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Wladimir I. Lenin 19170713 Die Krise rückt näher, die Zerrüttung wächst

Wladimir I. Lenin: Die Krise rückt näher, die Zerrüttung wächst

[„Prawda" Nr. 95, 13. Juli (30. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 243-245]

Tag für Tag muss Alarm geschlagen werden. Alle möglichen dummen Leutchen haben uns den Vorwurf gemacht, dass wir es mit der Übergabe der ganzen Staatsgewalt an die Räte der Soldaten-, Arbeiter- und Bauerndeputierten zu „eilig" hätten, dass es „gemäßigter und akkurater" wäre, manierlich auf die manierliche Konstituierende Versammlung zu „warten".

Jetzt können sogar die dümmsten von diesen kleinbürgerlichen Dummköpfen sehen, dass das Leben nicht wartet, dass nicht wir „eilen", sondern dass die Zerrüttung eilt.

Die kleinbürgerliche Feigheit, verkörpert in den Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, hat beschlossen: lassen wir vorläufig die Geschäfte in den Händen der Kapitalisten, vielleicht, dass die Zerrüttung bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung „warten" wird!

Die Tatsachen zeigen jeden Tag von neuem, dass die Zerrüttung wohl kaum bis zur Konstituierenden Versammlung warten dürfte, dass die Katastrophe früher hereinbrechen wird.

Nehmen wir selbst nur die heute veröffentlichten Tatsachen. Die Ökonomische Abteilung des Exekutivkomitees des Petrograder Rats der Soldaten- und Arbeiterdeputierten hat beschlossen, „der Provisorischen Regierung zur Kenntnis zu bringen", dass „die Metallindustrie des Moskauer Bezirks (15 Gouvernements) sich im Zustand einer akuten Krise befindet", dass „die Betriebsleitung der Goujon-Werke die Produktion offenkundig desorganisiert und bewusst auf die Stilllegung des Betriebes hinarbeitet", dass daher die „Staatsgewalt" (die die Sozialrevolutionäre und Menschewiki eben in den Händen der Partei der Goujons, der Partei der konterrevolutionären Kapitalisten, die Aussperrungen verhängen, gelassen haben) „die Betriebsleitung in ihre Verwaltung übernehmen … und Betriebsmittel zur Verfügung stellen müsse"1.

Das dringend erforderliche Betriebskapital beträgt ungefähr 5 Millionen Rubel.

Die Konferenz der Ökonomischen Abteilung und der Delegation der Versorgungsabteilung des Moskauer Rats der Arbeiterdeputierten „lenkt die Aufmerksamkeit der Provisorischen Regierung" (arme, unschuldige, kindlich-unwissende Provisorische Regierung! Sie hat es nicht gewusst! Sie ist unschuldig! Sie wird es erfahren und die Dan und Tscherewanin, die Awksentjew und Tschernow werden sie überreden, ihr ins Gewissen reden!) „auf die Tatsache, dass die Konferenz der Moskauer Betriebe und das provisorische Büro des Versorgungskomitees des Moskauer Bezirks bereits die Stilllegung der Kolomnaer Lokomotivfabrik sowie der Sormowo- und der Brjansker Werke in Bjeschetzk verhindern mussten. Nichtsdestoweniger arbeitet das Sormowo-Werk gegenwärtig infolge eines Streiks der Arbeiter nicht, und jeden Tag können die übrigen Werke stillgelegt werden" …

Die Katastrophe wartet nicht. Sie rückt mit erschreckender Geschwindigkeit näher. Über den Donezbezirk schreibt heute A. Sandomirski, der zweifellos über die Tatsachen sehr gründlich unterrichtet ist, in der „Nowaja Schisn":

Der ausweglose Kreis – das Fehlen von Kohlen, von Metall, von Lokomotiven und Waggons, die Stilllegung der Produktion – wird immer umfassender. Zu gleicher Zeit aber brennt die Kohle, in den Fabriken häuft sich das Metall an, während man es dort, wo es benötigt wird, nicht bekommen kann."2

