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Wladimir I. Lenin 19170614 Die Rechtfertigung einer Schmach

Wladimir I. Lenin: Die Rechtfertigung einer Schmach

[„Prawda", Nr. 70 14. (1.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, and 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 88-92]

Die Abteilung für internationale Beziehungen beim Exekutivkomitee des Petersburger Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat an Huysmans, den bekannten Sekretär der bankrotten, auf die Seite „ihrer" nationalen Regierungen übergegangenen II. Internationale, eine Mitteilung gesandt, die in den „Iswestija" Nr. 78 veröffentlicht ist.1

Diese Mitteilung versucht nachzuweisen, dass man den Eintritt der russischen Narodniki und Menschewiki in die bürgerliche und imperialistische Regierung dem Eintritt der westeuropäischen Verräter am Sozialismus in „ihre" Regierungen nicht „gleichsetzen" dürfe. Die Argumente der „Abteilung" sind so schwach und erbärmlich, so lächerlich unbeholfen, dass es notwendig ist, sie wieder und wieder in ihrer ganzen Dürftigkeit aufzuzeigen.

Das erste Argument. In den anderen Ländern habe der Eintritt in die Regierung „unter ganz anderen Bedingungen" stattgefunden. Das ist nicht wahr! Die Unterschiede zwischen England, Frankreich, Dänemark, Belgien, Italien usw. einerseits und dem heutigen Russland andererseits sind „ganz" unwesentlich, denn jeder, der den Sozialismus nicht verraten hat, weiß, dass das Wesentliche in der Klassenherrschaft der Bourgeoisie liegt; in dieser Hinsicht sind die Bedingungen in allen genannten Ländern keine „anderen", sondern die gleichen. Die nationalen Besonderheiten ändern nichts an der Grundfrage der Klassenherrschaft der Bourgeoisie.

Das zweite Argument. „Unsere" Minister seien in eine „revolutionäre" Regierung eingetreten. Das ist der schändlichste Volksbetrug, der mit dem großen Wort „Revolution" getrieben wird, auf die die Narodniki und Menschewiki sich berufen, um ihren Verrat an der Revolution zu bemänteln. Denn jeder weiß, dass zehn Minister von den sechzehn der heutigen „revolutionären" Regierung den Parteien der Grundbesitzer und Kapitalisten angehören, die für den imperialistischen Krieg und gegen die Veröffentlichung der Geheimverträge sind, und dass diese Parteien jetzt eine konterrevolutionäre Politik treiben. Besonders anschaulich haben das die Wahlen zu den Bezirksdumas in Petrograd vom 27.–29. Mai bewiesen, als alle Schwarzhundertler sich zusammenschlossen, um für die Mehrheit unserer „revolutionären" Regierung einzutreten.

Das dritte Argument. „Die Unsrigen" seien in die Regierung eingetreten „mit dem bestimmten Auftrag, den allgemeinen Frieden auf dem Wege der Völkerverständigung zu erreichen und nicht den imperialistischen Krieg im Namen der Völkerbefreiung mit der Waffe in der Hand in die Länge zu ziehen". Erstens ist dieser Auftrag gar kein „bestimmter", da er weder ein bestimmtes Programm noch bestimmte Aktionen bedeutet.

Das sind leere Worte. Es ist dasselbe, als wenn ein Gewerkschaftssekretär sich gegen ein Gehalt von 10.000 Rubel zum Vorstandsmitglied eines Unternehmerverbandes machen ließe „mit dem bestimmten Auftrag", dort den Wohlstand der Arbeiter, nicht aber die Verlängerung der kapitalistischen Herrschaft anzustreben. Zweitens erklären auch alle Imperialisten, die „Völkerverständigung" anzustreben, auch Wilhelm, Poincaré usw., auch das ist eine ganz hohle Phrase. Drittens zieht Russland seit dem 6. Mai 1917 den Krieg ganz offensichtlich „in die Länge", unter anderem dadurch, dass unsere imperialistische Regierung bis heute keine genauen und klaren Friedensbedingungen, keine Bedingungen für eine Verständigung veröffentlicht oder vorgeschlagen hat.

