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Wladimir I. Lenin 19170703 Der Achtzehnte Juni

Wladimir I. Lenin: Der Achtzehnte Juni

[„Prawda" Nr. 86, 3. Juli (20. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 202-205]

Der 18. Juni wird, so oder anders, in die Geschichte der russischen Revolution als einer der Tage eingehen, die einen Wendepunkt bedeuten.1

Die Stellung der Klassen zueinander, ihre Wechselbeziehungen im Kampfe gegeneinander, ihre Kraft, insbesondere im Vergleich zur Kraft der Partei – all das ist durch die Demonstration am Sonntag so deutlich, so klar, so eindringlich aufgezeigt worden, dass, welches der Gang, welches das Tempo der weiteren Entwicklung auch sein mag, der Gewinn an Klassenbewusstsein und Zielklarheit ungeheuer groß bleibt.

Die Demonstration hat im Verlaufe einiger Stunden das leere Gerede von den verschwörerischen Bolschewiki wie ein Staubwölkchen weggeblasen und mit unabweisbarer Anschaulichkeit gezeigt, dass die Avantgarde der werktätigen Massen Russlands, das industrielle Proletariat der Hauptstadt und ihre Truppen in überwältigender Mehrheit für die Losungen sind, die unsere Partei stets vertreten hat.

Der gemessene Schritt der Arbeiter- und Soldatenbataillone. Etwa eine halbe Million Demonstranten. Einmütigkeit der geschlossenen Aktion, Einmütigkeit der Losungen, darunter in gewaltiger Überzahl: „Alle Macht den Räten", „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern", „Weder Sonderfrieden mit den deutschen noch Geheimverträge mit den englisch-französischen Kapitalisten" usw. Für jeden, der die Demonstration gesehen hat, blieb kein Zweifel, dass diese Losungen innerhalb der organisierten Avantgarde der Arbeiter- und Soldatenmassen Russlands die Oberhand gewonnen haben.

Die Demonstration des 18. Juni wurde zu einer Demonstration der Kräfte und der Politik des revolutionären Proletariats, das der Revolution die Richtung weist, das ihr den Ausweg aus der Sackgasse zeigt. Darin liegt die gewaltige geschichtliche Bedeutung der Sonntag-Demonstration, darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von den Demonstrationen am Tage der Bestattung der Revolutionsopfer und am Tage des 1. Mai. Damals war es eine allgemeine Ehrung des ersten Sieges der Revolution und ihrer Helden, gleichsam ein Rückblick des Volkes auf die so rasch zurückgelegte und so erfolgreiche erste Etappe zur Freiheit. Der 1. Mai war ein Fest der Wünsche und Hoffnungen, die mit der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung, mit ihrem Ideal von Frieden und Sozialismus verknüpft sind.

Weder die eine noch die andere Demonstration hatte sich das Ziel gesetzt, der Revolution die Richtung der weiteren Bewegung zu zeigen, und sie konnten sie auch nicht zeigen. Weder die eine noch die andere stellte den Massen und im Namen der Massen die konkreten, bestimmten, aktuellen Fragen, in welcher Richtung und wie die Revolution zu verlaufen hat.

In diesem Sinne war der 18. Juni die erste politische Demonstration der Tat, eine Erläuterung, nicht durch das Buch oder die Zeitung, sondern auf der Straße, nicht durch die Führer, sondern durch die Massen, eine Erläuterung, wie die verschiedenen Klassen handeln, wie sie handeln wollen und handeln werden, um die Revolution weiterzuführen.

