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Wladimir I. Lenin 19170519 Die Hauptsache vergessen!

Wladimir I. Lenin: Die Hauptsache vergessen!

Das Kommunalprogramm der Partei des Proletariats

[„Prawda" Nr. 49, 18. (5.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 443-447]

Anlässlich der bevorstehenden Wahlen zu den Bezirksdumas sind die beiden kleinbürgerlichen demokratischen Parteien, die Narodniki und Menschewiki mit bombastischen Programmen hervorgetreten. Diese Programme sind von genau derselben Art, wie die der europäischen bürgerlichen Parteien, die es auf den Fang leichtgläubiger und unentwickelter Wählermassen aus den Reihen der Kleinbürger usw. abgesehen haben, wie z. B. die „radikale" und die „radikal-sozialistische" Partei in Frankreich.

Dieselben bombastischen Phrasen, dieselben großartigen Versprechungen, dieselben verschwommenen Formulierungen, dasselbe Verschweigen oder Vergessen der Hauptsache, nämlich der realen Bedingungen für die Verwirklichung dieser Versprechungen.

Diese realen Bedingungen sind gegenwärtig folgende: 1. der imperialistische Krieg; 2. das Bestehen einer Kapitalistenregierung; 3. die Unmöglichkeit ernsthafter Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und aller werktätigen Massen ohne einen revolutionären Eingriff in das „heilige Privateigentum der Kapitalisten"; 4. die Unmöglichkeit der Verwirklichung der von diesen Parteien versprochenen Reformen bei Fortbestehen des alten Verwaltungsapparates und seiner Organe, bei Fortbestehen der Polizei, die nicht umhin kann, den Kapitalisten Vorschub zu leisten, die nicht umhin kann, der Verwirklichung dieser Reformen tausend Hindernisse in den Weg zu legen.

Nehmen wir ein Beispiel: … „Festsetzung einer Norm der Wohnungsmieten für die Dauer des Krieges", … „Requirierung solcher Vorräte" (nämlich der Lebensmittel Vorräte sowohl in den Handelshäusern als auch bei Privatpersonen) „für die Bedürfnisse der Allgemeinheit", … „Organisierung von öffentlichen Verkaufsstellen, Bäckereien, Speisehallen und Küchen" – schreiben die Menschewiki; … „gebührende Sorge für sanitäre Maßnahmen und Hygiene" – sekundieren die Narodniki (Soz.-Rev.).

Sicherlich ausgezeichnete Wünsche, der Haken ist nur, dass man sie nicht verwirklichen kann, wenn man nicht Schluss macht mit der Unterstützung des imperialistischen Krieges, mit der Unterstützung der Anleihe (die für die Kapitalisten vorteilhaft ist), mit der Unterstützung der Kapitalistenregierung, die die Kapitalprofite schützt, wenn man nicht die Polizei abschafft, die jede dieser Reformen hemmen, sabotieren und zunichte machen wird, selbst wenn die Regierung und die Kapitalisten den Reformatoren kein Ultimatum stellten (sie werden aber unbedingt ein Ultimatum stellen, sobald es um die Profite des Kapitals geht).

Das ist es ja eben, dass alle derartigen Programme, alle derartigen Aufzählungen großspuriger Reformen, wenn man die harten und grausamen Bedingungen der Kapitalsherrschaft außer acht lässt, leere Worte sind, die in der Praxis entweder harmlose „fromme Wünsche" bedeuten oder den bloßen Betrug der Massen durch gewöhnliche bürgerliche Politikaster.

Man soll der Wahrheit ins Auge schauen. Man darf nichts vertuschen, man muss dem Volke reinen Wein einschenken. Man darf den Klassenkampf nicht verschleiern, sondern man muss seinen Zusammenhang mit den wohlklingenden, netten, entzückenden, „radikalen" Reformen aufdecken.

Genossen Arbeiter und Bürger Petrograds! Um die dem Volke notwendigen, dringenden, unaufschiebbaren Reformen, von denen die Narodniki und Menschewiki sprechen, durchführen zu können, muss man mit der Unterstützung des imperialistischen Krieges und der Anleihen, mit der Unterstützung der Kapitalistenregierung, mit dem Grundsatz der Unantastbarkeit der Gewinne des Kapitals brechen. Um diese Reformen durchzuführen, muss man die Wiederherstellung der Polizei, die gegenwärtig von den Kadetten betrieben wird, verhindern und sie durch eine allgemeine Volksmiliz ersetzen. Das muss die Partei des Proletariats dem Volke bei den Wahlen sagen, sie muss es sagen gegen die kleinbürgerlichen Parteien der Narodniki und Menschewiki. Darin besteht das von ihnen vertuschte Wesen des proletarischen „Kommunalprogramms".

An die Spitze dieses ganzen Programms, an die Spitze der Liste der Reformen gehören als Grundbedingung ihrer wirklichen Durchführung drei fundamentale Hauptpunkte:

1. Keine Unterstützung des imperialistischen Krieges (weder in der Form einer Unterstützung der Anleihe noch überhaupt in irgendeiner Form).

