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Wladimir I. Lenin 19170504 Eine Grundfrage

Wladimir I. Lenin: Eine Grundfrage

Wie die Sozialisten urteilen, die ins Lager der Bourgeoisie übergegangen sind

[„Prawda" Nr. 37, 4. Mai (21. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 276-280]

Herr Plechanow zeigt das ausgezeichnet. In seinem an die „Arbeitsgemeinschaft der sozialistischen Studenten" gerichteten Brief „zum 1. Mai", den heute „Rjetsch", „Djelo Naroda", „Jedinstwo" abdrucken, schreibt er1:

„… Er (der internationale sozialistische Kongress von 1889) begriff, dass die soziale, genauer die sozialistische Revolution eine lange aufklärende und organisatorische Arbeit in den Tiefen der Arbeiterklasse voraussetzt. Das vergessen jetzt bei uns die Leute, die die russische werktätige Masse zur Ergreifung der politischen Macht aufrufen, die nur in dem Falle einen Sinn haben könnte, wenn die objektiven Bedingungen vorhanden wären, die für die soziale Revolution notwendig sind. Diese Bedingungen sind vorläufig noch nicht vorhanden"…

Und so weiter. Er schließt mit der Aufforderung, die Provisorische Regierung „einmütig zu unterstützen".

Diese Ausführungen des Herrn Plechanow sind äußerst typisch für die Betrachtungsweise eines Häufleins „gewesener Menschen", die sich Sozialdemokraten nennen. Und eben, weil sie typisch sind, verlohnt es sich, ausführlich darauf einzugehen.

Erstens, ist es klug und ist es ehrlich, sich auf den ersten Kongress der Zweiten Internationale zu berufen und nicht auf den letzten?

Der erste Kongress der Zweiten Internationale (1889-1914) war im Jahre 1889, der letzte in Basel im Jahre 1912. Das Baseler Manifest, das einstimmig von allen angenommen wurde, spricht genau, bestimmt, unumwunden, klar (so dass selbst die Herren Plechanow es nicht entstellen können) von der proletarischen Revolution, und zwar gerade im Zusammenhang mit dem nämlichen Krieg, der im Jahre 1914 ausgebrochen ist.

Es ist nicht schwer zu begreifen, warum die Sozialisten, die ins Lager der Bourgeoisie übergegangen sind, genötigt sind, entweder das ganze Baseler Manifest oder diese seine wichtigste Stelle zu „vergessen".

Zweitens, die Ergreifung der politischen Macht durch „die russische werktätige Masse – schreibt unser Verfasser – könnte nur in dem Falle einen Sinn haben, wenn die Bedingungen vorhanden wären, die für die soziale Revolution notwendig sind".

Das ist ein Brei an Stelle von Gedanken.

Nehmen wir sogar an, dass „sozial" anstatt „sozialistisch" ein Schreibfehler sei. Nicht nur darin besteht der Brei. Aus welchen Klassen besteht die russische werktätige Masse? Jeder weiß, dass sie aus Arbeitern und Bauern besteht. Wer von ihnen ist in der Mehrheit? Die Bauern. Was sind diese Bauern ihrer Klassenlage nach? Kleinbesitzer oder Zwergbesitzer. Es fragt sich nun: wenn die Kleinbesitzer die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und wenn für den Sozialismus die objektiven Bedingungen fehlen, wie kann sich dann die Mehrheit der Bevölkerung für den Sozialismus aussprechen?! Wer kann sprechen und wer spricht von der Einführung des Sozialismus gegen den Willen der Mehrheit?!

Herr Plechanow hat sich sogleich in der lächerlichsten Weise verhaspelt.

In eine lächerliche Lage zu geraten, das ist noch die geringste Strafe für denjenigen, der sich nach dem Vorbild der kapitalistischen Presse den „Feind" selbst zurechtmacht, statt die Worte dieser oder jener politischen Gegner genau zu zitieren.

Gehen wir weiter. In wessen Händen soll die „politische Macht" liegen, selbst vom Standpunkte eines vulgären bürgerlichen Demokraten aus der „Rjetsch"? Bei der Mehrheit der Bevölkerung. Bildet „die russische werktätige Masse", von der der in Verwirrung geratene Sozialchauvinist so wenig glücklich spricht, die Mehrheit der Bevölkerung Russlands? Zweifellos, und zwar die erdrückende Mehrheit!

Wie kann man also, ohne der Demokratie, selbst der in Miljukowscher Weise aufgefassten Demokratie, untreu zu werden, gegen die „Ergreifung der politischen Macht" durch die „russische werktätige Masse" sein?

Je tiefer in den Wald, desto mehr Holz. Jeder Schritt der Analyse zeigt bei Herrn Plechanow neue Abgründe heilloser Verwirrung.

Der Sozialchauvinist ist gegen den Übergang der politischen Macht in die Hände der Mehrheit der Bevölkerung Russlands!

