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Wladimir I. Lenin 19170628 Die Ukraine

Wladimir I. Lenin: Die Ukraine

[„Prawda" Nr. 82, 28. (15.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 185 f.]

Der Zusammenbruch der Politik der neuen Provisorischen Regierung, der Koalitionsregierung, kommt immer deutlicher zum Vorschein. Der von der ukrainischen Zentralrada erlassene und am 11. Juni 1917 vom Allukrainischen Armeekongress angenommene „Universalakt" über die staatliche Neuordnung der Ukraine1 entlarvt diese Politik und ist ein dokumentarisches Zeugnis ihres Bankrotts.

Ohne sich vom übrigen Russland zu trennen, ohne sich vom russischen Reich loszureißen – heißt es in diesem Akt –, soll das ukrainische Volk das Recht haben, in seinem eigenen Lande sein eigenes Leben selbst zu bestimmen … Alle Gesetze, die die örtlichen Angelegenheiten der Ukraine betreffen, können nur von unserer ukrainischen Nationalversammlung erlassen werden; jene Gesetze jedoch, die die Staatsordnung des russischen Reiches in seiner Gesamtheit bestimmen, müssen vom allrussischen Parlament erlassen werden."

Das sind vollkommen klare Worte. Hier wird ganz eindeutig erklärt, dass das ukrainische Volk sich im gegenwärtigen Augenblick von Russland nicht loslösen will. Es verlangt Autonomie, bestreitet aber keineswegs die Notwendigkeit und Obergewalt eines „allrussischen Parlaments". Kein Demokrat, geschweige denn ein Sozialist, wird es wagen, die vollständige Berechtigung der ukrainischen Forderungen in Abrede zu stellen. Es kann auch kein Demokrat das Recht der Ukraine bestreiten, sich ungehindert von Russland zu trennen: gerade die vorbehaltlose Anerkennung dieses Rechtes allein gibt erst die Möglichkeit, für den freien Bund der Ukrainer und Großrussen, für die freiwillige Vereinigung der beiden Völker zu einem Staate zu agitieren. Gerade die vorbehaltlose Anerkennung dieses Rechtes allein ist imstande, wirklich, unwiderruflich, restlos mit der verfluchten zaristischen Vergangenheit zu brechen, die alles getan hat, um die ihrer Sprache, ihrem Wohnsitz, ihrem Charakter und ihrer Geschichte nach so nahe verwandten Völker gegenseitig zu entfremden. Der verfluchte Zarismus machte die Großrussen zu Henkern des ukrainischen Volkes, züchtete in diesem mit allen Mitteln den Hass gegen jene, die selbst den ukrainischen Kindern verboten, ihre Muttersprache zu sprechen und in ihr zu lernen.

Die revolutionäre Demokratie Russlands muss, wenn sie wirklich revolutionär, wirklich demokratisch sein will, mit dieser Vergangenheit brechen, sie muss sich, den Arbeitern und Bauern Russlands, das brüderliche Vertrauen der Arbeiter und Bauern der Ukraine wiedergewinnen. Das lässt sich nicht erreichen ohne die vollständige Anerkennung der Rechte der Ukraine, auch des Rechtes auf freie Lostrennung.

Wir sind keine Anhänger der Kleinstaaterei. Wir sind für das engste Bündnis der Proletarier aller Länder gegen die Kapitalisten der „eigenen" und aller Länder überhaupt. Aber gerade damit dieses Bündnis ein freiwilliges sei, tritt der russische Arbeiter, ohne auch nur für einen Augenblick der russischen oder der ukrainischen Bourgeoisie das geringste Vertrauen zu schenken, jetzt für das Recht der Ukrainer auf Lostrennung ein, nicht indem er ihnen seine Freundschaft aufzwingt, sondern indem er diese Freundschaft gewinnt dadurch, dass er sie als Gleichberechtigte, als Bundesgenossen und Brüder im Kampfe für den Sozialismus behandelt.

Das Blatt der erbosten, vor Wut halb verrückt gewordenen bürgerlichen Konterrevolutionäre, die „Rjetsch", fällt wütend über die Ukrainer wegen ihrer „eigenmächtigen" Entscheidung her. „Das Vorgehen der Ukrainer" sei ein „direkter Verstoß gegen das Gesetz und müsse sofort mit der ganzen Schärfe des Gesetzes geahndet werden"2. Jeder Kommentar zu diesem Ausfall der rasend gewordenen bürgerlichen Konterrevolution ist überflüssig. Nieder mit der konterrevolutionären Bourgeoisie! Es lebe das freie Bündnis der freien Bauern und Arbeiter der freien Ukraine mit den Arbeitern und Bauern des revolutionären Russlands!

1Der Universalakt der ukrainischen Zentralrada besagte u. a.: „Ohne sich vom übrigen Russland zu trennen, ohne sich vom russischen Reich loszureißen, soll das ukrainische Volk das Recht haben, in seinem eigenen Lande sein eigenes Leben selbst zu bestimmen, soll eine durch allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht gewählte ukrainische Nationalversammlung – ein Sejm – die staatliche Ordnung in der Ukraine festlegen. Alle Gesetze, die die örtlichen Angelegenheiten der Ukraine betreffen, können nur von unserer ukrainischen Nationalversammlung erlassen werden; jene Gesetze jedoch, die die Staatsordnung des russischen Reiches in seiner Gesamtheit bestimmen, müssen vom allrussischen Parlament erlassen werden… Wir dachten, dass die Zentralregierung Russlands uns bei dieser Arbeit die Hand entgegenstrecken werde, dass wir, die Ukrainische Zentralrada, in Übereinstimmung mit ihr eine Rechtsordnung in unserm Lande werden errichten können, die Provisorische Regierung aber hat alle unsere Forderungen abgelehnt… Wir, die Ukrainische Zentralrada, erlassen diesen Universalakt an unser gesamtes Volk und erklären, dass wir nunmehr selbst unser Leben schaffen werden… Dort, wo die administrative Macht aus irgendwelchen Gründen in ukrainefeindlichen Händen verblieben ist, weisen wir unsere Bürger an, eine umfassende, machtvolle Organisation und Information der Bevölkerung einzuleiten und dann die Administration neu zu wählen. In den Städten und denjenigen Orten, wo die ukrainische Bevölkerung zusammen mit andern Nationalitäten lebt, weisen wir alle Bürger an, sich sofort mit den Demokratien aller Nationalitäten zu verständigen und zusammen mit ihnen an die Vorbereitung eines neuen rechtmäßigen Lebens zu gehen … Nachdem wir diese organisatorische Vorarbeit geleistet haben, werden wir die Vertreter aller Völker des ukrainischen Landes zusammentreten lassen und die Gesetze für das Land schaffen, jene Gesetze, deren Aufbau wir vorbereiten werden, und die allrussische Konstituierende Versammlung wird sie durch ihr Gesetz zu bestätigen haben… Wir, die Ukrainische Zentralrada, verordnen allen organisierten Bürgern der Städte und Dörfer und allen ukrainischen öffentlichen Ämtern, vom 1. Juli ab die Bevölkerung mit einer Steuer für die Volkssache zu belegen… Ukrainisches Volk, dein Schicksal liegt in deinen Händen…"

2 Aus dem Leitartikel der „Rjetsch" Nr. 137 vom 27. (14.) Juni 1917.

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