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Wladimir I. Lenin 19170527 Der wirtschaftliche Zerfall droht

Wladimir I. Lenin: Der wirtschaftliche Zerfall droht

[„Prawda" Nr. 57, 27. (14.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 491-494]

Die Nachrichten, Betrachtungen, Befürchtungen, Gerüchte über die drohende Katastrophe werden immer häufiger. Die kapitalistischen Zeitungen versuchen bange zu machen, sie zetern wutschäumend über die Bolschewiki und tun sich groß mit anonymen Andeutungen Kutlers über „eine" Fabrik, über „einige" Fabriken, „einen" Betrieb usw. Das sind merkwürdige Methoden und sonderbare „Beweise" … Warum nennt man denn diese Fabriken nicht beim Namen? Warum gibt man denn dem Publikum und den Arbeitern nicht die Möglichkeit, diese alarmierenden Gerüchte nachzuprüfen?

Die Herren Kapitalisten müssten doch begreifen, dass sie sich nur lächerlich machen, wenn sie keine genauen Angaben über bestimmte, mit vollem Namen genannte Betriebe machen. Ihr seid ja die Regierung, ihr Herren Kapitalisten, ihr habt ja von sechzehn Ministern zehn, ihr tragt die Verantwortung und ihr regiert! Ist es nicht lächerlich, wenn Leute, die über die Mehrheit in der Regierung verfügen und die das Staatsruder lenken, sich auf die anonymen Andeutungen Kutlers beschränken und Angst haben, offen und ehrlich aufzutreten, wenn sie versuchen, die Verantwortung auf andere Parteien abzuwälzen, die nicht über die Regierungsgewalt verfügen?

Die Zeitungen der kleinbürgerlichen Parteien, der Narodniki und der Menschewiki, jammern gleichfalls, wenn auch in einer etwas anderen Tonart: sie klagen nicht so sehr die schrecklichen Bolschewiki an (obwohl auch diese Anklagen natürlich nicht fehlen), sondern präsentieren vielmehr eine lange Liste von frommen Wünschen. Besonders charakteristisch ist in dieser Beziehung die Haltung der „Iswestija", deren Redaktion sich in den Händen des Blocks der beiden genannten Parteien befindet. In Nr. 63 vom 11. Mai sind zwei Artikel über den Kampf gegen die wirtschaftliche Zerrüttung abgedruckt. Beide Artikel haben den gleichen Inhalt. Die Überschrift des einen Artikels ist, um es recht gelinde auszudrücken, äußerst unvorsichtig gewählt (wie überhaupt der Eintritt der Narodniki und Menschewiki in das Ministerium der Imperialisten ein äußerst „unvorsichtiger" Schritt war): „Was will die Provisorische Regierung?"1 Richtiger wäre die Überschrift: „Was will die Provisorische Regierung nicht und was verspricht sie?"

Der andere Artikel ist eine „Resolution der Ökonomischen Abteilung des Exekutivkomitees des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates"2. Wir bringen aus dieser Resolution einige Sätze, die ihren Inhalt am getreuesten wiedergeben:

Viele Industriezweige sind bereits reif für ein staatliches Handelsmonopol (Getreide, Fleisch, Salz, Leder), andere wieder sind reif für die Schaffung von staatlich regulierten Trusts (Gewinnung von Kohle und Erdöl, Erzeugung von Metallen, Zucker, Papier), und endlich machen die gegenwärtigen Verhältnisse für fast alle Industriezweige die regulierende Mitwirkung des Staates bei der Verteilung der Rohstoffe und der hergestellten Produkte, sowie bei der Festsetzung der Preise notwendig … Gleichzeitig damit müssen alle Kreditinstitutionen der Kontrolle des Staates und der Gesellschaft unterstellt werden, damit eine Spekulation mit den Waren, deren Verkehr der staatlichen Regulierung unterliegt, verhindert wird … Ferner müssen die energischsten Maßregeln getroffen werden zur Bekämpfung des Schmarotzertums, bis zur Einführung der Arbeitspflicht … Das Land befindet sich bereits mitten in der Katastrophe, einen Ausweg aus dieser Katastrophe bietet nur die schöpferische Kraftanspannung des gesamten Volkes mit einer Staatsmacht an der Spitze, die sich bewusst die grandiose Aufgabe gestellt hat" (Hm, hm!?), „das durch den Krieg und das zaristische Regime zerstörte Land zu retten."

