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Wladimir I. Lenin 19170506 Die Lehren der Krise

Wladimir I. Lenin: Die Lehren der Krise

[„Prawda" Nr. 39, 6. Mai (23. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 300-304]

Petrograd und ganz Russland haben eine ernste politische Krise, die erste politische Krise nach der Revolution, erlebt.

Am 18. April hat die Provisorische Regierung ihre zu trauriger Berühmtheit gelangte Note angenommen, die die annexionistischen und räuberischen Kriegsziele mit genügender Deutlichkeit bestätigte und damit die Empörung der breiten Massen weckte, die an den Willen (und die Fähigkeit) der Kapitalisten, „auf Annexionen zu verzichten", ehrlich geglaubt haben. Am 20. und 21. April brodelte es in Petersburg. Die Straßen waren voller Menschen; überall, Tag und Nacht, bildeten sich Gruppen und Grüppchen, größere und kleinere Versammlungen; fortwährende Massenkundgebungen und Demonstrationen. Gestern, am 21. April, abends, ist die Krise anscheinend zum Abschluss gekommen oder ist zumindest ihre erste Etappe beendet: das Exekutivkomitee des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates und daraufhin auch der Rat selber haben die „Erklärungen", die Berichtigungen der Note, die „Kommentare" der Regierung (die auf wertlose, absolut nichtssagende, nichts ändernde und zu nichts verpflichtende Phrasen hinauslaufen) für befriedigend und den „Zwischenfall für erledigt" erklärt.

Ob auch die breiten Massen den „Zwischenfall für erledigt" ansehen, wird die Zukunft zeigen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Kräfte, die Klassen, die in der Krise zutage traten, aufmerksam zu studieren und daraus Lehren für die Partei des Proletariats zu ziehen. Denn die große Bedeutung aller Krisen besteht darin, dass sie das Verborgene offenkundig machen, das Bedingte, Oberflächliche, Kleinliche beiseite schieben, den politischen Schutt wegräumen, die wahren Triebfedern des wirklich stattfindenden Klassenkampfes aufdecken.

Die Kapitalistenregierung hat eigentlich am 18. April nur ihre früheren Noten wiederholt, die den imperialistischen Krieg mit diplomatischen Klauseln verschleierten. Die Soldatenmassen empörten sich, weil sie an die Aufrichtigkeit und Friedensliebe der Kapitalisten ehrlich geglaubt hatten. Die Demonstrationen haben als Soldatendemonstrationen begonnen mit der widerspruchsvollen, unklaren, zu nichts führenden Losung: „Nieder mit Miljukow" (als ob der Wechsel von Personen oder Gruppen das Wesen der Politik ändern könnte!).

Das bedeutet: die breite, unbeständige, schwankende Masse, die der Bauernschaft am nächsten steht, im wissenschaftlich-klassenmäßigen Sinn eine kleinbürgerliche Masse, schwankte von den Kapitalisten weg nach der Seite der revolutionären Arbeiter hin. Dieses Schwanken oder diese Bewegung der Masse, die ihrer Kraft nach alles entscheiden kann, hat eben die Krise geschaffen.

Darauf gerieten sofort in Bewegung, begannen auf die Straße zu gehen und sich zu organisieren nicht die mittleren, sondern die extremen Elemente, nicht die dazwischen stehende kleinbürgerliche Masse, sondern die Bourgeoisie und das Proletariat.

Die Bourgeoisie besetzt den Newskij-Prospekt („Miljukow"-Prospekt, wie eine Zeitung sich ausdrückte) und die benachbarten Stadtteile des reichen Petersburgs, des Petersburgs der Kapitalisten und Beamten. Die Offiziere, Studenten, die „Mittelklassen" demonstrieren für die Provisorische Regierung, unter den Losungen stößt man häufig auf die Fahnenaufschrift: „Nieder mit Lenin".

Das Proletariat erhebt sich in seinen Zentren, in den Arbeiter-Vororten, organisiert um die Parolen und Losungen des Zentralkomitees unserer Partei. Das Zentralkomitee fasst am 20. und 21. Resolutionen, die durch den Parteiapparat sofort den Massen des Proletariats übermittelt werden. Arbeiterdemonstrationen überfluten die nicht reichen, weniger zentral gelegenen Stadtviertel, dringen dann aber zum Teil nach dem Newskij vor. Die Demonstrationen der Proletarier unterscheiden sich auffällig von den Demonstrationen der Bourgeoisie durch ihre größere Massenhaftigkeit und Geschlossenheit. Die Banner tragen u. a. die Aufschrift: „Alle Macht dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat".

Auf dem Newskij kommt es zu einem Zusammenstoß. Man zerreißt die Banner der „feindlichen" Demonstrationen. Dem Exekutivkomitee wird von mehreren Stellen telefonisch mitgeteilt, dass von beiden Seiten geschossen worden sei, dass es Tote und Verwundete gegeben habe; die Berichte hierüber sind äußerst widerspruchsvoll und nicht nachgeprüft.

