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Wladimir I. Lenin 19170925 Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen

Wladimir I. Lenin: Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen1

Brief an das Zentralkomitee, an das Petrograder und das Moskauer Komitee der SDAPR

[Geschrieben am 25.-27. (12.–14.) September 1917. Zum ersten Mal veröffentlicht 1921 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 243-245]

Nachdem jetzt die Bolschewiki in beiden hauptstädtischen Arbeiter- und Soldatendeputiertenräten die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.

Sie können es, denn die aktive Mehrheit der revolutionären Elemente der Bevölkerung beider Hauptstädte reicht aus, um die Massen mitzureißen, den Widerstand des Gegners zu überwinden, ihn selbst zu schlagen, die Macht zu erobern und zu halten. Denn wenn sie sofort einen demokratischen Frieden vorschlagen, das Land sofort den Bauern geben, die von Kerenski beschnittenen oder zerschlagenen demokratischen Einrichtungen und Freiheiten wiederherstellen, werden die Bolschewiki eine Regierung bilden, die niemand stürzen kann.

Die Mehrheit des Volkes ist für uns. Das hat der lange und schwere Weg vom 6. Mai bis zum 31. August und 12. September bewiesen: die Mehrheit in den hauptstädtischen Räten ist die Frucht der Entwicklung des Volkes nach unserer Seite hin. Die Schwankungen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, das Erstarken der Internationalisten unter ihnen beweisen, dasselbe.

Die Demokratische Beratung vertritt nicht die Mehrheit des revolutionären Volkes, sondern nur die kompromisslerischen, kleinbürgerlichen Oberschichten. Man darf sich nicht durch Wahlziffern irreführen lassen. Nicht auf die Wahlen kommt es an: man vergleiche die Kommunalwahlen in Petrograd und Moskau und die Wahlen zu den Räten. Man vergleiche die Moskauer Wahlen und den Moskauer Streik vom 12. August: das sind die objektiven Daten über die Mehrheit der revolutionären Elemente, die die Massen führen.

Die Demokratische Beratung betrügt die Bauern, gibt ihnen weder Frieden noch Land.

Die bolschewistische Regierung allein wird die Bauern zufriedenstellen.

Warum müssen die Bolschewiki gerade jetzt die Macht ergreifen?

Weil die bevorstehende Übergabe Petrograds unsere Chancen hundertfach verschlechtert.

Die Übergabe Petrograds können wir aber, wenn Kerenski und Co. an der Spitze der Armee stehen, nicht verhindern.

Auch die Konstituante kann man nicht „abwarten", denn durch dieselbe Übergabe Petrograds können Kerenski und Co. die Konstituante zu beliebiger Zeit auffliegen lassen. Nur unsere Partei kann, nachdem sie die Macht ergriffen hat, die Einberufung der Konstituante gewährleisten und wird, nachdem sie die Macht ergriffen hat, gegen die anderen Parteien wegen der Verzögerung Anklage erheben und die Richtigkeit der Anklage beweisen.

Einen Separatfrieden zwischen den englischen und deutschen Imperialisten soll und kann man verhindern, aber nur durch rasches Handeln.2

Das Volk ist durch die Schwankungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre ermüdet. Nur unser Sieg in den Hauptstädten wird die Bauern so mitreißen, dass sie uns folgen.

Es handelt sich nicht um den „Tag" des Aufstands, nicht um seinen „Augenblick" im engen Sinne. Das wird die gemeinsame Stimme derjenigen entscheiden, die mit den Arbeitern und Soldaten, mit den Massen in Berührung stehen.

Es handelt sich darum, dass unsere Partei jetzt auf der Demokratischen Beratung faktisch ihre eigene Tagung abhält, und diese muss (ob sie will oder nicht, sie muss) das Schicksal der Revolution entscheiden.

Es handelt sich darum, der Partei die Aufgabe klar zu machen, den bewaffneten Aufstand in Petrograd und Moskau (mit Provinz), die Eroberung der Macht, den Sturz der Regierung auf die Tagesordnung zu stellen. Man muss überlegen, wie dafür agitiert werden kann, ohne das in der Presse zum Ausdruck zu bringen.

DieWorte von Marx über den Aufstand: „Der Aufstand ist eine Kunst" usw. ins Gedächtnis rufen und durchdenken.

