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Wladimir I. Lenin 19170523 Die Geheimnisse der Außenpolitik

Wladimir I. Lenin: Die Geheimnisse der Außenpolitik1

[„Prawda" Nr. 53, 23. (10.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 470-473]

Wie schade, dass die Volksmassen weder Bücher über die Geschichte der Diplomatie noch die Leitartikel der kapitalistischen Zeitungen lesen können! Und noch bedauerlicher ist es – dieses Wort ist übrigens in diesem Falle zu milde –, dass die Minister aus den Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki nebst ihren ministrablen Kollegen die ihnen aus dieser Geschichte wohlbekannten Tatsachen sowie die ihnen wohl bekannten Artikel der „großen Männer" der diplomatischen Welt mit Schweigen übergehen.

Die „Rjetsch" bringt eine ihrer Meinung nach glaubwürdige Mitteilung aus der „Birschowka", deren wahrer Sinn darin besteht, dass England gar nicht abgeneigt sei, auf die „Zerstückelung der Türkei und die Aufteilung Österreich-Ungarns" zu verzichten; d. h. England sei damit einverstanden, dass Russland die ihm auf Grund früherer Verträge versprochenen Annexionen (Konstantinopel, Armenien, Galizien) nicht erhalte. In diesem und nur in diesem Sinne sei England bereit, die Verträge einer Revision zu unterziehen.

Und die „Rjetsch" entrüstet sich:

Das ist also das erste Resultat des Sieges der neuen Losung" (d. h. der Losung: Frieden ohne Annexionen und Kontributionen). „Die Revision der Verträge wird wahrscheinlich zustande kommen: die ,vorbereitenden Schritte' dazu werden jetzt nicht einmal von uns, sondern von unseren Verbündeten getan. Aber das Ergebnis der Revision wird nicht der gleichmäßige" (hört! hört!) „Verzicht auf alle ernsten Aufgaben sein, die von allen Verbündeten gestellt wurden, sondern ein einseitiger" (ist das nicht eine Perle?) „Verzicht auf die Aufgaben, die im Südosten Europas gestellt wurden" (lies: in Österreich und in der Türkei, d. h. der Raub Armeniens, Konstantinopels, Galiziens) „um der Aufgaben willen, die schon nicht mehr wir, sondern unsere Verbündeten an anderen Stellen und in den Kolonien gestellt haben.

Insbesondere war in der Presse bereits die Rede von der Möglichkeit eines Verzichts unserer Verbündeten auf die in Kleinasien gestellten Aufgaben. Allerdings sind die hierüber angeblich von Albert Thomas im Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten abgegebenen und von der Moskauer Presse verbreiteten Erklärungen bisher amtlich nicht bestätigt worden. Was aber England anbelangt, so könnte man einen solchen Verzicht schwerlich erwarten. England vertritt den richtigen Standpunkt, dass man das, was man bekommen will, vorher besetzen müsse" (hört! hört!) – „und es besetzt bereits mit seinen Truppen die Gebiete Mesopotamiens und Palästinas, die für seine Lebensinteressen" (lies: für die englischen Kapitalisten) „wichtig sind. Unter diesen Umständen würde der Verzicht Englands, für die Befriedigung der Lebensinteressen der anderen" (gesperrt von der „Rjetsch") „Verbündeten auf diesem Gebiet zu kämpfen, natürlich auch einen einseitigen Charakter tragen, der nur für England selbst vorteilhaft ist."

Wahrhaftig, man sollte Miljukow bzw. dem andern Verfasser dieser Zeilen noch bei Lebzeiten ein Denkmal setzen für seine Offenherzigkeit. Bravo, bravo, die Diplomaten aus der „Rjetsch" sind offenherzig! Warum aber sind sie es? Weil sie wütend darüber sind, dass Miljukow seinen Ministerposten verloren hat…

Alles, was in dem angeführten Zitat gesagt ist, ist eine Wahrheit, die bestätigt wird von der ganzen Geschichte der Diplomatie und von der Geschichte der Kapitalinvestierungen im Ausland in den letzten Jahren. England wird in keinem Falle auf den Raub (Annexion) Palästinas und Mesopotamiens verzichten, aber es ist bereit, die Russen zu bestrafen (für den „faktischen Waffenstillstand" an der deutsch-russischen Front) durch den Verlust Galiziens, Konstantinopels, Armeniens usw. – das ist der einfache und klare, nicht in diplomatischer, sondern in russischer Sprache dargelegte Sinn der angeführten Stellen aus der „Rjetsch".

Und die russischen Kapitalisten, deren Sprachrohr die „Rjetsch" ist, können ihre Wut nur schwer zurückhalten, sie plaudern die Geheimnisse der Außenpolitik aus, geifern und poltern und sagen den englischen Kapitalisten Anzüglichkeiten: es sei „einseitig", für sie sei es „vorteilhaft", für andere aber nicht.

Genossen Arbeiter und Soldaten! Denkt euch in diese selten offenherzigen, wahrheitsgemäßen Erklärungen der vieles wissenden Diplomaten und der ehemaligen Minister aus der „Rjetsch" hinein. Denkt euch in diese vortreffliche Enthüllung der wahren Ziele des Krieges nicht nur der russischen, sondern auch der englischen Kapitalisten hinein.

Genossen russische Soldaten! Wollt ihr dafür kämpfen, dass die englischen Kapitalisten Mesopotamien und Palästina rauben? Wollt ihr die russische Regierung der Lwow, Tschernow, Tereschtschenko, Zeretelli unterstützen, die an die Interessen der Kapitalisten gekettet ist und die Angst hat, offen die Wahrheit zu sagen, die die „Rjetsch" ausplaudert?

1 Dieser Aufsatz Lenins ist eine Antwort auf einen Artikel, überschrieben Geheimnisse der Außenpolitik" in der „Rjetsch" Nr. 107 vom 22 (9.) Mai 1917. Darin wurde etwa folgendes ausgeführt: Die Annahme des Punktes über den Verzicht auf Annexionen durch die Provisorische Regierung habe unsere Verbündeten veranlasst, erneut zur Frage der Kriegsziele Stellung zu nehmen. England sei nach den Informationen des Artikelschreibers zu einem Kompromiss bereit, um den Frieden herbeizuführen. England könne auf die Lösung der elsass-lothringischen, der tschechischen, der polnischen Frage usw. verzichten. Es würde gern auf die russischen Forderungen in Bezug auf die Meerengen und Konstantinopel verzichten, aber niemals auf Mesopotamien und Palästina, die durch Waffengewalt erobert worden sind. Eine derartige Fragestellung sei für Russland jedoch äußerst nachteilig und beweise die Sinnlosigkeit der von den Sozialisten aufgestellten Losung des Verzichts auf Annexionen. Es sei endlich notwendig, die russische Armee zur Offensive zu führen, wobei man ihr sagen müsse, dass sie nicht für die Interessen der Alliierten, sondern vor allem für die russischen Interessen kämpfe.

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