Das vierte Argument. Das Ziel der „Unsrigen" sei „nicht die Einstellung des Klassenkampfes, sondern seine Fortsetzung mit den Mitteln der politischen Macht". Großartig! Wenn man also etwas Abscheuliches durch ein gutes Ziel oder durch einen guten „Ausgangspunkt für die Teilnahme" an der Abscheulichkeit verdeckt, dann ist alles in Butter!!

Die Beteiligung an einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung, die tatsächlich einen imperialistischen Krieg führt, soll die „Fortsetzung des Klassenkampfes mit den Mitteln der politischen Macht" sein. Das ist einfach eine Perle! Wir schlagen vor, in jeder Arbeiter- und Volksversammlung ein Hoch auf Tschernow, Zeretelli, Pjeschechonow, Skobelew auszubringen, die den „Klassenkampf" gegen Tereschtschenko, Lwow u. Co. führen.

Die Lächerlichkeit wird euch töten, ihr Herren von der „Abteilung", die ihr den Ministerialismus mit solchen Argumenten verteidigt. Übrigens seid ihr nicht einmal originell: der berühmte Vandervelde, der Freund Plechanows (über den ihr schimpft, wozu ihr nach eurem Eintritt in die Regierung nicht die Spur von moralischem Recht habt) hat schon lange vor euch gesagt, er sei ins Ministerium eingetreten, „um den Klassenkampf fortzusetzen".

Das fünfte Argument. Die „Unsrigen" seien nach der Niederwerfung des Zarismus und nach der Verjagung der „Feinde des russischen Proletariats" (d. h. Miljukows, Gutschkows) „durch die Bewegung der revolutionären Massen am 20. u. 21. April" in die Regierung eingetreten.

Was können die Franzosen dafür, dass sie den Absolutismus nicht vor 100 Tagen, sondern vor 122 Jahren gestürzt haben? Und die Engländer vor über 260 Jahren? Und die Italiener vor einigen Jahrzehnten? Am 20. April aber wurde Miljukow verjagt und durch Tereschtschenko ersetzt, d. h. es hat sich weder in Bezug auf die Klassen noch in Bezug auf die Parteien irgend etwas geändert. Neue Versprechungen bedeuten keine neue Politik.

Wenn man den Metropoliten verjagt und durch den Papst ersetzt, so bedeutet das nicht, dass man aufhört, klerikal zu sein.

Das sechste Argument. In Russland herrsche „volle Freiheit für das Proletariat und die Armee". Das ist nicht wahr, es ist keine volle Freiheit. Sie ist vollkommener als in anderen Ländern, um so schmachvoller ist es, diese junge, noch frische Freiheit durch die schmutzige Sache der Beteiligung an der bürgerlich-imperialistischen Regierung zu besudeln.

Die russischen Verräter des Sozialismus unterscheiden sich von den europäischen nicht mehr als ein Vergewaltiger von einem Schänder.

Das siebente Argument. „Überdies verfügt das russische Proletariat über Mittel zur vollständigen Kontrolle über die von ihm Gewählten."

Das ist nicht wahr. Das Parteiwesen ist in Russland so jung, der Zerfall bei den Menschewiki und den Sozialrevolutionären so offensichtlich (der halbe Abfall Martows, die Proteste Kamkows, sein Wahlblock mit uns gegen seine eigene Partei; der Block der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre mit dem „Jedinstwo", das sie selbst ja als imperialistisch bezeichnen, usw.), dass nicht nur keine „vollständige" Kontrolle, sondern überhaupt keine ernste Kontrolle des „Proletariats" über die Minister besteht.

Dazu ist das Proletariat ein Klassenbegriff, den zu gebrauchen die Menschewiki und Narodniki kein Recht haben, weil sie sich mehr auf das Kleinbürgertum stützen. Wenn ihr schon von Klassen redet, so drückt euch genau aus!

