Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170624 Die in Verwirrung Geratenen und Verschüchterten

Wladimir I. Lenin: Die in Verwirrung Geratenen und Verschüchterten

[„Prawda" Nr. 79, 24. (11.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 167-169]

In Petrograd herrscht jetzt eine Atmosphäre der Angst und Verschüchterung, die ein geradezu unerhörtes Ausmaß annimmt.

Ein kleiner Vorfall illustrierte dies, noch ehe der große Fall mit dem Verbot der von unserer Partei für Sonnabend angesagten Demonstration sich ereignet hatte.1

Der kleine Vorfall betraf die Besetzung der Villa Durnowo2: Der Minister Perewersew ordnete zunächst an, die Villa Durnowo zu räumen, erklärte aber später auf dem Kongress, dass er den zur Villa gehörenden Garten dem Volke überlasse, und dass auch die Gewerkschaften aus der besagten Villa Durnowo gar nicht exmittiert werden würden. Es sollten lediglich einige Anarchisten verhaftet werden.

War die Besetzung der Villa Durnowo ungesetzlich, so durften weder der Garten dem Volke überlassen noch die Gewerkschaften in der Villa belassen werden. Lag ein gesetzlicher Grund zur Verhaftung vor, so hat die Verhaftung von Personen nichts mit der Villa zu schaffen, diese Verhaftung könnte erfolgen, ob in oder außerhalb der Villa. Das Resultat ist, dass weder die Villa „befreit" noch eine Verhaftung erfolgt ist. Die Regierung hat sich in die Lage von Menschen hineinmontiert, die in ihrer Angst sich nicht mehr zurechtfinden. Wären diese Leute nicht nervös geworden, so gäbe es auch keinen „Zwischenfall", denn alles ist ja doch beim Alten geblieben.

Der große Fall ist der mit der Demonstration. Das ZK unserer Partei beschließt mit einer ganzen Reihe anderer Organisationen, darunter auch dem Vorstand der Gewerkschaften, eine friedliche Demonstration, einen Umzug durch die Straßen der Hauptstadt zu veranstalten. In jedem konstitutionellen Lande ist die Veranstaltung solcher Demonstrationen das unbestrittenste Recht der Bürger. In keinem einzigen freien Lande erblickt die Gesetzgebung etwas Ungesetzliches in einer friedlichen Straßendemonstration, selbst mit der Losung der Abänderung der Verfassung oder einer Änderung in der Zusammensetzung der Regierung.

Die in Verwirrung geratenen und eingeschüchterten Leute, und besonders die Mehrheit des Rätekongresses, machen aus dieser Demonstration aber eine unglaubliche „Geschichte". Die Mehrheit des Rätekongresses fasst eine geharnischte Resolution voll schärfster Ausdrücke gegen unsere Partei, und verbietet alle, auch friedliche Demonstrationen, auf drei Tage.

Nachdem ein solcher formeller Beschluss gefasst worden war, beschloss das ZK unserer Partei bereits um 2 Uhr in der Nacht zum Freitag, die Demonstration abzusagen. Am Sonnabend morgen wird in einer eiligst einberufenen Konferenz mit den Vertretern der Bezirke diese Absage der Demonstration durchgeführt.

Es bleibt die Frage, wie unsere zweite „Regierung", der Rätekongress, das Verbot erklären will. Natürlich hat in einem freien Lande jede Partei das Recht, Demonstrationen zu veranstalten, und jede Regierung kann durch Verhängung des Ausnahmezustandes dieselben verbieten, doch bleibt die politische Frage: warum ist die Demonstration verboten worden?

Hier der einzige politische Grund, der in der Resolution des Rätekongresses klar ausgesprochen wird:

„… Es ist uns bekannt, dass die im Hintergrund lauernden Konterrevolutionäre eure (d. h. die von unserer Partei unternommene) Aktion ausnützen wollen…"

Das also ist der Grund für das Verbot der friedlichen Demonstration. Dem Rätekongress „ist bekannt", dass es „im Hintergrund lauernde Konterrevolutionäre" gibt und dass sie gerade die Aktion, die unsere Partei plante, „ausnützen" wollten.

Das ist eine äußerst wichtige Erklärung des Rätekongresses. Und diese tatsächliche Erklärung, die sich durch ihre Konkretheit aus der Flut der gegen uns gerichteten Schimpfworte abhebt, muss immer wieder unterstrichen werden. Welche Maßnahmen ergreift unsere zweite Regierung gegen die „im Hintergrund lauernden Konterrevolutionäre"? Was ist dieser Regierung „bekannt"? Wie wollten die Konterrevolutionäre diesen oder jenen Anlass ausnützen?

Das Volk kann und wird nicht geduldig und untätig warten, bis diese im Hintergrund lauernde Konterrevolution hervortritt.

Wenn unsere zweite Regierung nicht in der Lage von Leuten bleiben will, die durch Verbote und Geschimpfe zu verdecken suchen, dass sie in Verwirrung geraten sind und sich von rechts haben einschüchtern lassen, so wird sie dem Volke über die „im Hintergrund lauernden Konterrevolutionäre" gar manches sagen und zur ernsten Bekämpfung derselben vieles tun müssen.

1 Das Zentralkomitee der Bolschewiki hatte für den 23. (10.) Juni 1917 eine Demonstration in Petrograd angekündigt unter den Losungen: „Nieder mit den kapitalistischen Ministern", „Alle Macht den Räten". In den proletarischen und Soldatenmassen von Petrograd herrschte große Empörung gegen die Provisorische Regierung, die den Krieg in die Länge zog und sich weigerte, den dringlichsten Bedürfnissen der Massen abzuhelfen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die der Regierung angehörten und auf dem Rätekongress die Mehrheit hatten, die nun sahen, dass die Stimmung der Massen für die Bolschewiki umzuschlagen begann, erließen unter dem Vorwand, dass ein konterrevolutionärer Putsch drohe, ein Verbot der Demonstration, und entsandten in der Nacht zum 23. (10.) Juni Kongressdelegierte in die Fabriken, um gegen die Demonstration zu agitieren. Das Auftreten der Delegierten fand jedoch bei den Arbeitern keinen Anklang, sie wurden von den Arbeitern feindselig empfangen. Das Zentralkomitee beschloss um 2 Uhr nachts, nachdem es von dem Verbot der Demonstration durch den Rätekongress Kenntnis erlangt hatte, die Demonstration abzusagen und ließ in der „Prawda" diesen Beschluss bekannt machen (siehe auch Anm. 54).

2 Die Villa des früheren zaristischen Würdenträgers Durnowo wurde in den Februartagen von Anarchisten und einigen Arbeiterorganisationen besetzt, ähnlich wie das Palais der Kschessinskaja. Die Besitzer drangen auf Räumung der Villa. Der Justizminister Perewersew machte einige erfolglose Versuche, die „Usurpatoren" der Villa mit militärischer Gewalt heraus zu setzen. Unter dem Vorwand, dass sich unter den Anarchisten kriminelle Verbrecher verstecken, unternahm der Justizminister in der Nacht zum 2. Juli (19. Juni) einen erneuten bewaffneten Streifzug gegen die Villa; das Resultat war, dass zwei Anarchisten getötet, die Räume demoliert wurden und das Haus zerstört wurde. Der Überfall der Regierung versetzte das ganze Petrograder Proletariat in große Aufregung.

Kommentare