Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170811 Der Beginn des Bonapartismus

Wladimir I. Lenin: Der Beginn des Bonapartismus

[„Rabotschij i Soldat", Nr. 6, 11. August (29. Juli) 1917. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1931, S. 74-78]

Der größte, der verhängnisvollste Irrtum, den die Marxisten jetzt, nach der Bildung des Ministeriums Kerenski, Nekrassow, Awksentjew und Co.1 begehen könnten, wäre, Worte für Taten, trügerischen Schein für wesentlich oder überhaupt für ernst zu halten.

Überlassen wir diese Beschäftigung den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die neben dem Bonapartisten Kerenski schon geradezu die Rolle von Possenreißern spielen. Ist es nicht wirklich eine Possenreißerei, wenn Kerenski, offensichtlich unter dem Diktat der Kadetten, so etwas wie ein nichtöffentliches Direktorium aus sich selber, Nekrassow, Tereschtschenko und Sawinkow bildet, sich über die Konstituierende Versammlung, über die Deklaration vom 8. Juli2 ausschweigt, in einem Aufruf an die Bevölkerung die heilige Einigkeit zwischen den Klassen proklamiert, ein Abkommen zu Bedingungen, die niemand kennt, mit Kornilow, der ein unverschämtes Ultimatum gestellt hat, schließt, die Politik der skandalösen, empörenden Verhaftungen fortsetzt, während die Tschernow, Awksentjew und Zeretelli sich mit Phrasendrescherei und schönen Posen befassen.

Ist es denn nicht Possenreißerei, wenn Tschernow sich in einer solchen Zeit damit befasst, Miljukow vor ein Schiedsgericht zu zitieren, wenn Awksentjew über die Untauglichkeit des engen Klassenstandpunktes deklamiert, wenn Zeretelli und Dan im Zentralexekutivkomitee der Räte die hohlsten, mit inhaltsleeren Phrasen gefüllten Resolutionen einbringen, die an die schlimmsten Zeiten der Ohnmacht der kadettischen ersten Duma gegenüber dem Zarismus erinnern.

Wie die Kadetten im Jahre 1906 die erste Volksvertretung in Russland prostituierten, indem sie sie angesichts der erstarkenden zaristischen Konterrevolution zu einer kläglichen Schwatzbude machten, so prostituierten im Jahre 1917 die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die Räte, indem sie sie angesichts der erstarkenden bonapartistischen Konterrevolution in eine klägliche Schwatzbude verwandelten.

Das Ministerium Kerenski ist ein Ministerium der ersten Schritte des Bonapartismus.

Wir haben das wesentlichste historische Merkmal des Bonapartismus vor uns: das Lavieren der sich auf das Militär (auf die übelsten Elemente des Heeres) stützenden Staatsmacht zwischen den zwei feindlichen Klassen und Kräften, die sich gegenseitig mehr oder weniger die Wage halten.

Der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat sich bis zum äußersten zugespitzt. Am 20.-21. April sowohl wie am 3.-5. Juli stand das Land haarscharf vor dem Bürgerkrieg. Ist diese sozial-ökonomische Bedingung nicht der klassische Boden für den Bonapartismus? Und zu dieser Bedingung gesellen sich noch weitere, ganz ähnliche hinzu: Die Bourgeoisie zetert und tobt gegen die Räte, aber sie ist noch nicht stark genug, sie mit einem Schlag auseinanderzujagen, während diese, prostituiert durch die Herren Zeretelli, Tschernow und Co., schon keine Kraft mehr haben, der Bourgeoisie ernsten Widerstand zu leisten.

Die Gutsherren und die Bauernschaft leben gleichfalls unter Bedingungen, die den Vorabend eines Bürgerkrieges kennzeichnen: die Bauern fordern Land und Freiheit; sie in Schach halten kann, wenn sie es überhaupt kann, nur eine bonapartistische Regierung, die fähig ist, allen Klassen die skrupellosesten Versprechungen zu machen und kein einziges zu halten.

Dazu füge man noch das Moment der durch das Abenteuer der Offensive hervorgerufenen militärischen Niederlagen hinzu, wo die Phrasen über die Rettung des Vaterlandes (die den Wunsch, das imperialistische Programm der Bourgeoisie zu retten, verdecken) besonders stark im Umlauf sind –, und man wird das vollständige Bild des sozialpolitischen Milieus des Bonapartismus vor sich sehen.