Es wäre naiv, eine „formelle" Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten. Keine Revolution wartet das ab. Auch Kerenski und Co. warten nicht, sie bereiten die Auslieferung Petrograds vor. Gerade die kläglichen Schwankungen der Demokratischen Beratung müssen und werden die Geduld der Arbeiter Petrograds und Moskaus zum Reißen bringen! Die Geschichte wird uns nicht verzeihen, wenn wir die Macht jetzt nicht ergreifen.

Wir haben keinen Apparat? Der Apparat ist da: die Räte und die demokratischen Organisationen. Die internationale Lage ist gerade jetzt am Vorabend des Separatfriedens zwischen England und Deutschland für uns. Gerade jetzt den Völkern den Frieden anbieten, heißt siegen.

Die Macht muss in Moskau und in Petrograd gleichzeitig ergriffen werden (es ist gleichgültig, wer beginnt; vielleicht kann sogar Moskau den Anfang machen). Wir werden unbedingt und ohne Zweifel siegen.

N. Lenin.

1 Die Briefe Lenins „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen" und „Marxismus und Aufstand" wurden in der Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki am 28. (15.) September 1917 erörtert. Das Protokoll der Sitzung enthält folgende Notiz: „Tagesordnung. Briefe Lenins. Es wird beschlossen, in der nächsten Zeit eine Zentralkomiteesitzung zu veranstalten, die der Erörterung taktischer Fragen gewidmet werden soll. Genosse Stalin schlägt vor, die Briefe an die wichtigsten Organisationen zu senden und diese aufzufordern, sie zu besprechen. Es wird beschlossen, diesen Vorschlag in der nächsten Zentralkomiteesitzung zu erörtern. Es wird abgestimmt über die Frage, ob die Briefe nur in einem Exemplar aufgehoben werden sollen. Dafür stimmen sechs, dagegen vier, sechs enthalten sich der Stimme. Genosse Kamenew schlägt vor, folgende Resolution anzunehmen: ,Nach Erörterung der Briefe Lenins beschließt das ZK, die darin enthaltenen praktischen Vorschläge abzulehnen. Das ZK fordert alle Organisationen auf, nur den Anordnungen des ZK zu folgen, und wiederholt noch einmal, dass es alle Straßenaktionen in diesem Augenblick für unzulässig hält. Gleichzeitig wendet sich das ZK an den Genossen Lenin mit der Aufforderung, die in seinen Briefen gestellte Frage der Beurteilung der aktuellen Lage und der Politik der Partei in einer besonderen Broschüre auseinanderzusetzen.' Die Resolution wird abgelehnt. Zum Schluss wird folgende Entschließung angenommen: ,Die Mitglieder des ZK, die in der Militärischen Organisation und im Petrograder Komitee arbeiten, werden beauftragt, Maßnahmen zur Verhinderung irgendwelcher Aktionen in den Kasernen und Betrieben zu ergreifen'" („Protokolle der Sitzungen des Zentralkomitees der SDAPR", „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 10 [69], 1927).

In dieser Sitzung zeigten sich zum ersten Mal sehr scharf die Meinungsverschiedenheiten im Zentralkomitee in der Frage des bewaffneten Aufstandes. Diese Meinungsverschiedenheiten führten Ende Oktober zu einer offenen Spaltung zwischen Kamenew und Sinowjew einerseits und Lenin und der ZK-Mehrheit anderseits, nach dem Oktoberaufstand – zum demonstrativem Austritt Sinowjews und Kamenews aus dem ZK und eines Teiles der Volkskommissare aus dem Rat der Volkskommissare.

2 Im Sommer 1917 hatten die deutschen Truppen an der Westfront einige Erfolge zu verzeichnen, und die deutschen Unterseeboote blockierten mit Erfolg die Britischen Inseln, so dass der Boden für einen Sonderfrieden verschiedener Mächte, besonders zwischen England und Deutschland, auf Kosten Russlands vorhanden war. Die Diplomaten sondierten bereits den Boden für eine Verständigung. Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg und die nach Frankreich geworfenen amerikanischen Bataillone veränderten das Kräfteverhältnis und sicherten im Jahre 1918 der Entente den Sieg.

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