Die von den Sozialrevolutionären und Menschewiki unterstützte Regierung hemmt geradezu den Kampf gegen die Zerrüttung: A. Sandomirski teilt als Tatsache mit, dass Paltschinski, der stellvertretende Handelsminister und tatsächliche Kollege von Zeretelli und Tschernow, auf eine Beschwerde der Industriellen hin „eigenmächtige" (!!) Bildung von Kontrollkommissionen als Antwort auf eine Umfrage des Donez-Komitees über die Metallbestände verboten (!!) hat.

Man vergegenwärtige sich, was das für ein Irrenhaus ist: das Land geht zugrunde, das Volk steht am Vorabend der Hungersnot und des Zusammenbruchs, es mangelt an Kohle und Eisen, obwohl man sie haben kann, das Donez-Komitee veranstaltet durch die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten eine Umfrage nach den Metallbeständen, d. h. es sucht Eisen für das Volk. Der Diener der Industriellen, der Diener der Kapitalisten, Minister Paltschinski. verbietet aber, in Gemeinschaft mit den Zeretelli und Tschernow, die Umfrage. Und die Krise wächst weiter, die Katastrophe rückt immer näher.

Woher und wie soll das Geld beschafft werden? Es ist natürlich leicht, 5 Millionen für einen Betrieb zu „verlangen", aber man muss doch verstehen, dass für alle Betriebe bedeutend mehr erforderlich sein wird.

Ist es nicht klar, dass ohne die Maßregel, die wir seit Anfang April fordern und predigen, ohne die Verschmelzung aller Banken zu einer Bank und ohne die Kontrolle dieser Bank, ohne die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, kein Geld beschafft werden kann?

Die Goujon und andere Kapitalisten arbeiten mit Unterstützung der Paltschinskis „bewusst" (dieses Wort stammt von der Ökonomischen Abteilung) auf die Stilllegung der Betriebe hin. Die Regierung steht auf ihrer Seite. Die Zeretelli und Tschernow sind nichts als Dekoration oder einfache Schachfiguren.

Wäre es nicht an der Zeit, Herrschaften, zu begreifen, dass die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki als Parteien dem Volke für die Katastrophe Rede und Antwort stehen müssen?

1 Die Resolution der Ökonomischen Abteilung des Exekutivkomitees des Petrograder Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten „Über die Metallindustrie des Moskauer Bezirks" lautete: „Der Provisorischen Regierung ist folgendes zur Kenntnis zu bringen: die Metallindustrie des Moskauer Bezirks (15 Gouvernements) befindet sich im Zustand einer akuten Krise, die für die gesamte Volkswirtschaft und für die politische Stabilität des Staates gefährlich ist. Die Goujon-Werke, die zu 85 Prozent den ganzen Zentralbezirk mit Metall versorgen, haben eine Bekanntmachung anschlagen lassen, dass der Betrieb ab 1. Juli stillgelegt wird. Es droht die Stilllegung der Werke Bari, Dynamo, Bromley u. a. Der Staat kann die Stilllegung dieser Betriebe unter keinen Umständen zulassen. In Anbetracht dessen, dass die Betriebsleitung der Goujon-Werke die Produktion offenkundig desorganisiert und bewusst auf die Stilllegung des Betriebes hinarbeitet, unter Berufung auf das Fehlen von Betriebsmitteln, trotz voller Kreditfähigkeit, muss die Staatsgewalt die Betriebsleitung in ihre Verwaltung übernehmen, indem sie eine Verwaltung nach Art derjenigen des Putilow-Werkes und der Gesellschaft von 1886 schafft, und Betriebsmittel zur Verfügung stellen. Es muss aber im Auge behalten werden, dass diese unaufschiebbare Maßnahme unvermeidlich die Notwendigkeit einer Regulierung der gesamten Metallindustrie in der Richtung, wie sie in der Resolution des Allrussischen Rätekongresses gezeigt worden ist, nach sich ziehen wird (Festsetzung der Preise, Normierung des Profits und der Löhne, Zwangssyndizierung und -vertrustung usw.); dies erfordert, dass sofort der Ökonomische Rat und das Ökonomische Komitee in Tätigkeit treten und berufene Bezirksversorgungskomitees gebildet werden. Im gegebenen Falle muss der Beratung der Moskauer Betriebe dringend das Recht zuerkannt werden, im Goujon-Werk eine Verwaltung einzurichten und der Beratung müssen Betriebsmittel in Höhe bis zu 5 Millionen Rubel zur Verfügung gestellt werden."

