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Wladimir I. Lenin 19171012 Die Krise ist herangereift

Wladimir I. Lenin: Die Krise ist herangereift1

[Kapitel I-III und V veröffentlicht im „Rabotschij Putj", Nr. 30, 20. (7.) Oktober 1917, Kapitel VI im Buch L. Trotzkis: „1917", Staatsverlag 1925. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 300-309]

I

Kein Zweifel, die letzten Tage des September brachten einen gewaltigen Umschwung in der russischen Geschichte und allem Anschein nach auch in der Weltrevolution.

Die internationale Arbeiterrevolution begann mit dem Auftreten Einzelner, die voller Hingabe und Mut jene ehrlichen Elemente vertraten, die in dem verfaulten offiziellen „Sozialismus" – in Wirklichkeit Sozialchauvinismus – noch übrig geblieben waren. Liebknecht in Deutschland, Adler in Österreich, MacLean in England, das sind die bekanntesten Namen dieser vereinzelten Helden, die die schwere Rolle der Vorläufer der Weltrevolution auf sich nahmen.

Die zweite Etappe in der historischen Vorbereitung dieser Revolution war die breite Gärung in den Massen, die zum Ausdruck kam sowohl in Spaltungen offizieller Parteien als auch in der Herausgabe illegaler Literatur und in Straßendemonstrationen. Der Protest gegen den Krieg erstarkte – die Zahl der Opfer der behördlichen Verfolgungen stieg. Die Gefängnisse der sich ihrer Gesetzlichkeit und sogar ihrer Freiheit rühmenden Länder, die Gefängnisse Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Englands, füllten sich mit Dutzenden, mit Hunderten von Internationalisten, Kriegsgegnern, Anhängern der Arbeiterrevolution.

Jetzt hat die dritte Etappe begonnen, die als Vorabend der Revolution bezeichnet werden kann. Massenverhaftungen der Parteiführer im freien Italien und namentlich die ersten militärischen Aufstände in Deutschland sind unzweifelhafte Anzeichen des großen Umschwungs, Anzeichen des Vorabends der Revolution im Weltmaßstabe.

Zweifellos kamen in Deutschland auch früher schon vereinzelte Fälle von Meutereien in der Armee vor; sie waren aber so unbedeutend, so zersplittert, so schwach, dass man sie vertuschen, verschweigen und so – was die Hauptsache war -– die Ansteckung der Massen durch sie verhindern konnte. Endlich aber reifte in der Flotte eine Bewegung heran, die trotz der unerhört ausgearbeiteten und mit unglaublicher Pedanterie durchgeführten Strenge des deutschen militärischen Zuchthausregimes nicht mehr vertuscht und totgeschwiegen werden konnte.

Kein Zweifel: wir stehen unmittelbar vor einer proletarischen Weltrevolution, und da wir russischen Bolschewiki als einzige unter den proletarischen Internationalisten aller Länder uns einer verhältnismäßig sehr großen Freiheit erfreuen, eine legale Partei und gegen zwei Dutzend Zeitungen besitzen, die hauptstädtischen Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte und die Mehrheit der Volksmassen im gegenwärtigen revolutionären Augenblick auf unserer Seite haben, können und müssen uns gegenüber die Worte angewendet werden: „Wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel verlangt!"

II

In Russland ist die Revolution ohne Zweifel an ihrem Wendepunkt angelangt.

In diesem Bauernlande, unter einer revolutionären republikanischen Regierung, die unterstützt wird von den Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die gestern noch in der kleinbürgerlichen Demokratie die Herrschaft hatten, wächst ein Bauernaufstand heran.

Das ist unglaublich, aber es ist Tatsache.

Uns Bolschewiki überrascht diese Tatsache nicht. Wir sagten schon immer, dass die Regierung der berüchtigten „Koalition" mit der Bourgeoisie eine Regierung des Verrats am Demokratismus und an der Revolution ist, eine Regierung des imperialistischen Gemetzels, eine Regierung zum Schutz der Kapitalisten und Junker vor dem Volk.

Dank dem Betrug der Sozialrevolutionäre und Menschewiki blieb und bleibt in Russland, unter der Republik, während der Revolution, neben den Räten eine Regierung der Kapitalisten und Gutsbesitzer. Das ist die bittere, die drohende Wirklichkeit.