Das achte Argument. „Der Eintritt der Vertreter des russischen sozialistischen (??) Proletariats (???) in die Regierung bedeutete keineswegs die Lockerung der Bande, die es mit den Sozialisten aller Länder verknüpfen, die den Kampf gegen den Imperialismus führen, er bedeutete im Gegenteil die Festigung dieser Bande im gemeinsamen Kampfe um den allgemeinen Frieden."

Das ist nicht wahr. Das ist eine Phrase und eine unwahre dazu.

Jedermann weiß, dass der Eintritt ins Ministerium in Russland die Bande gefestigt hat, die die Anhänger des Imperialismus, die Sozialchauvinisten, die Sozialimperialisten aller Länder, die Henderson u. Co., die Thomas u. Co., die Scheidemann u. Co. miteinander verknüpfen.

Ja, auch Scheidemann! Denn er hat begriffen, dass der deutsche Sozialimperialismus und sein verderblicher Einfluss auf die internationale Arbeiterbewegung gerettet wird, wenn sogar die Russen, trotz ihrer sehr großen Freiheit, trotz der Revolution ein Schandbündnis mit ihrer imperialistischen Bourgeoisie eingegangen sind.

1 Die Mitteilung der Abteilung für internationale Beziehungen beim Exekutivkomitee des Petrograder Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten an den Sekretär des Internationalen Sozialistischen Büros, Huysmans, lautete:

Angesichts der verschiedenen Deutungen, die der Eintritt der Vertreter des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten in die Provisorische Regierung hervorgerufen hat – manche wollten diesen Eintritt der Beteiligung an der Regierungsmacht unter ganz anderen Bedingungen gleichsetzen – hält es die Abteilung für internationale Beziehungen beim Rate der Arbeiterdeputierten für notwendig, folgendes festzustellen:

1. Die sozialistischen Minister sind vom Rat in die revolutionäre Provisorische Regierung entsandt worden mit dem bestimmten Auftrag, den allgemeinen Frieden auf dem Wege der Völkerverständigung zu erreichen und nicht den imperialistischen Krieg im Namen der Völkerbefreiung mit der Waffe in der Hand in die Länge zu ziehen.

2. Der Ausgangspunkt für die Teilnahme der Sozialisten an der revolutionären Regierung war nicht die Einstellung des Klassenkampfes, sondern seine Fortsetzung mit den Mitteln der politischen Macht. Deshalb ist auch der Eintritt der Sozialisten in die Regierung zwecks gemeinsamer Arbeit mit jenen Vertretern der bürgerlichen Parteien, die sich offen für die Politik der Demokratie und des Friedens ausgesprochen haben, erst möglich geworden, nachdem von den Feinden des russischen Proletariats die einen in der Peter-Pauls-Festung saßen und die andern durch die Bewegung der revolutionären Massen am 20. und 21. April der Macht beraubt wurden.

3. Die Teilnahme der Sozialisten an der Regierung ist erfolgt bei Vorhandensein voller Freiheit für das Proletariat und die Armee. Belagerungszustand, politische Zensur, Einschränkung des Streikrechts, der Versammlungen und des Wortes schmälern diese Freiheit nicht im Geringsten. Überdies verfügt das russische Proletariat über Mittel zur vollständigen Kontrolle über die von ihnen Gewählten.

4. Der Eintritt der Vertreter des russischen sozialistischen Proletariats in die Regierung bedeutet keineswegs die Lockerung der Bande, die es mit den Sozialisten aller Länder verknüpfen, die den Kampf gegen den Imperialismus führen, sondern bedeutet im Gegenteil die Festigung dieser Bande im gemeinsamen Kampfe um den allgemeinen Frieden." („Iswestija des Petrograder Rates , Nr. 78 vom 12. Juni [30. Mai] 1917).

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