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Wladimir I. Lenin 19170516 Ein trauriges Dokument

Wladimir I. Lenin: Ein trauriges Dokument

[„Prawda" Nr. 47, 16. (3.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 434-437]

Der Aufruf des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates an die Armee1, der gestern in den Zeitungen erschienen ist, bedeutet ein neuerliches Überlaufen der Führer des Rates, der Narodniki und der Menschewiki, in das Lager der russischen imperialistischen Bourgeoisie.

Die Konfusion in diesem Aufruf ist geradezu erstaunlich. Nur Leute, deren Gehirn von der „revolutionären" Phrase ganz verkleistert ist, können das nicht merken.

„… das werktätige Volk braucht den Krieg nicht. Nicht das Volk hat ihn begonnen. Die Monarchen und die Kapitalisten aller Länder haben ihn angezettelt …"

Richtig. Stimmt. Und wenn der Aufruf „die Arbeiter und Bauern Deutschlands und Österreich-Ungarns zum Aufstand, zur Revolution aufruft", so begrüßen wir das ebenfalls von ganzem Herzen, denn das ist eine richtige Losung.

Wie kann man aber neben dieser unbestreitbaren Wahrheit folgende hanebüchene Unwahrheit sagen:

„… Ihr (die russischen Soldaten) verteidigt mit euren Leibern nicht den Zaren, nicht die Protopopows und Rasputins, nicht die reichen Grundherren und Kapitalisten …"

Die von uns unterstrichenen Worte sind eine offenkundige hanebüchene Unwahrheit.

Denn, wenn das werktätige Volk den Krieg „nicht braucht", wenn nicht nur die Monarchen, sondern auch die „Kapitalisten aller Länder" diesen Krieg angezettelt haben (was im Aufruf des Rates ganz eindeutig festgestellt wird), dann ist es doch offensichtlich, dass, solange irgendein Volk in diesem Kriege bei sich die Kapitalistenregierung duldet, es gerade die Kapitalisten „verteidigt".

Entweder – oder: entweder tragen am gegenwärtigen Krieg nur die österreichisch-deutschen Kapitalisten die „Schuld". Wenn das die Auffassung der Führer des Petrograder Rates, der Narodniki und Menschewiki, ist, dann sind sie vollkommen zu Plechanow, dem russischen Scheidemann, abgeglitten. Dann müsste man aber die Worte, dass der Krieg von den „Kapitalisten aller Länder" „angezettelt" wurde, als unwahr streichen. Dann müsste man die Losung „Friede ohne Annexionen" als unwahr über Bord werfen, denn die richtige Losung für eine solche Politik wäre: den Deutschen ihre deutschen Annexionen wegnehmen, den Engländern und Russen aber ihre englisch-russischen Annexionen lassen (und sie noch vermehren).

Oder diesen Krieg haben wirklich die „Kapitalisten aller Länder" angezettelt. Wollen die Narodniki- und Menschewikiführer des Rates diese unbestreitbare Wahrheit nicht verleugnen, so darf man die empörende Unwahrheit nicht dulden, als verteidigten die russischen Soldaten „nicht" die Kapitalisten, solange sie die Regierung der Kapitalisten dulden.

Dann muss man auch den russischen (nicht nur den österreichisch-deutschen) Soldaten die Wahrheit sagen: Genossen Soldaten! Solange wir und ihr bei uns die Regierung der Kapitalisten dulden, solange die Geheimverträge des Zaren als Heiligtum angesehen werden, führen wir eben einen imperialistischen Krieg, einen Eroberungskrieg, „verteidigen" wir die Raubverträge, die der Exzar Nikolaus mit den englisch-französischen Kapitalisten geschlossen hat.

Das ist eine bittere Wahrheit, es ist aber die Wahrheit. Dem Volke muss man die Wahrheit sagen. Erst dann werden ihm die Augen aufgehen und es wird lernen, die Unwahrheit zu bekämpfen.

Betrachten wir die Frage von einer anderen Seite – und wir werden uns wiederum von der vollkommenen Unwahrhaftigkeit des Aufrufes des Rates überzeugen. Er ruft die Arbeiter und Bauern Deutschlands „zum Aufstand" auf. Ausgezeichnet. Zum Aufstand gegen wen? Etwa nur gegen Wilhelm?

Wenn aber nun an die Stelle Wilhelms die deutschen Gutschkows und Miljukows, d. h. die Vertreter der deutschen Kapitalistenklasse treten würden, könnte sich dadurch der Eroberungscharakter des Krieges deutscherseits ändern? Es ist klar, dass das nicht der Fall wäre. Denn alle wissen, und der Aufruf des Rates gibt es zu, dass den Krieg die „Monarchen und Kapitalisten aller Länder angezettelt haben". Der Sturz der Monarchen ändert also rein gar nichts am Charakter des Krieges, wenn die Macht auf die Kapitalisten übergeht. Die Annexion Belgiens, Serbiens usw. hört dadurch nicht auf, Annexion zu sein, wenn an die Stelle Wilhelms die deutschen Kadetten treten – genau so, wie die Annexionen von Chiwa, Buchara, Armenien, Finnland, der Ukraine usw. nicht aufgehört haben, Annexionen zu sein, weil Nikolaus von den russischen Kadetten, den russischen Kapitalisten abgelöst wurde.

Und nun eine andere, die letzte mögliche Annahme, nämlich, dass der Aufruf des Rates die deutschen Arbeiter und Bauern zum Aufstand nicht nur gegen Wilhelm, sondern auch gegen die deutschen Kapitalisten auffordert. In diesem Falle antworten wir: das ist eine richtige Aufforderung! Wir sind damit vollkommen einverstanden. Nur eines, ihr lieben Mitbürger Tschernow, Tschcheïdse, Zeretelli, ist es denn gerecht, vernünftig, würdig, die Deutschen zum Aufstand gegen die Kapitalisten aufzufordern, während man selber bei sich zu Hause die Kapitalistenregierung unterstützt?

