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Wladimir I. Lenin 19170710 Die Klassenverschiebung

Wladimir I. Lenin: Die Klassenverschiebung

[„Prawda", Nr. 92, 10. Juli (27. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 234-236]

Jede Revolution, die eine wirkliche Revolution ist, läuft auf eine Klassenverschiebung hinaus. Darum besteht die beste Methode zur Klärung des Bewusstseins der Massen – und auch zum Kampf gegen die Täuschung der Massen durch revolutionäre Beteuerungen – in der Untersuchung, welche Klassenverschiebung in der gegebenen Revolution stattgefunden hat und stattfindet.

In der Zeit von 1904 bis 1916 ist das Wechselverhältnis der Klassen in Russland während der letzten Jahre des Zarismus besonders deutlich in Erscheinung getreten. An der Macht war eine Handvoll feudaler Grundbesitzer, mit Nikolaus II. an der Spitze, im engsten Bündnis mit den Magnaten des Finanzkapitals, die, an europäischen Verhältnissen gemessen, unerhörte Gewinne einheimsten und zu deren Gunsten die Raubverträge der Außenpolitik geschlossen wurden.

Die liberale Bourgeoisie, mit den Kadetten an der Spitze, befand sich in Opposition. Das Volk mehr als die Reaktion fürchtend, suchte sie durch Kompromisse mit der Monarchie zur Macht zu kommen.

Das Volk, d. h. die Arbeiter und Bauern, mit ihren in die Illegalität getriebenen Führern, war revolutionär und stellte die proletarische und kleinbürgerliche „revolutionäre Demokratie" dar.

Die Revolution vom 27. Februar 1917 hat die Monarchie hinweggefegt und die liberale Bourgeoisie zur Macht gebracht. Letztere, die in unmittelbarem Einverständnis mit den englisch-französischen Imperialisten handelte, wollte nur eine kleine Palastrevolution. Keinesfalls wollte sie weitergehen als bis zu einer auf einem Zensus beruhenden konstitutionellen Monarchie. Und als die Revolution tatsächlich weiterging, die Monarchie völlig vernichtete und die Räte (der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten) schuf, da wurde die liberale Bourgeoisie durchweg konterrevolutionär.

Jetzt, vier Monate nach dem Umsturz, tritt der konterrevolutionäre Geist der Kadetten, dieser Hauptpartei der liberalen Bourgeoisie, klar zutage. Das sehen alle. Alle sind gezwungen, diese Tatsache anzuerkennen. Aber bei weitem nicht alle sind bereit, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sich ihre Bedeutung klarzumachen.

Russland ist heute eine demokratische Republik, die auf Grund der freien Vereinbarung politischer Parteien, die im Volke frei agitieren, regiert wird. Die vier Monate, die seit dem 27. Februar verstrichen sind, haben alle einigermaßen wichtigen Parteien zusammengefügt und geformt, haben sie bei den Wahlen (zu den Räten und den örtlichen Körperschaften) in Erscheinung treten lassen und ihren Zusammenhang mit den verschiedenen Klassen aufgezeigt.

In Russland ist gegenwärtig die konterrevolutionäre Bourgeoisie an der Macht, der gegenüber die kleinbürgerliche Demokratie, nämlich die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, zur „Opposition seiner Majestät"1 geworden ist. Das Wesen der Politik dieser Parteien besteht im Paktieren mit der konterrevolutionären Bourgeoisie. Die kleinbürgerliche Demokratie steigt zur Macht empor, indem sie zunächst die örtlichen Körperschaften erobert (wie die Liberalen unter dem Zarismus zuerst die Semstwos erobert haben). Diese kleinbürgerliche Demokratie will die Macht mit der Bourgeoisie teilen, nicht aber die Bourgeoisie stürzen, ebenso wie die Kadetten die Macht mit der Monarchie teilen, nicht aber die Monarchie stürzen wollten. Und ebenso, wie die Klassenverwandtschaft des Kapitalisten mit dem in den Verhältnissen des XX. Jahrhunderts lebenden Grundbesitzer beide veranlasst hatte, sich um den „angebeteten" Monarchen zu scharen, so hat auch die tiefe Klassenverwandtschaft der kleinen und großen Bourgeois das Paktieren der kleinbürgerlichen Demokratie (der Sozialrevolutionäre und Menschewiki) mit den Kadetten hervorgerufen.

Die Form des Paktierens hat sich geändert: unter der Monarchie war sie grob, der Zar ließ die Kadetten nur auf den Hinterhof der Reichsduma. In der demokratischen Republik wurde das Paktieren europäisch verfeinert: man lässt die Kleinbürger in unschädlicher Minderheit zu unschädlichen (für das Kapital) Rollen im Ministerium zu.

Die Kadetten haben den Platz der Monarchie eingenommen. Zeretelli und Tschernow den der Kadetten. Die proletarische Demokratie nahm den Platz der wirklich revolutionären Demokratie ein.

Der imperialistische Krieg hat die ganze Entwicklung außerordentlich beschleunigt. Ohne den Krieg hätten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki noch jahrzehntelang nach Ministerpöstchen seufzen können. Aber derselbe Krieg beschleunigt auch weiter die Entwicklung. Denn der Krieg stellt die Fragen nicht reformistisch, sondern revolutionär.

Die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki könnten Russland, im Einverständnis mit der Bourgeoisie, nicht wenig Reformen geben. Aber die objektive Lage in der Weltpolitik ist revolutionär, sie kann durch Reformen nicht überwunden werden.

Der imperialistische Krieg bedrückt und zerdrückt die Völker. Die kleinbürgerliche Demokratie ist vielleicht imstande, das Verhängnis für kurze Zeit hinauszuschieben. Vor dem Verhängnis retten kann nur das revolutionäre Proletariat.

1 „Opposition seiner Majestät" – damit ist die Kadettenpartei gemeint, d.h. also die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben die Rolle der Kadetten übernommen.

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