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Wladimir I. Lenin 19170505 Das ehrliche Oboronzentum zeigt sein Gesicht

Wladimir I. Lenin: Das ehrliche Oboronzentum zeigt sein Gesicht

[„Prawda" Nr. 38, 5. Mai (22. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 289-292]

Die Ereignisse in Petrograd während der letzten Tage, insbesondere die gestrigen, zeigen anschaulich, wie recht wir hatten, als wir von dem „ehrlichen" Oboronzentum der Massen zum Unterschiede vom Oboronzentum der Führer und Parteien sprachen.

Die Masse der Bevölkerung besteht aus Proletariern, Halbproletariern und armen Bauern. Das ist die übergroße Mehrheit des Volkes. Diese Klassen sind an Annexionen wirklich nicht interessiert; an der imperialistischen Politik, an den Profiten des Bankkapitals, an den Erträgnissen der Eisenbahnen in Persien, an den einträglichen Pöstchen in Galizien oder Armenien, an der Beschränkung der Freiheit in Finnland, an alledem sind sie (diese Klassen) nicht interessiert.

Und all das zusammengenommen ist eben das, was man in der Wissenschaft und in der Presse als imperialistische Annexions- und Raubpolitik zu bezeichnen pflegt.

Das Wesen der Sache ist, dass die Gutschkow, Miljukow, Lwow, selbst wenn sie alle persönlich Engel an Tugend, Selbstlosigkeit und Menschenliebe wären, Vertreter, Führer, Vertrauensmänner der Kapitalistenklasse sind, diese Klasse aber ist an der Annexions- und Raubpolitik interessiert. Diese Klasse hat „in den Krieg" Milliarden hineingesteckt und verdient „am Kriege" und an Annexionen (d. h. an der gewaltsamen Unterwerfung oder an der gewaltsamen Angliederung fremder Völkerschaften) Hunderte von Millionen.

Die Hoffnung, dass die Klasse der Kapitalisten sich „bessern", dass sie aufhören kann, eine kapitalistische Klasse zu sein, dass sie auf ihre Gewinne verzichten kann, ist eine trügerische Hoffnung, ein leerer Wahn, der sich in der Praxis in einen Volksbetrug verwandelt. Nur kleinbürgerliche Politiker, die zwischen kapitalistischer und proletarischer Politik hin und her schwanken, könnt solche trügerischen Hoffnungen hegen oder unterstützen. Das besteht ebender Fehler der jetzigen Führer der Parteien der Narodniki und der Menschewiki, der Tschcheïdse, Zeretelli, Tschernow usw. usw.

Der einfache Mensch aus der Masse, der für die Vaterland, Verteidigung eintritt, ist mit der Politik gar nicht vertraut; er konnte die Politik weder aus Büchern noch aus der Beteiligung an der Reichsduma noch aus unmittelbarer Beobachtung der Leute erlernen, die Politik treiben.

Der einfache Mensch aus der Masse, der für die Vaterlandsverteidigung eintritt, weiß noch nicht, dass Kriege von Regierungen geführt werden, dass Regierungen die Interessen dieser oder jener Klassen zum Ausdruck bringen, dass der gegenwärtig seitens beider Gruppen der kriegführenden Machte geführt wird von Kapitalisten, um der räuberischen Interessen und Ziele der Kapitalisten willen.

Weil er das nicht weiß, urteilt der einfache Mensch aus der Masse der für die Vaterlandsverteidigung eintritt, einfach, wir wollen keine Annexionen, wir verlangen einen demokratischen Frieden wir wollen um Konstantinopel, um die Erdrosselung Persiens um die Plünderung der Türkei usw. keinen Krieg führen; wir „verlangen“, dass die Provisorische Regierung auf Annexionen verzichtet

Die einfachen Menschen aus der Masse, die für die Vaterlandsverteidigung eintreten, wollen das aufrichtig, nicht im persönlichen sondern im Klassensinne, denn sie vertreten Klassen die an Annexionen nicht interessiert sind. Aber diese einfachen Menschen aus der Masse wissen nicht, dass die Kapitalisten und die Regierung der Kapitalisten in Worten wohl auf Annexionen verzichten können, dass sie sich mit Versprechungen unschönen Redensarten wohl „herausreden" können, während sie in Wirklichkeit auf Annexionen nicht verzichten können.

Aus diesem Grunde waren diese einfachen Menschen so sehr und mit solchem Recht entrüstet über die Note der Provisorischen Regierung vom 18. April.

Leute, die mit der Politik vertraut sind, konnte diese Note nicht überraschen, weil sie genau wussten, dass alle „Verzichte auf Annexionen" seitens der Kapitalisten nur leere Redensarten sind, – nichts als die übliche Ausflucht und die Phrase eines Diplomaten.

Aber die „ehrlichen" Vertreter der Vaterlandsverteidigung aus der Masse waren überrascht, empört, voller Entrüstung. Sie haben herausgefühlt – sie haben es noch nicht ganz klar begriffen, aber herausgefühlt, dass sie betrogen worden sind.

Darin besteht das Wesen der Krise, das man von den Meinungen, Erwartungen, Vermutungen einzelner Personen und Parteien streng unterscheiden muss.

Diese Krise für kurze Zeit durch eine neue Deklaration, eine neue Note, eine neue Ausflucht zu „verkleistern" (darauf laufen ja der Ratschlag des Herrn Plechanow im „Jedinstwo" und die Bestrebungen der Miljukow u. Co. einerseits, der Tschcheïdse, Zeretelli usw. anderseits hinaus), den entstandenen Riss durch eine „Ausflucht" zu „verkleistern", ist natürlich möglich, aber daraus wird nichts als Schaden entstehen. Denn bei einer neuen Ausflucht werden die Massen unvermeidlich betrogen sein; ein neuer Ausbruch der Empörung ist unvermeidlich, und wenn dieser Ausbruch kein bewusster sein wird, so kann er sich leicht als sehr schädlich erweisen.

Man muss den Massen die ganze Wahrheit sagen. Die Regierung der Kapitalisten kann auf Annexionen nicht verzichten; sie hat sich in ein Netz verstrickt, sie hat keinen Ausweg. Sie spürt, ist sich dessen bewusst, sieht, dass es ohne revolutionäre Maßregeln (zu denen nur die revolutionäre Klasse fähig ist) keine Rettung gibt, und sie windet sich hin und her, tobt, verspricht das eine und tut das andere; bald droht sie den Massen mit Gewalt (Gutschkow und Schingarjow), bald schlägt sie vor, ihr die Macht abzunehmen.

Wirtschaftliche Zerrüttung, Krise, Kriegsschrecken, eine Lage ohne Ausweg – dahin haben die Kapitalisten alle Völker gebracht.

Es gibt wirklich keinen Ausweg außer dem Übergang der Macht auf die revolutionäre Klasse, auf das revolutionäre Proletariat, das allein, unter der Bedingung seiner Unterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung, fähig ist, der Revolution in allen kriegführenden Ländern zum Erfolg zu verhelfen und die Menschheit zum dauerhaften Frieden, zur Befreiung vom Joche des Kapitals zu führen.

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