Was Wunder, wenn in Russland angesichts der unerhörten Leiden, die die Weiterführung und die Folgen des imperialistischen Krieges dem Volke bringen, ein Bauernaufstand begonnen hat und sich ausbreitet?

Was Wunder, wenn Gegner der Bolschewiki, die Führer der offiziellen Sozialrevolutionären Partei, derselben Partei, die die „Koalition" immer unterstützt hat, derselben Partei, die noch bis zu den letzten Tagen oder Wochen die Mehrheit des Volkes auf ihrer Seite hatte, derselben Partei, die nach wie vor die „neuen" Sozialrevolutionäre beschimpft und bekämpft, die sich von dem Verrat der Koalitionspolitik an den Interessen der Bauern überzeugt haben, – was Wunder, wenn diese Führer der offiziellen Sozialrevolutionären Partei am 29. September in einem redaktionellen Leitartikel des „Djelo Naroda", ihres offiziellen Parteiorgans, schreiben:

„… Fast nichts wurde bisher getan zur Beseitigung jener Hörigkeitsverhältnisse, die noch immer im Dorfe besonders Zentralrusslands herrschen … Das Gesetz über die Regelung der Bodenverhältnisse im Dorfe, das seit langem schon der Provisorischen Regierung vorliegt und sogar das Fegefeuer des juristischen Beirats glücklich passiert hat, ist irgendwo in den Tiefen der Schreibstuben hoffnungslos stecken geblieben … Haben wir nicht recht, wenn wir behaupten, dass unsere republikanische Regierung sich noch bei weitem nicht freigemacht hat von den alten zaristischen Regierungssitten, dass die Methoden Stolypins kräftig weiter leben in den Methoden der revolutionären Minister?"2

Das schreiben die offiziellen Sozialrevolutionäre! Man überlege nur: die Anhänger der Koalition sind gezwungen, zuzugeben, dass nach sieben Monaten Revolution in einem Bauernlande fast nichts getan worden ist zur Beseitigung der „Hörigkeit" der Bauern, ihrer Knechtung durch die Gutsbesitzer! Diese Sozialrevolutionäre sind gezwungen, ihren Kollegen Kerenski und seine ganze Ministerbande als Stolypinisten zu bezeichnen.

Kann man ein beredteres Zeugnis im Lager unserer Gegner finden, das nicht nur bestätigt, dass die Koalition zusammengebrochen ist, dass die offiziellen Sozialrevolutionäre, die Kerenski dulden, eine volksfeindliche, bauernfeindliche konterrevolutionäre Partei geworden sind, sondern auch, dass die ganze russische Revolution an einem Wendepunkt steht?

Ein Bauernaufstand in einem Bauernlande gegen die Regierung des Sozialrevolutionärs Kerenski, der Menschewiki Nikitin und Gwosdjew und anderer Minister, die das Kapital und die Interessen der Gutsbesitzer vertreten! Die Niederschlagung dieses Aufstandes durch die republikanische Regierung mit Hilfe militärischer Maßnahmen!

Kann man angesichts dieser Tatsachen noch ehrlicher Anhänger des Proletariats sein und zugleich bestreiten, dass die Krise reif ist, dass die Revolution einen gewaltigen Umschwung erlebt und dass der Sieg der Regierung über den Bauernaufstand jetzt das endgültige Begräbnis der Revolution, der endgültige Triumph der Kornilowiade wäre?

III

Es ist klar: wenn es in einem Bauernlande nach sieben Monaten demokratischer Republik zu einem Bauernaufstand kommt, so beweist dies unwiderlegbar den gesamtnationalen Zusammenbruch der Revolution, so beweist das, dass die Revolution eine unerhört schwere Krise durchmacht und dass die konterrevolutionären Kräfte jetzt aufs Ganze gehen.

Das ist vollkommen klar. Angesichts einer solchen Tatsache, wie des Bauernaufstandes, hätten alle anderen politischen Symptome, selbst wenn sie dieser Zuspitzung der gesamtnationalen Krise widersprächen, nicht die geringste Bedeutung.

