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Wladimir I. Lenin 19170325 Die Revolution in Russland und die Aufgaben der Arbeiter aller Länder

Wladimir I. Lenin: Die Revolution in Russland und die Aufgaben der Arbeiter aller Länder1

[Geschrieben am 25. (12.) März 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 63-68]

Genossen, Arbeiter!

Was die Sozialisten, die dem Sozialismus treu geblieben und der wahnsinnigen Kriegspsychose nicht unterlegen sind, vorausgesehen haben, ist eingetreten. Die erste Revolution, erzeugt durch den räuberischen Weltkrieg zwischen den Kapitalisten der verschiedenen Länder, ist ausgebrochen. Der imperialistische Krieg, d. h. der Krieg um die Teilung der errafften Beute unter den Kapitalisten, um die Erdrosselung der schwachen Völker, hat begonnen sich in den Bürgerkrieg zu verwandeln, d. h. in den Krieg der Arbeiter gegen die Kapitalisten, in den Krieg der Werktätigen und Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker, gegen die Kaiser und Könige, gegen die Grundherren und Kapitalisten, in den Krieg für die endgültige Befreiung der Menschheit von den Kriegen, von dem Massenelend, von der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen!

Den russischen Arbeitern ist die Ehre und das Glück zugefallen, als erste die Revolution zu beginnen, d. h. den großen Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, den einzig berechtigten, gerechten Krieg.

Die Petersburger Arbeiter haben die Zarenmonarchie besiegt. In heldenmütigem Kampfe gegen die Polizei und die Truppen des Zaren, unbewaffnet gegen die Maschinengewehre vorstürmend, haben die Arbeiter den größten Teil der Soldaten der Petersburger Garnison auf ihre Seite gebracht. Dasselbe geschah in Moskau und anderen Städten. Von seinen Truppen verlassen, musste sich der Zar ergeben: er hat auf den Thron verzichtet, sowohl für sich selbst als auch für seinen Sohn. Er hat vorgeschlagen, seinen Bruder Michael auf den Thron zu setzen.

Dank der gewaltigen Schnelligkeit des Umsturzes, dank der direkten Unterstützung durch die englisch-französischen Kapitalisten, dank dem ungenügend entwickelten Klassenbewusstsein der gesamten Arbeiter- und Volksmasse in Petersburg, dank der Organisiertheit und Vorbereitung der russischen Grundbesitzer und Kapitalisten haben diese die Staatsmacht an sich gerissen. In der neuen russischen Regierung, der „Provisorischen Regierung"2, sind die wichtigsten Posten der des Ministerpräsidenten, das Innen- und das Kriegs-Ministerium, Lwow und Gutschkow zugefallen, d. h. den Oktobristen, die Nikolaus dem Blutigen und dem Henker Stolypin aus allen Kräften geholfen haben, die Revolution von 1905 zu erdrosseln, die Arbeiter und Bauern, die für Land und Freiheit kämpften, niederzuschießen und zu hängen. Weniger wichtige Ministerien fielen den Kadetten zu: das Außenministerium – Miljukow, das Unterrichtsministerium – Manuilow, das Landwirtschaftsministerium – Schingarjow. Und ein ganz unbedeutendes Pöstchen, das Justizministerium, überließ man dem Trudowik Kerenski, einem Schönredner, den die Kapitalisten brauchen, um das Volk mit leeren Versprechungen zu beruhigen, es mit wohlklingenden Phrasen zu betören, um es „auszusöhnen" mit der Regierung der Grundherren und Kapitalisten, die den Raubkrieg im Bunde mit den Kapitalisten Englands und Frankreichs fortsetzen will; einen Krieg, der geführt wird für die Annexion Armeniens, Konstantinopels, Galiziens; dafür, dass die englischen und französischen Kapitalisten behalten können, was sie den deutschen Kapitalisten geraubt haben (die gesamten deutschen Kolonien in Afrika), endlich dafür, dass sie den deutschen Kapitalisten die Beute wieder abjagen, die diese Räuber gemacht haben (einen Teil Frankreichs, Belgiens, Serbiens, Rumäniens usw.).

