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Wladimir I. Lenin 19170614 Der Splitter im Auge des andern

Wladimir I. Lenin: Der Splitter im Auge des andern

[„Prawda", Nr. 70, 14. (1.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, and 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 96-98]

Algier hat einen Strich durch die Rechnung gemacht … Unseren ministrablen „Sozialrevolutionären" war es beinahe gelungen, sich selbst und ihre Zuhörer mit den Phrasen über die Anerkennung eines „Friedens ohne Annexionen" (d. h. ohne Aneignung fremder Länder) zu betäuben, aber da hat Algier einen Strich durch die Rechnung gezogen! Die Zeitung „Djelo Naroda", an der zwei Minister aus der Partei der „Sozialrevolutionäre", Kerenski und Tschernow, mitarbeiten, beging die -- Unvorsichtigkeit, mit drei alliierten Ministern (auch Quasisozialisten) von Algier zu reden. Wie schrecklich diese Unvorsichtigkeit in der Zeitung der Kerenski und Tschernow ist, wird dem Leser aus Folgendem klar ersichtlich werden.

Drei Minister der verbündeten Länder, Englands, Frankreichs und Belgiens, die Herren Henderson, Thomas und Vandervelde, haben erklärt, sie wünschten keine „Annexionen", sondern nur die „Befreiung der Territorien". Das Blatt der Kerenski und Tschernow bezeichnete das – und zwar ganz mit Recht – als „Taschenspielerkunststücke" der „von der Bourgeoisie gezähmten Sozialisten" und ließ folgende zornig-sarkastische Tirade gegen sie los:

Allerdings fordern sie (die drei Minister) die Befreiung der Territorien nur ,im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung'. Sehr schön! Aber dann sollen wir von ihnen und von uns selbst Konsequenz verlangen und auch die ,Befreiung der Territorien' von Irland und Finnland einerseits, von Algier und Siam andererseits anerkennen. Es wäre uns sehr interessant, z.B. die Ansicht des Sozialisten Albert Thomas über die ,Selbstbestimmung' Algiers zu hören."

Jawohl, „es wäre uns sehr interessant", auch die Ansicht Kerenskis, Zeretellis, Tschernows und Skobelews über die „Selbstbestimmung" Armeniens, Galiziens, der Ukraine und Turkestans zu hören.

Ihr Herren russische Minister der Narodniki und Menschewiki, habt ja durch das Beispiel Irlands und Algiers die ganze Verlogenheit, die ganze Falschheit eurer Lage und eures Verhaltens aufgedeckt. Ihr habt dadurch gezeigt, dass man unter „Annexionen" nicht nur die Eroberungen in diesem Kriege verstehen darf. Also habt ihr euch selbst und die „Iswestija" des Petrograder Rates geschlagen, die erst vor wenigen Tagen mit stolzer Unwissenheit erklärt haben, unter Annexionen seien nur die Eroberungen in diesem Krieg zu verstehen. Wer weiß aber nicht, dass Irland und Algier Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte vor Beginn dieses Krieges erobert worden sind?

Unvorsichtig, sehr unvorsichtig ist das „Djelo Naroda": es hat gezeigt, welche völlige Verwirrung der Begriffe bei ihm selber, bei den Menschewiki und den „Iswestija" des Petrograder Rates in einer so wichtigen, so grundlegenden Frage, wie die der Annexionen, herrscht.

Das ist aber noch nicht alles. Wenn ihr Henderson nach Irland, Albert Thomas nach Algier fragt, wenn ihr die Ansicht der „an der Macht befindlichen französischen Bourgeoisie" über Annexionen der Ansicht des französischen Volkes gegenüberstellt, wenn ihr Henderson und Albert Thomas als „von der Bourgeoisie gezähmte Sozialisten" bezeichnet, wie konntet ihr da vergessen, euch selber anzuschauen??

Wer seid ihr denn, ihr Kerenski, Zeretelli, Tschernow? Seid ihr nicht auch „von der Bourgeoisie gezähmte Sozialisten"? Habt ihr etwa im Ministerium der „an der Macht befindlichen russischen Bourgeoisie" die Frage des russischen Irlands, des russischen Algiers, d.h. die Frage Turkestans, Armeniens, der Ukraine, Finnlands usw. aufgerollt? Wann habt ihr diese Frage aufgeworfen? Warum erzählt ihr davon nichts dem russischen „Volke"? Warum bezeichnet ihr nicht als „Taschenspielerkunststück" die Methode der russischen Narodniki und Menschewiki, die im Sowjet und im Ministerium und dem Volke gegenüber bombastische Phrasen über „Frieden ohne Annexionen" drechseln, ohne die Frage aller russischen Annexionen der gleichen Art wie Irland und Algier genau, klar und unzweideutig zu stellen?

Die russischen ministrablen Narodniki und Menschewiki haben sich verfangen und entlarven sich selber tagtäglich.

Gewöhnlich berufen sie sich auf das „letzte" Argument: wir haben Revolution. Das ist aber ein durch und durch verlogenes Argument, denn unsere Revolution hat bisher nur der Bourgeoisie die Macht gegeben, genau wie in Frankreich und England, mit einer „ungefährlichen Minderheit" „von der Bourgeoisie gezähmter Sozialisten", wie in Frankreich und England. Was unsere Revolution morgen bringen wird: – ob Rückkehr zur Monarchie, Festigung der Bourgeoisie, Übergang der Macht auf fortschrittlichere Klassen – das wissen wir nicht, und niemand weiß es. Sich also auf die „Revolution" überhaupt zu berufen, ist eine grobe Täuschung des Volkes und ein Selbstbetrug.

Die Annexionsfrage ist ein guter Probierstein für die in Lug und Trug verfangenen Narodniki und Menschewiki. Sie sind ebenso darin verfangen, wie die Plechanow, Henderson, Scheidemann u. Co. Sie unterscheiden sich nur in Worten voneinander, in der Tat sind sie für den Sozialismus in gleicher Weise verloren.

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