Aber alle Symptome weisen im Gegenteil gerade darauf hin, dass die allgemein-nationale Krise reif ist.

Neben der Agrarfrage ist im allgemein-staatlichen Leben Russlands, insbesondere für die kleinbürgerlichen Massen der Bevölkerung die nationale Frage von größter Bedeutung. Und wir sehen, dass auf der von den Herren Zeretelli und Co. zusammengeschobenen „Demokratischen" Beratung die „Nationale" Kurie in Bezug auf Radikalismus an zweiter Stelle steht: sie steht hinsichtlich des Prozentsatzes der gegen die Koalition abgegebenen Stimmen (40 von 55) nur den Gewerkschaften nach und übertrifft die Kurie der Arbeiter-und Soldatendeputiertenräte. Aus Finnland zieht die Regierung Kerenski, die Regierung der Niederwerfung des Bauernaufstandes, die revolutionären Truppen zurück, um die reaktionäre finnische Bourgeoisie zu stärken. In der Ukraine häufen sich die Konflikte der Ukrainer im Allgemeinen und der ukrainischen Truppen im Besonderen mit der Regierung.

Nehmen wir weiter die Armee, die in Kriegszeiten eine für das ganze staatliche Leben besonders wichtige Rolle spielt. Wir sahen die vollkommene Abkehr der finnländischen Truppen und der baltischen Flotte von der Regierung. Wir haben das Zeugnis des Offiziers Dubassow, der kein Bolschewik ist, der im Namen der ganzen Front spricht und revolutionärer als irgendein Bolschewik erklärt, dass die Soldaten den Krieg nicht weiterführen werden. In den Regierungsberichten heißt es, dass die Stimmung der Soldaten „nervös" sei, dass für die „Ordnung" (d. h. für die Beteiligung dieser Truppen an der Unterdrückung des Bauernaufstandes) keine Gewähr bestehe. Wir sehen endlich die Abstimmung in Moskau, wo von 17.000 Soldaten 14.000 für die Bolschewiki stimmen.

Überhaupt ist dieses Stimmenverhältnis bei den Bezirksdumawahlen eines der erstaunlichsten Symptome für den tiefgreifenden Umschwung in der allgemeinen Stimmung. Dass Moskau kleinbürgerlicher ist als Petrograd, ist allgemein bekannt. Dass das Moskauer Proletariat unvergleichlich engere Beziehungen zum flachen Lande, viel mehr bäuerliche Sympathie hat, den Stimmungen der Bauern im Dorfe viel nähersteht, ist eine oft bestätigte und unbestrittene Tatsache.

Und nun sinkt in Moskau die Stimmenzahl der Sozialrevolutionäre und Menschewiki von 70 Prozent im Juli auf 18 Prozent. Kein Zweifel, das Kleinbürgertum, das Volk hat sich von der Koalition abgewandt. Der Stimmenanteil der Kadetten stieg von 17 Prozent auf 30 Prozent, sie sind aber in der Minderheit, einer hoffnungslosen Minderheit, geblieben, obwohl die „rechten" Sozialrevolutionäre und die „rechten" Menschewiki sich offenbar ihnen angeschlossen haben. Und die „Russkije Wjedomosti"3 sagen, dass die absolute Stimmenzahl der Kadetten von 67.000 auf 62.000 gefallen ist. Nur die Stimmenzahl der Bolschewiki ist von 34.000 auf 82.000 gestiegen; sie erhielten 47 Prozent aller Stimmen.4 Dass wir zusammen mit den linken Sozialrevolutionären jetzt die Mehrheit in den Räten, in der Armee und im Lande haben, unterliegt keinem Zweifel.

Zu den Symptomen, die nicht nur eine symptomatische, sondern eine sehr reale Bedeutung haben, gehört auch die Tatsache, dass das Heer der Eisenbahner und Postbeamten, die eine gewaltige allgemein-wirtschaftliche, allgemein-politische und militärische Bedeutung haben, nach wie vor in scharfem Konflikt mit der Regierung steht, wobei sogar die menschewistischen Vaterlandsverteidiger mit „ihrem" Minister Nikitin unzufrieden sind und die offiziellen Sozialrevolutionäre Kerenski und Co. „Stolypinisten" nennen. Ist es nicht klar, dass eine solche „Unterstützung" der Regierung durch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, wenn überhaupt, nur eine negative Bedeutung haben kann?