Die Bourgeoisie bringt ihre Angst, dass die wirklichen Massen, die wirkliche Mehrheit des Volkes die Macht in ihre Hände nehmen könnte, durch das Geschrei über das „Gespenst des Bürgerkrieges" zum Ausdruck. Die kleinbürgerlichen Führer des Rates, die Menschewiki und Narodniki, die weder nach der Revolution überhaupt noch insbesondere in den Tagen der Krise eine festumrissene Parteilinie gehabt haben, lassen sich einschüchtern. Im Exekutivkomitee, in dem am Vorabend die Zahl der Stimmen gegen die Provisorische Regierung fast die Hälfte erreicht hatte, werden 34 (gegen 19) Stimmen für die Rückkehr zur Politik des Vertrauens zu den Kapitalisten und des Paktierens mit ihnen zusammengebracht.

Der „Zwischenfall" wird als „erledigt" angesehen. Was ist das Wesen des Klassenkampfes? Die Kapitalisten sind für die Verschleppung des Krieges, für die Verschleierung dieser Tatsache durch Phrasen und Versprechungen; sie haben sich in die Netze des russischen, des englisch-französischen und des amerikanisch en Bankkapitals verstrickt. Das Proletariat, in Gestalt seiner klassenbewussten Avantgarde, ist für den Übergang der Macht in die Hände der revolutionären Klasse, der Arbeiterklasse und der Halbproletarier, für die Entfaltung der proletarischen Weltrevolution, die offensichtlich auch in Deutschland heranwächst, für die Beendigung des Krieges durch eine solche Revolution.

Die breite, vorwiegend kleinbürgerliche Masse, die den Führern der Menschewiki und Narodniki noch glaubt, die von der Bourgeoisie vollkommen eingeschüchtert ist und mit einigen Vorbehalten deren Linie durchführt, schwankt bald nach rechts, bald nach links.

Der Krieg ist furchtbar; gerade die breite Masse empfindet das am schwersten; gerade in ihren Reihen reift die bei weitem noch nicht klare Erkenntnis heran, dass dieser Krieg ein Verbrechen ist, dass er geführt wird aus Rivalität, weil sich Kapitalisten über die Aufteilung ihrer Beute in die Haare geraten sind. Die Weltlage wird immer verworrener. Es gibt keinen Ausweg außer der proletarischen Weltrevolution, die zur Zeit in Russland am weitesten vorgeschritten ist, aber auch in Deutschland sichtlich heranwächst (Streiks, Verbrüderungen). Und die Masse schwankt: zwischen dem Vertrauen zu den alten Herren, den Kapitalisten, und der Erbitterung gegen sie; zwischen dem Vertrauen zum Neuen, das den Weg zeigt zu einer lichten Zukunft für alle Werktätigen, zu der einzigen konsequent-revolutionären Klasse, dem Proletariat, und dem noch unklaren Bewusstsein seiner welthistorischen Rolle.

Es ist nicht das erste und nicht das letzte Schwanken der kleinbürgerlichen und halbproletarischen Masse!

Die Lehre ist klar, Genossen Arbeiter! Die Zeit wartet nicht. Der ersten Krise werden andere folgen. Mit aller Kraft heran an die Aufklärung der Rückständigen, an die kameradschaftliche, unmittelbare (nicht nur durch Meetings) Fühlungnahme mit jedem Regiment, mit jeder Gruppe der noch nicht aufgeklärten werktätigen Schichten! Alle Kräfte aufgewendet für die eigene Konsolidierung, für die Organisierung der Arbeiter von unten bis oben, bis in jeden Bezirk, jede Fabrik, jede Straße der Hauptstadt und ihrer Vororte! Lasst euch nicht beirren, weder durch die mit den Kapitalisten „kompromisselnden" Kleinbürger, die Oboronzen, die Anhänger der „Unterstützungspolitik", noch durch Einzelpersonen, die zur Ungeduld neigen und bevor noch die Mehrheit des Volkes fest zusammengeschlossen ist, rufen: „Nieder mit der Provisorischen Regierung!" Die Krise lässt sich nicht überwinden durch Gewalttätigkeit einzelner Personen gegen andere, durch Einzelaktionen kleiner Gruppen bewaffneter Leute, durch blanquistische Versuche der „Machtergreifung", durch „Verhaftung" der Provisorischen Regierung usw.

Die Losung der Stunde ist: Erläutert noch genauer, klarer, ausführlicher die Linie des Proletariats, seinen Weg zur Beendigung des Krieges. Gliedert euch fester, umfassender an allen Orten ein in die proletarischen Reihen und Kolonnen! Schart euch um eure Räte, bemüht euch, innerhalb derselben durch kameradschaftliche Überzeugung und durch Neuwahl einzelner Mitglieder die Mehrheit um euch zu sammeln.

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