Natürlich konnten die Arbeiter kein Vertrauen zu einer solchen Regierung haben. Die Arbeiter haben die Zarenmonarchie gestürzt, indem sie für Frieden, Brot und Freiheit kämpften. Die Arbeiter fühlten sofort heraus, wieso es den Gutschkow, Miljukow u. Co. gelang, das Arbeitervolk um die Früchte seines Sieges zu bringen. Es gelang ihnen, weil die russischen Grundbesitzer und Kapitalisten gut vorbereitet und gut organisiert waren, weil auf ihrer Seite die Macht des Kapitals, der Reichtum sowohl der russischen wie der englischen und französischen Kapitalisten, d. h. der reichsten Kapitalisten der Welt steht. Die Arbeiter haben sofort begriffen, dass für den Kampf um Frieden, Brot und Freiheit die werktätigen Klassen, d. h. die Arbeiter, Soldaten und Bauern, sich organisieren, zusammenschließen und vereinigen müssen, getrennt von den Kapitalisten und gegen sie.

Und die Petersburger Arbeiter haben sich sofort nach dem Sieg über die Zarenmonarchie eine eigene Organisation geschaffen – den Rat der Arbeiterdeputierten; sie haben sofort damit begonnen, diese Organisation zu festigen und auszubauen, selbständige Räte der Soldaten- und Bauerndeputierten zu schaffen. Wenige Tage schon nach der Revolution zählte der Petersburger Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten über 1500 Vertreter von Arbeitern und Bauern im Waffenrock. Dieser Rat genoss bei den Eisenbahnern und der ganzen werktätigen Bevölkerung ein so großes Vertrauen, dass er sich zu einer wahren Volksregierung zu entwickeln begann.

Selbst die treuesten Freunde und Beschützer der Gutschkow-Miljukow, die treuesten Kettenhunde des englisch-französischen Räuberkapitals, Robert Wilson, der Mitarbeiter des schwerreichen englischen Kapitalistenblattes „Times", und Charles Rivet, der Mitarbeiter des nicht minder reichen französischen Kapitalistenblattes „Temps", selbst sie, die den Rat der Arbeiterdeputierten wütend beschimpften, waren genötigt festzustellen, dass es in Russland zwei Regierungen gibt. Eine – die „von allen" (d. h. in Wirklichkeit von allen Besitzenden) anerkannt wird, die Regierung der Großgrundbesitzer und Kapitalisten, der Gutschkow-Miljukow. Die andere – die „niemand" (aus den besitzenden Klassen) anerkennt – die Regierung der Arbeiter und Bauern: der Petersburger Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der bestrebt ist, in ganz Russland Arbeiter- und Bauerndeputiertenräte zu bilden.

Sehen wir, was die beiden Regierungen sagen und was sie tun.

1. Was tut die Regierung der Grundbesitzer und der Kapitalisten, die Regierung der Lwow-Gutschkow-Miljukow?

Diese Regierung macht nach rechts und links die großartigsten Versprechungen. Sie verheißt dem russischen Volk die denkbar größte Freiheit. Sie verspricht die Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung zur Festsetzung der Staatsform Russlands. Kerenski und die Führer der Kadetten behaupten, Anhänger der demokratischen Republik zu sein. In Bezug auf revolutionäre Theatergesten sind die Gutschkow-Miljukow unübertrefflich. Auf die Reklame verstehen sie sich. Wie aber steht es um ihre Taten?

Die neue Regierung versprach dem Volke Freiheiten, in Wirklichkeit aber verhandelte sie mit der Zarenfamilie, der Dynastie, über die Wiedereinführung der Monarchie. Sie bot Michael Romanow die Regentschaft an, d. h. sie wollte ihn zum provisorischen Zaren machen. Die Monarchie wäre in Russland schon längst wieder eingeführt, wenn die Gutschkow-Miljukow nicht von den Arbeitern daran gehindert worden wären, die in Petersburg Demonstrationen veranstalteten unter den Losungen „Land und Freiheit, Tod den Tyrannen!", die zusammen mit Kavallerieabteilungen auf dem Platze vor der Duma aufmarschierten und ihre Banner entrollten, mit der Inschrift: „Es lebe die sozialistische Republik in allen Ländern!" Der Verbündete der Gutschkow-Miljukow, Michael Romanow, merkte, dass es unter solchen Umständen ratsamer sei, auf die Regentschaft zu verzichten, solange er nicht von der Konstituante auf den Thron gesetzt sei, und so blieb Russland – provisorisch – eine Republik.

Die Regierung ließ den früheren Zaren in Freiheit. Die Arbeiter erzwangen seine Verhaftung. Die Regierung wollte Nikolai Nikolajewitsch Romanow zum Oberbefehlshaber der Armee ernennen. Die Arbeiter erzwangen seine Absetzung. Es ist klar, dass die Großgrundbesitzer, die Lwow und Gutschkow, sich schon morgen mit Romanow oder einem anderen Großgrundbesitzer verständigen würden, wenn es keinen Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten gäbe.

