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Wladimir I. Lenin 19170630 Die Ukraine und die Niederlage der russischen Regierungsparteien

Wladimir I. Lenin: Die Ukraine und die Niederlage der russischen Regierungsparteien

[„Prawda“ Nr. 84, 30. (17.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 192-195]

In der ukrainischen Frage haben die russischen Regierungsparteien, d. h. die Kadetten, die in der Regierung die Mehrheit und in der Wirtschaft die ganze Macht des Kapitals besitzen, ferner die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, die gegenwärtig die unbestrittene Mehrheit im Lande haben (aber in der Regierung und in der Wirtschaft des kapitalistischen Landes ohnmächtig sind), diese Regierungsparteien haben alle eine offenkundige Niederlage erlitten, und zwar im Reichsmaßstabe und in einer höchst wichtigen Frage.

Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki haben es geduldet, dass die Provisorische Regierung der Kadetten, d. h. der konterrevolutionären Bourgeois, ihre elementare demokratische Pflicht nicht erfüllte und nicht erklärte, dass sie für die Autonomie der Ukraine eintrete und dass es dieser völlig freistehe, sich loszutrennen. Die Ukrainer haben, wie der Minister Tschernow heute im „Djelo Naroda" berichtet, unvergleichlich weniger gefordert, nämlich, „dass die Provisorische Regierung in einem besonderen Erlass kundgeben solle, dass sie nicht gegen das Recht des ukrainischen Volkes auf Autonomie ist". Das ist eine äußerst bescheidene und äußerst berechtigte Forderung, ebenso bescheiden wie die beiden anderen Forderungen: 1. Die Bevölkerung der Ukraine wählt einen Vertreter in die russische Zentralregierung; wie bescheiden diese Forderung ist, erhellt aus der Tatsache, dass die Großrussen im Jahre 1897 43 Prozent der Gesamtbevölkerung Russlands ausmachten und die Ukrainer 17 Prozent; die Ukrainer könnten also nicht einen Minister von 16, sondern sechs verlangen!! 2. In der Ukraine soll „ein von der örtlichen Bevölkerung gewählter Vertreter der russischen Zentralregierung" seinen Sitz haben – was könnte berechtigter sein? Mit welchem Recht untersteht sich ein Demokrat, von dem durch die Theorie bewiesenen und durch die Erfahrung der demokratischen Revolutionen bestätigten Grundsatz abzugehen: „Keinerlei von oben ernannte Behörden für die örtliche Bevölkerung"??

Die Ablehnung dieser so bescheidenen und so berechtigten Forderungen durch die Provisorische Regierung war eine unerhörte Schamlosigkeit, eine maßlose Frechheit von Konterrevolutionären, eine echte Äußerung der großrussischen „Halt die Fresse"-Politik –, und die Sozialrevolutionäre samt den Menschewiki haben das, ihre eigenen Parteiprogramme verhöhnend, in der Regierung geduldet und verteidigen es jetzt in ihrer Presse!! Bis zu welcher Schmach sind doch die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki gesunken! Zu welch erbärmlichen Ausflüchten greifen heute ihre Organe, das „Djelo Naroda" und die „Rabotschaja Gazeta"!

Chaos, Wirrwarr, „Leninismus in der nationalen Frage", Anarchie – in dieser Sprache eines rabiaten Junkers toben beide Zeitungen gegen die Ukrainer.

Lassen wir das Geschrei auf sich beruhen. Wie sehen die sachlichen Argumente aus?

Bevor die Konstituante zusammengetreten ist, könne weder über die Grenzen der Ukraine noch über ihren Willen noch über ihr Recht auf Erhebung von Steuern usw. usf. eine „rechtmäßige" Entscheidung getroffen werden – das ist ihr einziges Argument. Sie fordern eine „Garantie der Rechtmäßigkeit", in dieser Formel aus dem redaktionellen Artikel der „Rabotschaja Gazeta" liegt das ganze Wesen ihrer Argumentation.