2 Der Artikel A. Sandomirskis „Der Kampf um die Organisation der Industrie" in der „Nowaja Schisn" Nr. 61 vom 12. Juli (29. Juni) 1917 entwirft ein klares Bild über die Resultate der Sabotage der Bergindustriellen des russischen Südens, die sie bereits im April–Mai begonnen hatten. Es heißt da u. a.: „Die Zerrüttung im Donezbecken verstärkt sich mit jedem Tag. Das Provisorische Donezkomitee und das Gebietskomitee der Räte erhalten Telegramm auf Telegramm über die Schließung von Zechen und Schächten, über die Stilllegung von Fabriken wegen Rohstoffmangel, über Erregung unter den Arbeitern, denen man keine Lohnerhöhung gewährt oder überhaupt nichts zahlt, weil es an Geld fehlt… Der ausweglose Kreis – das Fehlen von Kohle, von Metall, von Lokomotiven und Waggons, die Stilllegung der Produktion – wird immer umfassender. Zu gleicher Zeit aber brennt die Kohle, in den Fabriken häuft sich das Metall an, während man es dort, wo es benötigt wird, nicht bekommen kann. Der Arbeiterrat des Marjewka-Bezirks telegraphiert, dass auf der Zeche .Marjewka' von Kasakewitsch 300.000 Pud Kohle lagern; die Kohle brennt, der Versuch der Arbeiter, die Kohle herauszuführen, ist aber misslungen, da die Fuhrleute 4 Kopeken verlangen, wie es auch die übrigen Zechen zahlen, während die Verwaltung nur 3,8 Kopeken geben wollte". Der Versuch der Arbeiter, den Kampf gegen die Zerrüttung aufzunehmen, stoße auf den entschiedenen Widerstand der Industriellen, die bei Paltschinski, dem stellvertretenden Handelsminister, Unterstützung finden. „Angesichts des Fehlens von genauen Daten, hat das Donezkomitee (ein offizielles Organ auf paritätischer Grundlage zur Schlichtung der Konflikte zwischen Arbeit und Kapital. Die Red.) beschlossen, durch die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten sowie durch die Betriebsräte eine Umfrage über die Metallbestände zu veranstalten. Als man an die Arbeit zur Kontrolle des Metalls ging, erließ der Herr Paltschinski eine Verordnung: ,irgendwelche eigenmächtige Kontrollkommissionen dürfen nicht zugelassen werden'." Als das Donezkomitee von Pankin 500.000 Pud Metall zur Reparierung der Lokomotiven anforderte, war der Herr Oberst beleidigt, weil man ihn nicht gebeten, sondern dazu aufgefordert habe – und erst nach einem Briefwechsel mit Petrograd hatte man im Juni und nicht im Mai statt 500.000 Pud Metall nur 328.000 Pud bekommen." Paltschinski habe die Übersiedlung des Donezkomitees von Jekaterinoslaw nach Charkow verboten und den einstimmig gewählten Vorsitzenden der Beratung für Brennstoffe, Professor Rubin, nicht bestätigt, „weil es unzulässig ist, dass eine Person zwei Posten bekleide".

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