Abgesehen von dem letzten Satz, von den von uns unterstrichenen Worten ab, wo mit echt kleinbürgerlichem Vertrauen den Kapitalisten Aufgaben „gestellt" werden, die sie nicht erfüllen können, abgesehen von diesem Satz ist das Programm ausgezeichnet. Sowohl die Kontrolle wie die Verstaatlichung der Trusts, die Bekämpfung der Spekulation und die Arbeitspflicht, – wodurch unterscheidet sich das eigentlich von dem „schrecklichen" Bolschewismus? Was wollten denn die „schrecklichen" Bolschewiki mehr?

Das ist des Pudels Kern, das ist das Wesentliche, das, was die Kleinbürger und Philister aller Schattierungen durchaus nicht einsehen wollen: man ist genötigt, das Programm des „schrecklichen" Bolschewismus anzunehmen, denn ein anderes Programm, das einen Ausweg aus der tatsächlich drohenden, tatsächlich schrecklichen Katastrophe bietet, kann es nicht geben, aber… aber die Kapitalisten „nehmen" dieses Programm an (siehe den berühmten § 3 der Erklärung der „neuen" Provisorischen Regierung3), mit der Absicht, es nicht durchzuführen. Und die Narodniki und Menschewiki „vertrauen" den Kapitalisten und suchen dem Volk dieses verderbliche Vertrauen beizubringen. Das ist der springende Punkt der ganzen politischen Lage.

Die Kontrolle der Trusts, mit Veröffentlichung ihrer vollständigen Rechenschaftsberichte, mit sofortigen Kongressen der Angestellten der Trusts, mit obligatorischer Teilnahme der Arbeiter selbst an der Kontrolle, mit Zulassung von Vertretern jeder großen politischen Partei zur selbständigen Kontrolle, das alles lässt sich durch ein Dekret herbeiführen, zu dessen Abfassung ein einziger Tag genügt.

Was hindert euch daran, Bürger Schingarjow, Tereschtschenko, Konowalow? Was hindert euch daran, Bürger Tschernow, Zeretelli, ihr beinahe sozialistischen Minister? Was hindert euch daran, Bürger Narodniki und Menschewiki, die ihr die Führung im Exekutivkomitee des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten habt?

Etwas anderes als die sofortige Einführung einer derartigen Kontrolle über die Trusts, die Banken, den Handel, die „Schmarotzer" (ausnahmsweise ist den Redakteuren der „Iswestija" ein vortreffliches Wort unter die Feder gekommen …) die Lebensmittelversorgung haben wir nicht vorgeschlagen, etwas anderes könnte überhaupt niemand vorschlagen. Etwas anderes, als die „schöpferische Kraftanspannung des gesamten Volkes" lässt sich gar nicht ausdenken …

Nur darf man den Worten der Kapitalisten keinen Glauben schenken, man darf sich der naiven (bestenfalls naiven) Hoffnung der Menschewiki und Narodniki, dass die Kapitalisten eine derartige Kontrolle durchführen könnten, nicht hingeben.

Der wirtschaftliche Zerfall droht. Die Katastrophe naht. Die Kapitalisten stürzten und stürzen alle Länder ins Verderben. Es gibt nur eine Rettung: revolutionäre Disziplin, revolutionäre Maßregeln der revolutionären Klasse, der Proletarier und Halbproletarier, Übernahme der gesamten Staatsmacht durch diese Klasse, denn nur sie kann eine solche Kontrolle wirklich einführen, nur sie kann wirklich eine erfolgreiche „Bekämpfung des Schmarotzertums" durchführen.