2. Keine Unterstützung der Regierung der Kapitalisten.

3. Verhinderung der Wiederherstellung der Polizei. Ihre Ersetzung durch eine allgemeine Volksmiliz.

Wenn man nicht die Aufmerksamkeit in erster Linie auf diese Kardinalfragen konzentriert, wenn man nicht klarstellt, dass sie die Voraussetzung aller kommunalen Reformen bilden, so muss sich das Kommunalprogramm unvermeidlich (bestenfalls) in einen frommen Wunsch verwandeln.

Verweilen wir beim dritten Punkt.

In allen bürgerlichen Republiken, selbst in den allerdemokratischsten, ist die Polizei (ebenso wie das stehende Heer) das Hauptwerkzeug zur Unterdrückung der Massen und eine Voraussetzung stets möglicher Rückbildungen zur Monarchie.

Die Polizei prügelt das „gemeine Volk" sowohl in New York als auch in Genf und Paris; sie begünstigt die Kapitalisten entweder, weil sie sich direkt bestechen lässt (wie in Amerika usw.), oder dank einem System der „Vetternwirtschaft" und der „Fürsprache" reicher Leute (Schweiz), oder vermittels beider Systeme (Frankreich) . Da die Polizei vom Volke getrennt ist, eine besondere Berufskaste bildet, sich aus Leuten rekrutiert, die zur Gewaltanwendung gegen die ärmere Bevölkerung „abgerichtet" werden, die (von den unlauteren Einkünften ganz zu schweigen) einen etwas höheren Lohn erhalten und die Vorrechte der „Macht" genießen, so bleibt sie in allen demokratischen Republiken unter der Herrschaft der Bourgeoisie unvermeidlich ihr treuestes Werkzeug. Ernsthafte und radikale Reformen zugunsten der werktätigen Massen können nicht mit Hilfe der Polizei durchgeführt werden. Das ist objektiv unmöglich.

Eine allgemeine Volksmiliz an Stelle der Polizei und des stehenden Heeres – das ist die Bedingung für erfolgreiche Kommunalreformen zugunsten der Werktätigen. In revolutionären Zeiten lässt sich diese Bedingung verwirklichen. Hierauf muss sich das ganze Kommunalprogramm in erster Linie konzentrieren, denn die anderen zwei Grundbedingungen betreffen nicht nur die kommunale sondern auch die allgemeine Staatspolitik.

Wie man an die Schaffung einer allgemeinen Volksmiliz herangeht, das ist Sache der Praxis. Damit die Proletarier und Halbproletarier daran teilnehmen können, müssen die Unternehmer gezwungen werden, den Arbeitern den Arbeitslohn für alle Tage und Stunden zu bezahlen, die sie in der Miliz Dienst tun. Das ist durchführbar.

Eine weitere Frage ist: soll man zunächst, gestützt auf die Arbeiter der Großbetriebe, d. h. auf die am besten organisierten und für diese Aufgabe geeignetsten Arbeiter, eine Arbeitermiliz organisieren, oder soll man mit einem Schlag die allgemeine Dienstpflicht in der Miliz für alle erwachsenen Männer und Frauen mit ein- oder zweiwöchiger Dienstzeit im Jahr einführen usw. Diese Frage ist nicht von prinzipieller Bedeutung. Wenn die verschiedenen Bezirke in verschiedener Weise an die Sache herangehen, so ist das kein Unglück. Die Erfahrung wird um so reicher sein, die Bildung der Miliz wird glatter verlaufen und den praktischen Bedürfnissen besser angepasst sein.

Allgemeine Volksmiliz – das bedeutet die wirkliche Erziehung der Massen der Bevölkerung zur Demokratie.

Allgemeine Volksmiliz – das bedeutet, dass nicht allein die Reichen und ihre Polizei über die Armen regieren, sondern dass sich das Volk selbst verwaltet, unter dem überwiegenden Einfluss der Armen.

Allgemeine Volksmiliz – das bedeutet, dass die Kontrolle (der Fabriken, der Wohnungen, der Verteilung der Produkte usw.) nicht auf dem Papier zu bleiben braucht.

Allgemeine Volksmiliz – das bedeutet, dass die Brotverteilung ohne „Polonaisen", ohne irgendwelche Vorrechte für die Reichen vor sich gehen wird.

Allgemeine Volksmiliz – das bedeutet, dass eine ganze Reihe von ernsten und radikalen Reformen, die auch von den Narodniki und Menschewiki aufgezählt werden, kein frommer Wunsch bleiben wird.

Genossen Arbeiter und Arbeiterinnen von Petrograd! Geht alle zur Wahl zu den Bezirksdumas! Tretet ein für die Interessen der armen Bevölkerung! Gegen den imperialistischen Krieg, gegen die Unterstützung der Regierung der Kapitalisten, gegen die Wiederherstellung der Polizei, für ihre sofortige und unbedingte Ersetzung durch die allgemeine Volksmiliz!

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