IV

V

Ja, die Führer des Zentralexekutivkomitees verfolgen eine richtige Taktik der Verteidigung der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer. Und es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die Bolschewiki, wenn sie sich in die Falle der konstitutionellen Illusionen, des „Glaubens" an den Rätekongress und an die Einberufung der Konstituante, des „Abwartens" des Rätekongresses usw. fangen ließen, erbärmliche Verräter an der Sache des Proletariats wären.

Sie wären Verräter, denn sie würden durch ihr Verhalten die deutschen revolutionären Arbeiter verraten, die in der Flotte einen Aufstand begonnen haben. Unter solchen Umständen wäre ein „Abwarten" des Rätekongresses usw. Verrat am Internationalismus, Verrat an der Sache der internationalen sozialistischen Revolution.

Denn der Internationalismus besteht nicht in Phrasen, nicht in Solidaritätsbeteuerungen, nicht in Resolutionen, sondern in Taten.

Die Bolschewiki wären Verräter an den Bauern, denn die Niederwerfung des Bauernaufstandes durch die Regierung, die sogar das „Djelo Naroda" als Stolypinisten bezeichnet, dulden, heißt die ganze Revolution zugrunde richten, sie für immer und unwiderruflich zugrunde richten. Man schreit über Anarchie, über wachsende Gleichgültigkeit der Massen: wie sollten auch die Massen den Wahlen nicht gleichgültig gegenüberstehen, wenn die Bauern in einen Aufstand getrieben werden und die sogenannte „revolutionäre Demokratie" seine militärische Niederwerfung geduldig hinnimmt!!

Die Bolschewiki wären Verräter an der Demokratie und an der Freiheit, denn die Niederwerfung des Bauernaufstandes in einem solchen Augenblick dulden, heißt die Wahlen zur Konstituante genau ebenso – und noch schlimmer, gröber – verfälschen lassen, wie die „Demokratische Beratung" und das „Vorparlament" verfälscht wurden.

Die Krise ist herangereift. Die ganze Zukunft der russischen Revolution steht auf dem Spiel. Die Ehre der bolschewistischen Partei ist gefährdet. Die ganze Zukunft der internationalen Arbeiterrevolution für den Sozialismus steht auf dem Spiel. Die Krise ist herangereift…

29. September 1917

N. Lenin

Bis zu dieser Stelle kann gedruckt werden. Das weitere ist an die Mitglieder des Zentralkomitees, des Petrograder Komitees, des Moskauer Komitees und der Räte zu verteilen.

VI

Was ist also zu tun? Man muss aussprechen, was ist,5 die Wahrheit zugeben, dass bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Richtung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Rätekongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Richtung oder Meinung muss niedergekämpft werden.6

Sonst würden sich die Bolschewiki mit Schmach bedecken und als Partei erledigt sein.

Denn einen solchen Augenblick zu verpassen und den Rätekongress „abzuwarten", wäre vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat.

Ein vollendeter Verrat an den deutschen Arbeitern. Wir können doch nicht den Anfang ihrer Revolution abwarten!! Dann werden auch die Liber-Dan für ihre „Unterstützung" sein. Sie kann aber nicht beginnen, solange Kerenski, Kischkin und Co. an der Macht sind.

Ein vollendeter Verrat an den Bauern. Die Niederwerfung des Bauernaufstandes dulden, obwohl wir beide hauptstädtischen Räte in Händen haben, heißt jedes Vertrauen der Bauern verlieren und verdient verlieren, heißt in den Augen der Bauern mit den Liber-Dan und übrigen Schuften auf einer Stufe stehen.

Den Rätekongress „abzuwarten", ist vollendete Idiotie, denn das heißt Wochen verlieren, Wochen und sogar Tage entscheiden aber jetzt alles. Das heißt feige der Machtergreifung entsagen, denn am 1.2. November wird das unmöglich sein (sowohl politisch als auch technisch: man wird für den Tag des einfältig „angesetzten"* Aufstands Kosaken bereit halten).

Den Rätekongress „abzuwarten", ist Idiotie, denn dieser Kongress wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!