Die Bourgeoisie hatte sich versteckt. An einer friedlichen Demonstration, die ganz offensichtlich von der Mehrheit des Volkes veranstaltet war, bei voller Freiheit der Parteilosungen, deren Hauptziel eine Aktion gegen die Konterrevolution war, an einer solchen Demonstration lehnte die Bourgeoisie die Teilnahme ab. Das ist auch begreiflich. Die Bourgeoisie – das ist eben die Konterrevolution. Sie versteckt sich vor dem Volke, sie zettelt regelrechte konterrevolutionäre Verschwörungen gegen das Volk an. Die jetzt in Russland regierenden Parteien, die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, haben sich an dem geschichtlichen Tag des 18. Juni ganz klar als die Parteien der Schwankungen gezeigt. Ihre Losungen brachten ihr Schwanken zum Ausdruck und hinter ihren Losungen stand – klar und für alle sichtbar – die Minderheit. Stehenbleiben, alles vorläufig beim Alten lassen – das war es, was sie durch ihre Losungen, ihre Schwankungen dem Volke rieten. Und das Volk spürte, und sie selbst spürten, dass dies unmöglich ist.

Genug der Schwankungen – sagte die Avantgarde des Proletariats, die Avantgarde der Arbeiter- und Soldatenmassen Russlands. Genug der Schwankungen. Die Politik des Vertrauens zu den Kapitalisten, zu ihrer Regierung, ihren reformatorischen Anstrengungen, ihrem Kriege, ihrer Offensivpolitik, eine solche Politik ist hoffnungslos. Ihr Bankrott ist nicht fern. Ihr Bankrott ist unvermeidlich. Es wird auch der Bankrott der regierenden Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki sein. Der wirtschaftliche Zusammenbruch rückt immer näher. Es ist unmöglich , sich davor anders zu retten als durch revolutionäre Maßnahmen der an der Macht befindlichen revolutionären Klasse.

Möge das Volk mit der Politik des Vertrauens zu den Kapitalisten ein Ende machen, möge es Vertrauen der revolutionären Klasse, dem Proletariat entgegenbringen. Das Proletariat und nur das Proletariat ist die Quelle der Kraft. In ihm und nur in ihm liegt die Gewähr dafür, dass den Interessen der Mehrheit gedient wird, den Interessen der durch Krieg und Kapital gewürgten Werktätigen und Ausgebeuteten, die fähig sind, den Krieg und das Kapital zu überwinden!

Eine Krise von unerhörtem Ausmaß ist über Russland und die ganze Menschheit hereingebrochen. Den Ausweg bietet nur das Vertrauen zu der am besten organisierten Vorhut der Werktätigen und Ausgebeuteten, die Unterstützung ihrer Politik.

Ob das Volk diese Lehre schnell begreift und wie es sie verwirklicht, wissen wir nicht. Aber eines wissen wir bestimmt, dass es außer dieser Lehre keinen Ausweg aus der Sackgasse gibt, dass die möglichen Schwankungen oder Grausamkeiten den Konterrevolutionären nichts bringen werden.

Ohne das vollständige Vertrauen der Volksmassen zu ihrem Führer, dem Proletariat, gibt es keinen Ausweg.


1 Am 1. Juli (18. Juni) 1917 fand in Petrograd eine grandiose Demonstration statt. Der Rätekongress, der die für den 23. (10.) Juni angekündigte bolschewistische Demonstration verboten und außerdem noch „auf drei Tage" alle Straßenkundgebungen überhaupt untersagt hatte, war unter dem Druck der Massen gezwungen, selbst für Sonntag, den 1. Juli (18. Juni), eine Demonstration festzusetzen, die zur Überraschung des kompromisslerischen Rätekongresses ein völliger Triumph der Bolschewiki wurde. Rund 400.000 Arbeiter und Soldaten demonstrierten an diesem Tage. 90 Prozent der Fahnen und Transparente trugen die Losungen des ZK der Bolschewiki: „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern" und „Alle Macht den Räten". Die Losung „Vertrauen zur Provisorischen Regierung", die der menschewistisch-sozialrevolutionäre Rätekongress aufstellte, war nur auf drei Transparenten zu sehen, und zwar gehörten diese einem Kosakenregiment, der Gruppe „Jedinstwo" und der Petrograder Organisation des „Bund". Ähnliche Demonstrationen fanden auch in Moskau, im Moskauer Gouvernement und in anderen Städten statt. Der 1. Juli (18. Juni) hatte gezeigt, dass die Massen geschlossen für die Revolution waren und für die Kompromissler nichts übrig hatten.

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