Lassen wir uns nicht durch Phrasen täuschen. Lassen wir uns nicht dadurch irre machen, dass wir erst die ersten Schritte des Bonapartismus vor uns haben. Gerade die ersten Schritte muss man durchschauen, um nicht in die lächerliche Lage eines stumpfsinnigen Philisters zu geraten, der über den zweiten Schritt ächzt und krächzt, obwohl er selbst beim ersten tüchtig mitgeholfen hat.

Nichts anderes als borniertes Philistertum wären jetzt konstitutionelle Illusionen, wie zum Beispiel, dass das jetzige Ministerium wohl linker als das bisherige sei (siehe „Iswestija") oder dass die wohlwollende Kritik der Räte die Fehler der Regierung gutmachen könne, oder dass die willkürlichen Verhaftungen und Zeitungsverbote Einzelfälle gewesen seien und man hoffen muss, dass sie sich nicht wiederholen würden, oder dass Sarudny ein anständiger Mann sei und dass im republikanisch-demokratischen Russland eine geregelte Gerichtsbarkeit möglich sei, der niemand sich entziehen dürfe usw.3

Die Narretei dieser philiströsen konstitutionellen Illusionen ist viel zu offensichtlich, als dass es sich noch verlohnte, Zeit auf ihre Widerlegung zu verschwenden.

Nein, der Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution erfordert Nüchternheit und die Fähigkeit, zu sehen und auszusprechen, was ist.

Der Bonapartismus in Russland ist kein Zufall, sondern das natürliche Produkt der Entwicklung des Klassenkampfes in einem kleinbürgerlichen Lande mit ziemlich entwickeltem Kapitalismus und einem revolutionären Proletariat. Geschichtliche Etappen, wie der 20.-21. April, der 6. Mai, der 9.-10. Juni, der 18.-19. Juni, der 3.-5. Juli sind Wegweiser, die anschaulich zeigen, wie die Vorbereitung des Bonapartismus vor sich ging. Es wäre der gröbste Fehler, anzunehmen, dass demokratische Verhältnisse den Bonapartismus ausschließen. Im Gegenteil, gerade in diesen Verhältnissen (die Geschichte Frankreichs hat dies zweimal bestätigt) entwickelt sich, bei einer bestimmten Wechselbeziehung der Klassen und ihres Kampfes, der Bonapartismus.

Allein die Unvermeidlichkeit des Bonapartismus anerkennen, heißt keineswegs die Unvermeidlichkeit seines Zusammenbruchs vergessen.

Wenn wir nur sagen, dass in Russland, ein vorübergehender Triumph der Konterrevolution zu verzeichnen sei, so wird das eine Phrase sein.

Wenn wir aber die Entstehung des Bonapartismus analysieren und, furchtlos der Wahrheit ins Gesicht schauend, der Arbeiterklasse und dem ganzen Volk sagen, dass der Beginn des Bonapartismus eine Tatsache ist, so werden wir eben damit den Grund legen für einen ernsten, hartnäckigen, in breitem politischen Maßstab geführten, auf tiefgehende Klasseninteressen sich stützenden Kampf für den Sturz des Bonapartismus.

Der Beginn des russischen Bonapartismus des Jahres 1917 unterscheidet sich vom beginnenden französischen Bonapartismus der Jahre 1799 und 1849 durch eine Reihe von Bedingungen, z. B. dadurch, dass bei uns keine einzige Grundaufgabe der Revolution gelöst ist. Der Kampf um die Lösung der Agrar- und nationalen Frage beginnt erst aufzuflackern.

Kerenski und die konterrevolutionären Kadetten, die mit ihm wie mit einer Schachfigur spielen, können weder zur festgesetzten Frist die Konstituante einberufen noch die Einberufung verschieben, ohne in beiden Fällen die Revolution zu vertiefen. Die Katastrophe aber, die durch die Fortdauer des imperialistischen Krieges erzeugt wird, rückt mit noch viel größerer Kraft und Geschwindigkeit heran als bisher.

Dem Vortrupp des revolutionären Proletariats ist es gelungen, ohne Massenaderlass unsere Juni- und Julitage zu überstehen. Die Partei des Proletariats hat die völlige Möglichkeit, eine solche Taktik und eine solche Form oder solche Formen der Organisation zu wählen, dass plötzliche (scheinbar plötzliche) Verfolgungen seitens der Bonapartisten in keinem Fall ihrer Existenz und ihrem systematischen Appellieren an das Volk ein Ende setzen können.