Die „moralische" Bedeutung? Erstaunlich!! Die „Bedeutung" von Resolutionen und von Unterhaltungen mit den Liber-Dan, wo wir doch wissen, dass die Räte für die Bauern sind und dass man den Bauernaufstand niederschlägt!! Dadurch degradieren wir die Räte zu erbärmlichen Schwatzbuden Schlagt erst Kerenski, dann beruft den Kongress ein.

Der Sieg des Aufstands ist den Bolschewiki jetzt sicher: 1. wir können** (wenn wir nicht auf den Rätekongress „warten") plötzlich und von drei Stellen aus, in Petrograd, Moskau und der baltischen Flotte, losschlagen; 2. wir haben Losungen, die uns Unterstützung gewährleisten: Nieder mit der Regierung, die den Aufstand der Bauern gegen die Gutsherren unterdrückt!; 3. wir haben die Mehrheit im Lande; 4. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind in voller Zersetzung; 5. wir haben die technische Möglichkeit, die Macht in Moskau zu ergreifen (Moskau könnte sogar anfangen, um den Feind durch Überraschung zu überrumpeln); 6. wir haben in Petrograd Tausende bewaffnete Arbeiter und Soldaten, die mit einem Schlage den Winterpalast, den Generalstab, die Telefonzentrale und alle großen Druckereien besetzen können: wir sind dann nicht mehr zu vertreiben und in der Armee wird eine solche Agitation einsetzen, dass es nicht möglich sein wird, gegen diese Regierung des Friedens, des Landes für die Bauern usw. zu kämpfen.

Wenn wir auf einmal plötzlich von drei Stellen aus losschlagen, in Petrograd, Moskau und der baltischen Flotte, so sind 99 von Hundert Chancen dafür, dass wir mit geringeren Opfern, als der 3.-4. Juli gekostet hat, siegen werden, denn die Truppen werden nicht gegen die Regierung des Friedens marschieren. Auch wenn Kerenski jetzt schon „zuverlässige" Kavallerie usw. in Petrograd hat, wird er gezwungen sein, sich zu ergeben, wenn wir von zwei Seiten den Schlag führen und wenn die Armee mit uns sympathisiert. Wenn wir auch bei so günstigen Aussichten, wie sie jetzt bestehen, die Macht nicht ergreifen, so ist alles Reden über die Macht den Räten eine Lüge.

Jetzt die Macht nicht übernehmen, „warten", im ZEK schwatzen, sich auf den „Kampf um ein Organ" (des Rats), sich auf den Kampf für den Kongress beschränken, heißt die Revolution zugrunde richten.

Wenn ich sehe, dass das ZK alle meine Vorstellungen in diesem Sinne seit dem Beginn der Demokratischen Beratung sogar ohne Antwort lässt, dass das Zentralorgan aus meinen Artikeln die Hinweise auf so himmelschreiende Fehler der Bolschewiki streicht, wie z. B. den schmachvollen Beschluss der Beteiligung am Vorparlament, wie die Überlassung eines Sitzes im Präsidium des Rates an die Menschewiki usw. usf., so muss ich darin einen „zarten" Wink erblicken, dass das ZK diese Frage nicht einmal zu erörtern wünscht, einen zarten Wink, den Mund zu halten und mich zu entfernen.

Ich bin gezwungen, meinen Austritt aus dem ZK zu beantragen, was ich hiermit tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.

Denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass wir die Revolution zugrunde richten, wenn wir den Rätekongress „abwarten" wollen und den Augenblick verpassen.

29. September

N. Lenin

P. S.: Eine ganze Reihe von Tatsachen hat gezeigt, dass sogar Kosakentruppen gegen eine Regierung des Friedens nicht marschieren werden! Und wie viele sind es? Wo sind sie? Und wird die ganze Armee nicht Truppen für uns stellen?