Ist euch denn nicht bange, ihr lieben Mitbürger, dass die deutschen Arbeiter euch der Unwahrhaftigkeit und sogar (Gott bewahre) der Heuchelei zeihen werden?

Ist euch denn nicht bange, dass die deutschen Arbeiter sagen werden: bei uns ist die Revolution noch nicht ausgebrochen, wir sind noch nicht so weit, dass unsere Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte offen mit den Kapitalisten über die Macht verhandeln. Wenn ihr, russische Brüder, schon so weit seid, warum predigt ihr uns den „Aufstand" (eine schwere, blutige, mühevolle Sache), statt selbst den Lwow und Co., die sich bereit erklärt haben, zurückzutreten, friedlich die Macht zu nehmen? Ihr beruft euch auf die Revolution in Russland, aber ihr Bürger Tschernow, Tschcheïdse, Zeretelli habt doch den Sozialismus studiert und wisst sehr wohl, dass eure Revolution einstweilen die Kapitalisten an die Macht gebracht hat. Ist es nicht eine dreifache Unwahrheit, wenn ihr im Namen der russischen Revolution, die die russischen imperialistischen Kapitalisten an die Macht gebracht hat, von uns Deutschen eine Revolution gegen die imperialistischen Kapitalisten verlangt? Oder ist bei euch der Internationalismus, die revolutionäre Gesinnung ein „Ausfuhrartikel": für die Deutschen die Revolution gegen die Kapitalisten, für die Russen aber (ungeachtet der über Russland dahin brausenden Revolution) die Verständigung mit den Kapitalisten?

Tschernow, Tschcheïdse, Zeretelli sind endgültig zur Verteidigung des russischen Imperialismus hinab geglitten

Das ist eine traurige Tatsache, aber eine Tatsache.

1 Der Aufruf des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates „An die Armee" vom 15. (2.) Mai 1917 bezweckte die Wiederherstellung der Disziplin, den Kampf gegen die Verbrüderung und die Vorbereitung der geplanten Offensive an der Front. Die Sozialkompromissler versuchten, an Stelle der überlebten patriotischen Ideale aus der Zeit des Zarismus den Soldaten in den Schützengräben die neu gebackene „revolutionäre" Ideologie des Krieges und der Offensive beizubringen. In dem Aufruf an die Armee hieß es u. a.: „…Das werktätige Volk brauchte den Krieg nicht … Nicht das Volk hat ihn begonnen. Die Kapitalisten aller Länder haben ihn angezettelt Der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat sich mit einem Aufruf an alle Völker über die Einstellung des Gemetzels gewendet … Russland erwartet die Antwort auf diesen Aufruf … Doch, Genossen Soldaten, denkt daran: unsere Aufrufe werden keinen Wert haben, wenn die Regimenter Wilhelms das revolutionäre Russland niedertrampeln werden … Was wird eintreten, wenn die russische Armee heute ihre Bajonette in die Erde stößt und sagen wird, dass sie nicht länger Krieg führen will, dass sie sich nicht darum kümmert, was in der Welt vorgeht! Es wird eintreten, dass der deutsche Kaiser, der deutsche Junker und Kapitalist ihren schweren Stiefel uns auf den Nacken setzen, unsere Städte, Dörfer und Provinzen besetzen, das russische Volk tributpflichtig machen werden. Haben wir denn deswegen Nikolaus gestürzt, um vor Wilhelm zu kuschen? … Der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten führt euch zum Frieden, indem er die Arbeiter und Bauern Deutschlands und Österreich-Ungarns zum Aufstand und zur Revolution ruft er führt euch zum Frieden, indem er bei unserer Regierung durchgesetzt hat dass sie auf die Eroberungspolitik verzichtet, indem er den gleichen Verzicht von den alliierten Mächten fordert, indem er einen internationalen Kongress der Sozialisten der ganzen Welt einberuft … Man braucht Zeit, Genossen Soldaten … Denkt daran, an den Fronten, in den Schützengräben steht ihr jetzt auf der Wacht der russischen Freiheit … Ihr verteidigt mit euern Leibern nicht den Zaren, nicht die Protopopows und Rasputins, nicht die reichen Grundbesitzer und Kapitalisten. Ihr verteidigt eure Brüder, die Arbeiter und Bauern. Man kann die Front nicht verteidigen, wenn man sich vornimmt unter allen Umständen in den Schützengräben keinen Finger zu rühren … Nur wenn man zur Offensive schreitet, kann man sich selbst oder seine Brüder an den andern Frontabschnitten vor Vernichtung und Untergang retten … Lehnt die Offensivaktionen nicht ab … Nehmt euch in acht vor Provokationen, nehmt euch in acht vor den Fallen! Die sich an der Front entwickelnde Verbrüderung kann sich leicht in eine solche Falle verwandeln … Dort gibt es noch keine Revolution, dort gehen die Truppen gemeinsam mit Wilhelm und Karl … Nicht durch Verbrüderung werdet ihr den Frieden erreichen, nicht durch eine stillschweigende Übereinkunft, die an der Front von einzelnen Kompanien, Bataillonen, Regimentern getroffen werden! Diejenigen, die euch versichern, dass die Verbrüderung der Weg zum Frieden sei, führen zu eurem Verderb, zum Verderb der russischen Freiheit. Schenkt ihnen keinen Glauben! … Schiebt alles beiseite, was eure Kampfkraft schwächt, was Zersetzung und Entmutigung in die Armee trägt. Eure Kampfkraft dient der Sache des Friedens …"

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