten angezettelt hat, um Petrograd den Deutschen auszuliefern und auf diese Weise die Revolution zu erdrosseln.

2. Dieser Verdacht wird im höchsten Maße verstärkt und erlangt die in solchen Fällen höchstmögliche Wahrscheinlichkeit angesichts der Tatsache,

dass erstens in der Armee seit langem die Überzeugung wächst, und sich immer mehr festigt, dass die zaristischen Generale sie verraten haben, und dass auch die Generale Kerenskis sie verraten (besonders die Übergabe von Riga);

dass zweitens die englisch-französische bürgerliche Presse kein Hehl aus ihrem wütenden, bis zur Raserei gesteigerten Hass gegen die Räte macht und aus ihrer Bereitschaft, diese um jeden noch so blutigen Preis zu vernichten;

dass drittens die halbjährige Geschichte der russischen Revolution restlos bewiesen hat, dass Kerenski, die Kadetten, die Breschkowskaja, Plechanow und ähnliche Politiker bewusst oder unbewusst Werkzeuge in den Händen des englisch-französischen Imperialismus sind;

dass viertens die dumpfen aber hartnäckigen Gerüchte von einem Separatfrieden zwischen England und Deutschland „auf Kosten Russlands" nicht grundlos entstehen konnten;

dass fünftens die Umstände der Kornilowschen Verschwörung beweisen, wie dies sogar aus den Erklärungen der im Allgemeinen mit Kerenski sympathisierenden Zeitungen „Djelo Naroda" und „Iswestija" hervorgeht, dass Kerenski in die Kornilow-Geschichte sehr stark verwickelt ist, dass er der gefährlichste Kornilowist war und ist; dass Kerenski die Führer der Kornilowiade, wie Rodsjanko, Klembowski, Maklakow u. a., gedeckt hat.

Hiervon ausgehend, stellt die Konferenz fest, dass das ganze Geschrei Kerenskis und der ihn unterstützenden bürgerlichen Zeitungen über die Verteidigung Petrograds glatter Betrug und Heuchelei ist, und dass die Soldatensektion des Petrograder Rates durchaus recht hat, wenn sie den Plan einer Übersiedlung aus Petrograd aufs Schärfste verurteilt; – sie stellt ferner fest, dass zur Verteidigung Petrograds und zur Rettung der Revolution unbedingt und dringlichst notwendig ist, dass sich die erschöpfte Armee von der Gewissenhaftigkeit der Regierung überzeuge und auf dem Wege revolutionärer Maßnahmen gegen die Kapitalisten, die bis jetzt den Kampf gegen die Zerrüttung sabotierten (was sogar von der volkswirtschaftlichen Abteilung des menschewistisch-sozialrevolutionären ZEK zugegeben wird), Brot, Kleidung und Schuhwerk erhalte.

Die Konferenz erklärt deshalb, dass nur der Sturz der Kerenski-Regierung und des zusammengeschobenen Rates der Republik und ihre Ersetzung durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiter und Bauern imstande ist:

a) den Bauern den Boden zu geben, anstatt die Bauernaufstände niederzuschlagen;

b) sofort einen gerechten Frieden anzubieten und dadurch unserer ganzen Armee den Glauben an die Ehrlichkeit der Regierung zu geben;

c) entschiedene revolutionäre Maßnahmen gegen die Kapitalisten zu treffen, um die Armee mit Brot, Kleidung und Schuhwerk zu versorgen und den Kampf gegen die Zerrüttung aufzunehmen.

Die Konferenz bittet das ZK eindringlichst, alle Maßnahmen zur Führung des unvermeidlichen Aufstandes der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu treffen, um den Sturz der volksfeindlichen und sklavenhalterischen Kerenski-Regierung herbeizuführen.

Die Konferenz beschließt, sofort eine Delegation nach Helsingfors, Wiborg, Kronstadt, Reval, zu den südlich von Petrograd stehenden Truppen und nach Moskau zu entsenden, zum Zweck der Agitation für den Anschluss an diese Resolution und für die Notwendigkeit, durch den raschen allgemeinen Aufstand und durch den Sturz Kerenskis den Weg zu bahnen für den Frieden, für die Rettung Petrograds und der Revolution, für die Übergabe des Bodens an die Bauern und der Macht an die Räte.

Geschrieben am 20. (7.) Oktober 1917

1 Der Brief an die Petrograder Stadtkonferenz wurde in der Sitzung der Konferenz am 24. (11.) Oktober 1917 verlesen. Es ist nicht bekannt, ob der Brief auf der Konferenz erörtert worden ist, da kein Protokoll der Sitzung vorhanden ist.

2 Der Gebietskongress der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte des Nordbezirks, der vom Gebiets-Exekutivkomitee der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands für den 21. (8.) Oktober in Helsingfors einberufen war, fand in Petrograd in der Zeit vom 24. (11.) bis zum 26. (13.) Oktober statt. Angesichts der erdrückenden Mehrheit, die die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre auf dem Kongress halten, erklärte das menschewistisch-sozialrevolutionäre Exekutivkomitee den Kongress für eine „private Beratung". Die zahlenmäßig schwache Fraktion der Menschewiki nahm an den Arbeiten des Kongresses nicht teil und blieb auf ihm nur zu Informationszwecken. Der Kongress sprach sich für den sofortigen Übergang der Macht in die Hände der Räte, für ein sofortiges Friedensangebot, für den sofortigen Übergang des Bodens an die Bauern und für die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zum festgesetzten Zeitpunkt aus. Der Kongress wandte sich mit einem Radio-Telegramm „an alle" und teilte mit, dass für den 20. Oktober der 2. Rätekongress einberufen werden soll, dessen Aufgaben der sofortige Waffenstillstand an allen Fronten, die Übergabe des gesamten Rodens an die Bauern und die Sicherung des Zusammentritts der Konstituierenden Versammlung sein werden. Das Telegramm forderte auf, gegen die Sabotage des Kongresses durch die Bourgeoisie und die Kompromissler zu kämpfen, und schlug allen Organisationen vor, sich ihre Vertretung auf dem Kongress zu sichern.

3 Die Soldatensektion des Petrograder Rates erörterte in ihrer Sitzung vom 19. (6.) Oktober 1917 die Frage der Ereignisse an der Front und im Zusammenhang damit die Möglichkeit der Übersiedlung der Provisorischen Regierung aus Petrograd nach Moskau. Die Sektion wandte sich kategorisch gegen die Übersiedlung der Regierung, weil das bedeuten würde, die revolutionäre Hauptstadt der Willkür des Schicksals zu überlassen und ihre Auslieferung an die deutschen Truppen vorzubereiten.

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