1 Den Artikel „Die Krise ist herangereift" schrieb Lenin am 12. Oktober (29. September) 1917 in Wiborg; die Kapitel I–V sind im „Rabotschij Putj", Nr. 30, abgedruckt worden, wobei Kapitel IV ganz fehlte, Kapitel V aber anstatt dessen als IV. Kapitel bezeichnet war. Der erhaltene Teil des Manuskriptes enthält nur die Kapitel V und VI; auf diese Weise bleibt Kapitel IV, das hier nur durch Punkte angedeutet ist, unbekannt. Anscheinend hatte die Redaktion des „Rabotschij Putj" aus konspirativen Gründen das Kapitel IV weggelassen.

2 Lenin zitiert den Leitartikel aus dem „Djelo Naroda", Nr. 167 vom 12. Oktober (29. September) 1917.

3 „Russkije Wjedomosti" – Kadettenzeitung, die in Moskau herausgegeben wurde und unter der Intelligenz weite Verbreitung fand. Der Redaktion gehörte eine Reihe von Professoren der Moskauer Universität an.

4 Bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, die vom 8. bis 11. Juli (25.–28. Juni) stattfanden, erhielten – nach den offiziellen Angaben – die Kadetten 109.000 Stimmen und 34 Sitze, die Volkssozialisten 8.000 Stimmen und 3 Sitze, die Sozialrevolutionäre 375.000 Stimmen und 116 Sitze, die Menschewiki und Internationalisten 76.000 Stimmen und 24 Sitze, die Bolschewiki 75.000 Stimmen und 23 Sitze und die Gruppe „Jedinstwo" (Plechanow-Anhänger) 1500 Stimmen und keinen Sitz; im ganzen gab es in der Moskauer Stadtduma 200 Sitze.

Die Wahlen zu den Moskauer Bezirksdumas, die vom 7. bis 9. Oktober (24.–26. September) 1917 stattfanden, gaben den Bolschewiki gegen 52 Prozent aller in der Stadt abgegebenen Stimmen. Die von Lenin angeführten Zahlen, 47 Prozent, 49 Prozent und 51 Prozent, sind ungenau. Gemäß den Angaben der Moskauer Stadtverwaltung sind 350 Bolschewiki, 184 Kadetten, 104 Sozialrevolutionäre, 31 Menschewiki und mehrere Parteilose gewählt worden. Die Soldaten der Moskauer Garnison hatten in ihrer Masse für die bolschewistischen Listen gestimmt. In allen Bezirksdumas an der Peripherie der Stadt und in allen von diesen gewählten Bezirksämtern gewannen die Bolschewiki eine vorherrschende Stellung.

5 „Aussprechen, was ist" bei Lenin deutsch. Die Red.

6 Im Zentralkomitee der Bolschewiki gab es im Herbst 1917 zwei Strömungen. Die eine, an deren Spitze Lenin stand, hielt den Aufstand und den Sturz der Provisorischen Regierung für notwendig; die andere, mit Kamenew und Sinowjew an der Spitze, wandte sich gegen den Aufstand. Sie zog „parlamentarische" Entwicklungswege vor und wollte der bolschewistischen Partei die Rolle der äußersten linken Opposition in der zukünftigen Konstituierenden Versammlung zuweisen. Dieselbe Strömung opponierte gegen den Boykott des Vorparlamentes. In den entscheidenden Sitzungen des Zentralkomitees am 23. (10.) und 29. (16.) Oktober sprachen Kamenew und Sinowjew gegen den bewaffneten Aufstand. Die Meinungsverschiedenheiten gingen auch nach dem Sieg der Oktoberrevolution weiter, aber bereits in der Form eines Streites über die Bildung eines „sozialistischen" Koalitionsministeriums von den rechten Sozialrevolutionären und Menschewiki bis zu den Bolschewiki. Die Meinungsverschiedenheiten in den Spitzen der Partei endeten mit dem Austritt Kamenews, Sinowjews, Rykows u. a. aus dem Zentralkomitee und aus dem Rat der Volkskommissare im November 1917.

* Den Rätekongress zum 20. Oktober „einzuberufen", damit er die Machtergreifung beschließe – wodurch unterscheidet sich das von der einfältigen „Festsetzung" des Aufstands? Jetzt können wir die Macht nehmen, am 20.–29. Oktober wird man das nicht mehr zulassen.

** Was hat die Partei zum Studium der Verteilung der Truppen usw. zur Durchführung des Aufstands als „Kunst" getan? Nur im ZK Beredet u. ä.!!

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