Mag die Partei dem Volke laut und deutlich die uneingeschränkte Wahrheit sagen, dass wir den Beginn des Bonapartismus erleben; dass die „neue" Regierung Kerenski, Awksentjew und Co. lediglich die Kulisse ist, hinter der sich die konterrevolutionären Kadetten und die Militärclique verstecken, die die Macht in Händen hält, dass das Volk keinen Frieden, die Bauern kein Land, die Arbeiter keinen Achtstundentag, die Hungrigen kein Brot bekommen werden, ohne die völlige Liquidierung der Konterrevolution – mag die Partei das sagen, und jeder Schritt in der Entwicklung der Ereignisse wird ihr recht geben.

Russland hat mit erstaunlicher Schnelligkeit eine ganze Periode zurückgelegt, in der die Mehrheit des Volkes sich den kleinbürgerlichen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre anvertraut hatte. Jetzt beginnt diese Vertrauensseligkeit sich grausam an der Mehrheit der werktätigen Massen zu rächen.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Ereignisse sich im schnellsten Tempo weiterentwickeln und das Land sich der nächsten Periode nähert, wo die Mehrheit der Werktätigen genötigt sein wird, ihr Schicksal dem revolutionären Proletariat anzuvertrauen. Das revolutionäre Proletariat wird die Macht übernehmen, die sozialistische Revolution beginnen, wird trotz aller Schwierigkeiten und möglichen Schwankungen in der Entwicklung die Proletarier aller fortgeschrittenen Länder in sie hineinziehen und sowohl den Krieg wie den Kapitalismus überwinden.

1 Das zweite Koalitionsministerium der Provisorischen Regierung (oder das dritte nach der Februarrevolution) wurde nach den Julitagen unter dem Vorsitz Kerenskis und seines Vertreters Nekrassow gebildet. Dem Ministerium gehörten an: die Menschewiki Skobelew und Nikitin; die Sozialrevolutionäre Awksentjew und Tschernow; die Volkssozialisten Pjeschechonow und Sarudny; der parteilose Linke Prokopowitsch; die Kadetten und Vertreter der „Zensus"-Bourgeoisie Kokoschkin, Kartaschow, Oldenburg, Jurenjew, Jefremow, Tereschtschenko und Bernatzki. Kerenski behielt das Kriegs- und Marineministerium, seine Vertreter darin waren Sawinkow und Lebedejew.

2 In der vom zweiten Koalitionsministerium erlassenen Deklaration der Provisorischen Regierung vom 22. (8.) Juli 1917 hieß es: „…Als ihre erste und wichtigste Aufgabe betrachtet die Provisorische Regierung die Anspannung aller Kräfte für den Kampf gegen den äußeren Feind und für die Verteidigung der neuen Staatsordnung gegen alle anarchistischen und konterrevolutionären Anschläge, ohne vor den entschiedensten Regierungsmaßnahmen haltzumachen…" Im sachlichen Teil der Deklaration wurde die Einberufung einer Konferenz mit den Verbündeten nicht später als im August versprochen, „um die allgemeine Richtung der Außenpolitik der Verbündeten festzulegen und ihre Handlungen in Einklang zu bringen mit den von der russischen Revolution verkündeten Grundsätzen". Ferner versprach die Deklaration die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zum 30. (17.) September 1917; die Freiheit der Streiks, der Gewerkschaften und eine Arbeitsgesetzgebung, ferner eine Reihe vorbereitender Maßnahmen für die Lösung der Bodenfrage durch die Konstituierende Versammlung im Sinne der Übergabe des Bodens an die Bauern, jedoch unter der Bedingung des entschiedensten Kampfes gegen die „eigenmächtige Besitzergreifung und ähnliche Willkürmethoden, die den Grundsätzen des allgemein-staatlichen Planes der zukünftigen Bodenreform widersprechen".

3 Im Artikel „Die Krise der Macht" in den „Iswestija" des Petrograder Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Nr. 126 vom 7. August (25. Juli) 1917 wurde der Nachweis zu erbringen versucht, dass „die allgemeine Zusammensetzung der Regierung zweifellos eine bedeutende Verschiebung nach links offenbart".

In einem in derselben Zeitung vom 6. August (27. Juli) veröffentlichten Artikel unter dem Titel „Zur Verteidigung der Rechtsprechung" war von der Loyalität des Justizministers Sarudny und dem günstigen Einfluss der Räte auf die Regierung die Rede.

Kommentare