Die Regierung erklärte sowohl in ihrem Manifest an das Volk als auch in dem Telegramm Miljukows an alle Vertreter Russlands im Auslande, dass sie allen internationalen Verträgen, die Russland geschlossen hat, die Treue halten werde. Diese Verträge hat der gestürzte Zar geschlossen. Die Regierung wagt es nicht, diese Verträge zu veröffentlichen, 1. weil sie durch das russische, englische und französische Kapital an Händen und Füßen gebunden ist; 2. weil sie fürchtet, dass das Volk die Gutschkow-Miljukow in Stücke reißen würde, wenn es erführe, dass die Kapitalisten noch fünf, noch zehn Millionen russischer Arbeiter und Bauern abschlachten lassen wollen, um Konstantinopel zu erobern, Galizien zu erdrosseln usw.

Welchen Wert hat die Verheißung der Freiheit, wenn das Volk nicht erfahren kann, wegen welcher Verträge des Großgrundbesitzerzaren die Kapitalisten das Blut der Soldaten noch weiter vergießen wollen? Welchen Wert haben die Versprechungen aller möglichen Freiheiten und sogar der demokratischen Republik für das Volk, dem der Hunger droht und das mit verbundenen Augen zur Schlachtbank geführt werden soll, damit die russischen, englischen, französischen Kapitalisten die deutschen ausrauben können?

Zugleich unterdrückt die Regierung der Gutschkow und Miljukow mit unverhüllter Gewalt jeden Versuch der russischen Arbeiter, sich mit ihren Brüdern, den Arbeitern der anderen Länder, zu verständigen: weder die seit der Revolution in Petersburg wieder erscheinende Zeitung „Prawda" noch das vom ZK unserer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, in Petersburg herausgegebene Manifest noch die Aufrufe des Abgeordneten Tschcheïdse und seiner Gruppe werden von der Regierung aus Russland herausgelassen!!

Arbeiter und Bauern! Ihr könnt beruhigt sein: man hat euch die Freiheit versprochen – die Freiheit für die Toten, für die Verhungerten und für die im Krieg Niedergemetzelten.

In ihren programmatischen Erklärungen sagt die neue Regierung weder über die Landzuteilung an die Bauern noch über die Erhöhung der Arbeitslöhne auch nur ein Wort Bis heute ist noch keine Frist festgesetzt für die Einberufung der Konstituante. Es sind keine Wahlen zur Petersburger Stadtduma ausgeschrieben. Die Volksmiliz unterstellt man den Semstwos und den städtischen Selbstverwaltungen, die auf Grund des Stolypinschen Gesetzes nur von den Kapitalisten und den reichsten Grundbesitzern gewählt worden sind. Zu Gouverneuren werden Großgrundbesitzer ernannt. So sieht die „Freiheit" aus.

2. Was tut und was muss die Regierung der Arbeiter und Bauern tun?3

1 Dieser Aufsatz wurde ungefähr zur selben Zeit geschrieben, wie der vierte „Brief aus der Ferne", aber wahrscheinlich nachdem dieser Brief bereits fertig war. Offenbar sollte dieser Aufsatz als Aufruf des Zentralkomitees der Bolschewiki an das internationale Proletariat dienen, er wurde aber nicht zu Ende geschrieben.

2 Die erste Provisorische Regierung, die am 14. (1.) März 1917 auf Grund einer Vereinbarung zwischen dem Vollzugsausschuss der Reichsduma und dem Exekutivkomitee des Petrograder Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten gebildet wurde, war folgendermaßen zusammengesetzt: Ministerpräsident und Innenminister: Fürst G. E. Lwow; Außenminister: P. N. Miljukow; Justizminister: A. F. Kerenski; Verkehrsminister: N. W. Nekrassow; Minister für Handel und Industrie: A. I. Konowalow; Minister für Volksbildung: A. A. Manuilow; Kriegs- und interimistischer Marineminister: A. I. Gutschkow; Landwirtschaftsminister: A. I. Schingarjow; Finanzminister: M. I. Tereschtschenko; Staatskontrolleur: I. W. Godnjew; Minister für Finnland: F. I. Roditschew; Oberprokurator des heiligen Synods: W. N. Lwow. (Letztere Stellung war gewissermaßen das Ministerium für die Angelegenheiten der griechisch-orthodoxen Kirche.)

3 Das Manuskript bricht hier ab. Die Red.

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