Aber das ist doch ein ausgemachter Schwindel, ihr Herren, eine offenkundige konterrevolutionäre Schamlosigkeit; ein solches Argument ins Feld führen, heißt doch praktisch die wahren Verräter und Judasse der Revolution unterstützen!!

Garantien der Rechtmäßigkeit" – man überlege das doch nur eine Sekunde lang. Nirgends in Russland, weder in der Zentralregierung noch in irgendeiner örtlichen Körperschaft (abgesehen von einer ganz kleinen: den Bezirksdumas von Petersburg) gibt es eine Garantie der Rechtmäßigkeit, die Rechtmäßigkeit ist sogar erwiesenermaßen nicht vorhanden. Es gibt erwiesenermaßen keine „Rechtmäßigkeit" für die Existenz der Reichsduma und des Reichsrates. Es gibt erwiesenermaßen keine „Rechtmäßigkeit" in der Zusammensetzung der Provisorischen Regierung, denn diese Zusammensetzung ist ein Hohn auf den Willen und das Bewusstsein der Mehrheit der Bauern, Arbeiter und Soldaten Russlands. Erwiesenermaßen gibt es keine „Rechtmäßigkeit" in der Zusammensetzung der Räte (der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten), denn Garantien für die absolute Vollständigkeit und die streng demokratische Durchführung der Wahlen haben diese Körperschaften bis jetzt noch nicht geschaffen, was weder unsere Partei noch die gesamte Masse der Arbeiter und Bauern daran hindert, in ihnen im gegenwärtigen Augenblick den besten Ausdruck des Willens der Volksmehrheit zu sehen. „Garantien der Rechtmäßigkeit" gibt es in Russland nirgends und kann es nicht geben und niemals hat es in revolutionären Augenblicken etwas Derartiges gegeben – das begreifen alle, niemand verlangt es anders, jedermann erkennt, dass es unvermeidlich ist.

Nur für die Ukraine fordern „wir" „Garantien der Rechtmäßigkeit"!

Ihr habt vor Angst den Verstand verloren, ihr Herren Sozialrevolutionäre und Menschewiki, ihr seid hereingefallen auf das konterrevolutionäre Geschrei der großrussischen Grundherren und Kapitalisten, an deren Spitze die Rodsjanko und Miljukow, die Lwow und Tereschtschenko, die Nekrassow, Schingarjow u. Co. stehen. Ihr bietet jetzt schon das Schauspiel von Leuten, die durch die kommenden (und „im Hintergrund lauernden" > Cavaignacs eingeschüchtert sind.

In den Beschlüssen und Forderungen der Ukrainer ist nichts Schreckliches, nicht die Spur von Anarchie und Chaos zu finden. Gebt diesen durchaus berechtigten und bescheidenen Forderungen nach, und in der Ukraine wird es nicht weniger Autorität geben als überall sonst in Russland, wo nur die Sowjets Autorität besitzen die keine „Garantien der Rechtmäßigkeit" besitzen!!). Die Garantien der Rechtmäßigkeit" werden euch wie allen Völkern Russlands die kommenden Landtage, die kommende Konstituante geben, und nicht allein in der ukrainischen, sondern in allen Fragen, denn jetzt gibt es in Russland erwiesenermaßen in keiner Frage „Rechtmäßigkeit". Gebt den Ukrainern nach das ist das Gebot der Vernunft, sonst wird es schlimmer kommen; mit Gewalt wird man die Ukrainer nicht halten, sondern bloß erbittern. Gebt den Ukrainern nach – ihr werdet damit den Weg ebnen zum gegenseitigen Vertrauen beider Nationen, zu ihrem brüderlichen Bündnis als ebenbürtige Partner!

Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben als Regierungsparteien in der ukrainischen Frage eine Niederlage erlitten, da sie den konterrevolutionären kadettischen Cavaignacs auf den Leim gegangen sind.

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