Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170614 Ein kleinbürgerlicher Standpunkt zur Frage der wirtschaftlichen Zerrüttung

Wladimir I. Lenin: Ein kleinbürgerlicher Standpunkt zur Frage der wirtschaftlichen Zerrüttung

[„Prawda", Nr. 70, 14. (1.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, and 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 93-95]

Die „Nowaja Schisn" veröffentlicht heute die vom Genossen Awilow in der Betriebsrätekonferenz vorgeschlagene Resolution. Leider muss diese Resolution als das Muster einer unmarxistischen, unsozialistischen und kleinbürgerlichen Einstellung zu dieser Frage bezeichnet werden. Und gerade weil diese Resolution alle schwachen Seiten der üblichen menschewistischen und sozialrevolutionären Räteresolutionen mit außerordentlicher Deutlichkeit zusammenfasst, gerade deshalb ist sie typisch und verdient Beachtung.

Die Resolution beginnt mit einem ausgezeichneten Gemeinplatz, mit einer prächtigen Anklage gegen die Kapitalisten: „Die jetzige wirtschaftliche Zerrüttung, die eine Folge des Krieges und der anarchischen Raubwirtschaft der Kapitalisten und der Regierung ist" Stimmt! Dass das Kapital unterdrückt, dass es räubert, dass gerade das Kapital die Quelle der Anarchie ist, – darin ist der Kleinbürger bereit, mit dem Proletarier übereinzustimmen. Aber der Unterschied zwischen diesem und jenem beginnt sofort: der Proletarier betrachtet die Wirtschaft der Kapitalisten als eine räuberische und darum führt er den Klassenkampf gegen sie, darum baut er die ganze Politik auf unbedingtem Misstrauen gegen die Kapitalistenklasse auf, darum unterscheidet er in der Frage des Staates vor allen Dingen, welcher Klasse der „Staat" dient, die Interessen welcher Klasse er vertritt. Der Kleinbürger ist mitunter „wütend" über das Kapital, aber nach dem Wutanfall hat er gleich wieder Vertrauen zu den Kapitalisten, zu den Hoffnungen, die er auf den „Staat" … der Kapitalisten setzt.

So auch Genosse Awilow.

Nach der ausgezeichneten, entschiedenen, drohenden Einleitung, die die Kapitalisten der „Räuberei" beschuldigt, und sogar nicht nur die Kapitalisten, sondern auch die Kapitalistenregierung, vergisst Genosse Awilow in der ganzen Resolution, in ihrem ganzen konkreten Inhalt, in allen ihren praktischen Vorschlägen den Klassenstandpunkt, und schließlich gleitet er, ebenso wie die Menschewiki und Narodniki, zu Phrasen über den „Staat" überhaupt, über die „revolutionäre Demokratie" überhaupt, herab.

Arbeiter! Das räuberische Kapital erzeugt durch seine Raubpolitik Anarchie und Zerstörung, wobei die Regierung der Kapitalisten ebenso anarchisch wirtschaftet. Die Rettung liegt in der Kontrolle durch den „Staat unter Teilnahme der revolutionären Demokratie". Das ist der Inhalt der Resolution Awilows.

Gott sei Ihnen gnädig, Genosse Awilow! Darf ein Marxist vergessen, dass der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist? Ist es nicht lächerlich, gegen die „Raubpolitik der Kapitalisten" an den Staat der Kapitalisten zu appellieren?

Ist es einem Marxisten erlaubt, zu vergessen, dass die Kapitalisten in der Geschichte aller Länder des Öfteren, so 1649 in England, 1789 in Frankreich, 1830, 1848 und 1870 ebenfalls in Frankreich und im Februar 1917 in Russland „revolutionäre Demokraten" gewesen sind?

Haben Sie denn wirklich vergessen, dass man die revolutionäre Demokratie der Kapitalisten, des Kleinbürgertums, des Proletariats voneinander unterscheiden muss? Läuft denn nicht die ganze Geschichte aller von mir soeben aufgezählten Revolutionen hinaus auf den Klassenunterschied innerhalb der „revolutionären Demokratie"?

Wer heute, nach der Erfahrung des Februar, des März, des April, des Mai 1917, in Russland noch immer von einer „revolutionären Demokratie" überhaupt spricht, der betrügt, wissentlich oder unwissentlich, bewusst oder unbewusst, das Volk. Denn der „Augenblick" der allgemeinen Verschmelzung der Klassen gegen den Zarismus war gewesen und ist vorbei. Schon die erste Vereinbarung des ersten „provisorischen Vollzugsausschusses" der Reichsduma mit dem Sowjet bedeutete bereits das Ende der Klassenverschmelzung und den Beginn des Klassenkampfes.

Die Aprilkrise (20. April), dann der 6. Mai, dann der 27. bis 29. Mai (die Wahlen) usw. usw. haben die Klassen in der russischen Revolution innerhalb der russischen „revolutionären Demokratie" bereits endgültig voneinander getrennt. Das nicht sehen wollen, heißt in die Hilflosigkeit des Kleinbürgers verfallen.

Jetzt den „Staat" und die „revolutionäre Demokratie" anrufen und noch dazu ausgerechnet in der Frage der Raubpolitik der Kapitalisten, heißt die Arbeiterklasse nach rückwärts zerren, heißt in Wirklichkeit den vollständigen Stillstand der Revolution predigen. Denn unser „Staat" ist jetzt, nach dem April, nach dem Mai, der Staat der (räuberischen) Kapitalisten, die sich einen erklecklichen Teil der „revolutionären (kleinbürgerlichen) Demokratie" in der Person von Tschernow, Zeretelli u. Co. gefügig gemacht haben.

Dieser Staat hemmt die Revolution überall, auf allen Gebieten der Außen- und Innenpolitik.

Diesem Staat die Bekämpfung der „Raubpolitik" der Kapitalisten überlassen, heißt den Hecht ins Wasser werfen.

Kommentare