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Wladimir I. Lenin 19170621 Die Seuche der Vertrauensseligkeit

Wladimir I. Lenin: Die Seuche der Vertrauensseligkeit

[„Prawda" Nr. 76, 21. (8.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 158-160]

Genossen, der Widerstand der Kapitalisten ist anscheinend gebrochen."

Diese angenehme Botschaft entnehmen wir der Rede des Ministers Pjeschechonow. Eine verblüffende Botschaft! „Der Widerstand der Kapitalisten ist gebrochen …"1

Und solche Ministerreden hört man an, solchen Ministererklärungen klatscht man Beifall. Ist das nicht eine Seuche der Vertrauensseligkeit?

Einerseits schreckt man sich und andere mit der „Diktatur des Proletariats". Anderseits, wodurch unterscheidet sich denn der Begriff der „Diktatur des Proletariats" vom Brechen des Widerstandes der Kapitalisten? Durch gar nichts. Diktatur des Proletariats ist ein wissenschaftlicher Ausdruck, der jene Klasse bestimmt, die dabei eine Rolle spielt, und jene besondere Form der Staatsmacht, die man Diktatur nennt, nämlich der Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz, nicht auf Wahlen stützt, sondern unmittelbar auf die bewaffnete Macht dieses oder jenes Teiles der Bevölkerung.

Worin besteht der Sinn und die Bedeutung der Diktatur des Proletariats? Eben im Brechen des Widerstandes der Kapitalisten! Und wenn in Russland „der Widerstand der Kapitalisten anscheinend gebrochen ist", so bedeutet dieser Satz genau dasselbe, als wenn man sagte: in Russland „ist die Diktatur des Proletariats anscheinend verwirklicht".

Das Unglück ist „nur", dass wir es mit nichts anderem zu tun haben, als mit der Redensart eines Ministers. So etwas, wie Skobelews forscher Ausruf: „Ich werde 100 Prozent des Profits nehmen." Es ist eine der Blüten jener „revolutionär-demokratischen" Schönrednerei, mit der man Russland jetzt überschwemmt, mit der man das Kleinbürgertum berauscht, die Volksmassen korrumpiert und abstumpft und die Bazillen der Vertrauensseligkeit mit vollen Händen ausstreut.

In einem französischen Lustspiel – die Franzosen haben es, wie mir scheint, im Spielen mit sozialistischen Ministerien weiter gebracht als die anderen Völker – wird ein Grammophon dargestellt, das in den Wählerversammlungen in allen Gegenden Frankreichs eine Rede mit Versprechungen eines „sozialistischen" Ministers wiedergibt. Wir sind der Meinung, der Bürger Pjeschechonow sollte seinen historischen Ausspruch: „Genossen, der Widerstand der Kapitalisten ist anscheinend gebrochen", einer Grammophonplattengesellschaft übergeben. Es wird sehr gut und nützlich sein (für die Kapitalisten), diesen Satz in allen Sprachen in der ganzen Welt zu verbreiten: seht sozusagen die glänzenden Erfolge der russischen Erfahrung eines Koalitionsministeriums der Bourgeoisie mit den Sozialisten!

Immerhin könnte es nicht schaden, wenn der Minister Pjeschechonow, den jetzt, nach seinem Eintritt ins Ministerium zusammen mit Zeretelli und Tschernow, auch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre als Sozialisten bezeichnen (im Jahre 1906 rückten sie von ihm öffentlich in der Presse ab, als von einem Kleinbürger, der zu weit nach rechts gegangen war), wenn der Bürger Pjeschechonow uns jetzt eine einfache und bescheidene Frage beantworten würde:

Wie sollen wir es anfangen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen! Sollten wir nicht lieber vor den Arbeiterorganisationen und vor allen großen Parteien die unerhörten Profite der Kapitalisten aufdecken? Oder das Geschäftsgeheimnis aufheben?

Wozu von der „Diktatur des Proletariats" („den Widerstand der Kapitalisten brechen") reden! Wäre es nicht besser, die Staatskassendiebstähle aufzudecken?

Wenn die Revolutionsregierung, wie die ministerielle „Rabotschaja Gazeta" berichtete, die Lieferungspreise für Kohle erhöht hat, sieht das nicht einem Staatskassendiebstahl ähnlich? Wäre es nicht besser, mindestens allwöchentlich die „Garantiebriefe" der Banken und andere Dokumente über Kriegslieferungen und über die Preise dieser Lieferungen zu veröffentlichen, anstatt über den „gebrochenen Widerstand der Kapitalisten" Reden zu halten?

1 Es handelt sich um den Bericht des Ernährungsministers A. Pjeschechonow in der Sitzung des Rätekongresses vom 18. (5.) Juni 1917 über die Ernährungsfrage.

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