1 Der Artikel „Was will die neue Provisorische Regierung?", abgedruckt in der „Iswestija" Nr. 63 vom 24. (11.) Mai 1917, bildete die Fortsetzung einer Artikelserie, die der Deklaration der Provisorischen Regierung vom 19. (6.) Mai gewidmet war, und beschäftigte sich mit Fragen des Wirtschaftslebens. Der Artikelschreiber stellte darin die außerordentlich schwierige Wirtschaftslage des Landes fest. In dem Artikel hieß es u. a.: „Die wirtschaftlichen Kräfte des Landes sind stark untergraben In der Landwirtschaft, die die Grundlage des ganzen Wirtschaftslebens des Landes bildet, ist eine heftige Krise ausgebrochen, die Russland mit der Hungersnot bedroht … Die Folge des planlosen Kohlenabbaus ist, dass ein großer Teil der Kohlengruben sich im Zustande der völligen Zerrüttung befindet … Die Metallindustrie ist zerrüttet … Die Maschinen werden jeden Tag mehr abgenutzt, sie können aber nicht ersetzt werden Es wird weniger an Produkten erzeugt, als zur Deckung der laufenden Bedürfnisse notwendig ist … Noch schlimmer steht es mit dem Austausch und dem Handel; hier herrscht ein vollständiges Chaos die Preise springen mit unaufhaltsamer Schnelligkeit in die Höhe Die Arbeiter hungern, die Bauern werden ruiniert, daneben aber entstehen ungeheure Reichtümer in den Händen der Kapitalisten." Die Provisorische Regierung habe jedoch, wie der Artikelschreiber meint, den Willen und die Kraft, aller dieser Nöte Herr zu werden, der Beweis dafür sei der Punkt 3 der Deklaration der Provisorischen Regierung und ihr Versprechen einer staatlichen und gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion und des Austausches, dazu sei aber „die Unterstützung der gesamten Demokratie, die der Regierung ihre Mitwirkung zugesagt habe, notwendig".

2 Die „Resolution der ökonomischen Abteilung des Petrograder Rates", abgedruckt in der „Iswestija" Nr. 63 vom 24. (11.) Mai 1917, konstatiert den Zerfall der Volkswirtschaft und hält die Lage für katastrophal, zumal bei der „gegenwärtigen Haltung der Staatsmacht". Die Erfüllung der Aufgabe der Normalisierung der Wirtschaft „muss auf zwei parallel laufenden Wegen vor sich gehen: a) durch Schaffung von Organen, die die Wirtschaftslage in ihrer Gesamtheit festzustellen haben, und b) durch Schaffung von Exekutivorganen, die die planmäßige Regulierung des wirtschaftlichen Lebens durchzuführen haben … Der Zeitpunkt ist gekommen, wo man von der anarchischen Produktion und den privaten Syndikaten übergehen muss zur Arbeit des volkswirtschaftlichen Organismus unter … Leitung des Staates … Die Aufgabe der entsprechenden Organisationen muss sein die größtmöglichste Ausnutzung der vorhandenen Produktivkräfte in den wichtigsten Industriezweigen und ihre weitere Entwicklung … Das Land befindet sich bereits mitten in der Katastrophe, einen Ausweg aus dieser Katastrophe bietet nur die schöpferische Kraftanspannung des gesamten Volkes, mit einer Staatsmacht an der Spitze, die sich bewusst die grandiose Aufgabe gestellt hat, das durch den Krieg und das zaristische Regime zerstörte Land zu retten."

3 Die Deklaration der Koalitionsregierung vom 19. (6.) Mai 1917 verkündete die „Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit", versprach die „schnellste Herbeiführung eines allgemeinen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in vollem Einvernehmen mit den Verbündeten"; zu diesem Zweck stellte sie in den Vordergrund die „Festigung der Grundsätze der Demokratisierung der Armee, die Organisation und die Stärkung ihrer Kampfkraft sowohl in Verteidigungs- wie in Angriffsaktionen". Hinsichtlich der inneren wirtschaftlichen Aufgaben und der Bekämpfung der wirtschaftlichen Zerrüttung verkündete die Deklaration: „§ 3. Die Provisorische Regierung wird unentwegt und entschlossen gegen die wirtschaftliche Zerrüttung des Landes kämpfen durch weitere planmäßige Durchführung einer staatlichen und gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion, des Transports, des Austausches und der Verteilung der Produkte und wird nötigenfalls die Organisation der Produktion in die Hand nehmen".

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