Herr Plechanow hat etwas läuten hören, er weiß nur nicht, wo die Glocken hängen. Er hat auch die „werktätige Masse" mit der Masse der Proletarier und Halbproletarier verwechselt, obwohl Marxschon im Jahre 1875 vor einer solchen Verwechslung ausdrücklichgewarnt hat. Wir wollen dem gewesenen Marxisten Plechanow diesen Unterschied klarmachen.

Kann die Mehrheit der Bauern in Russland die Nationalisierung des Bodens verlangen und einführen? Zweifellos ja. Ist das eine sozialistische Revolution? Nein. Das ist noch eine bürgerliche Revolution. Denn die Nationalisierung des Bodens ist eine Maßnahme, die mit dem Kapitalismus vereinbar ist. Sie ist aber zugleich ein Schlag gegen das Privateigentum an einem äußerst wichtigen Produktionsmittel. Ein solcher Schlag stärkt die Proletarier und Halbproletarier unvergleichlich mehr, als es in den Revolutionen des XVII., XVIII. und XIX. Jahrhunderts der Fall war.

Weiter. Kann die Mehrheit der Bauern in Russland für die Verschmelzung aller Banken zu einer Bank eintreten, kann sie dafür eintreten, dass in jedem Dörfchen eine Filiale der einen gesamtnationalen Staatsbank errichtet wird?

Das kann sie, denn die Bequemlichkeiten und Vorteile einer solchen Maßnahme für das Volk sind zweifellos. Selbst die „Oboronzen" können dafür eintreten, weil sie die „Wehrfähigkeit" Russlands um ein Vielfaches steigern wird.

Ist es ökonomisch möglich, sofort eine solche Verschmelzung aller Banken zu einer Bank durchzuführen? Es ist zweifellos durchaus möglich.

Ist das eine sozialistische Maßnahme? Nein, es ist noch kein Sozialismus.

Weiter. Kann die Mehrheit der Bauern in Russland dafür eintreten, dass das Syndikat der Zuckerfabrikanten in die Hände des Staates übergeht, der Kontrolle der Arbeiter und Bauern unterstellt und dass der Zuck er preis herabgesetzt wird?

Das kann sie durchaus, weil es für die Mehrheit des Volkes vorteilhaft ist.

Ist das ökonomisch möglich? Es ist durchaus möglich, denn das Syndikat der Zuckerfabrikanten ist faktisch nicht nur wirtschaftlich bereits zu einem einzigen Produktionsorganismus im Reichsmaßstab verschmolzen, sondern es hat schon unter dem Zarismus unter der Kontrolle des „Staates" (d. h. der Beamten, die den Kapitalisten dienen) gestanden.

Wird der Übergang des Syndikats in die Hände des demokratisch-bürgerlichen, bäuerlichen Staates eine sozialistische Maßnahme sein?

Nein, das ist noch kein Sozialismus. Herr Plechanow könnte sich davon leicht überzeugen, wenn er sich die allgemein bekannten Wahrheiten des Marxismus ins Gedächtnis rufen wollte.

Es fragt sich nun: werden solche Maßnahmen, wie die Verschmelzung aller Banken zu einer Bank und der Übergang des Syndikats der Zuckerfabrikanten in die Hände des demokratischen, bäuerlichen Staates die Bedeutung, die Rolle, den Einfluss der Proletarier und Halbproletarier, gemessen an der Gesamtkraft der ganzen Bevölkerung, stärken oder schwächen?

Sie werden sie zweifellos stärken, denn das sind keine „Kleinbesitzer"-Maßnahmen, da ihre Möglichkeit gerade durch jene „objektiven Bedingungen" geschaffen wurde, die im Jahre 1889 noch nicht vorhanden waren, jetzt aber schon vorhanden sind.

Solche Maßnahmen werden die Bedeutung, die Rolle, den Einfluss besonders der städtischen Arbeiter, der Avantgarde der Proletarier und Halbproletarier in Stadt und Land, auf die gesamte Bevölkerung unvermeidlich stärken.

Nach solchen Maßnahmen werden weitere Schritte zum Sozialismus in Russland durchaus möglich werden, und unter der Bedingung, dass unseren Arbeitern von Seiten der entwickelteren und mehr vorbereiteten westeuropäischen Arbeiter, die sich von den westeuropäischen Plechanows getrennt haben, Hilfe kommt, wird der wirkliche Übergang Russlands zum Sozialismus unvermeidlich und der Erfolg eines solchen Überganges gesichert sein.

So muss jeder Marxist und jeder Sozialist urteilen, der nicht auf die Seite „seiner" nationalen Bourgeoisie übergegangen ist.

1 Im „Jedinstwo" Nr. 18 vom 3. Mai (20. April) 1917 wurde ein Brief Plechanows an die Studenten abgedruckt. Plechanow, der infolge Krankheit nicht die Möglichkeit hatte, in der Versammlung am 1. Mai persönlich zu erscheinen, sandte an die Arbeitsgemeinschaft der sozialistischen Studenten, der „Veranstalterin der Versammlung", folgenden Brief: „Werte Genossen! Ich bedaure sehr, dass Krankheit – hoffentlich nicht für lange – mich verhindert, Ihnen persönlich meine Sympathien zum Ausdruck zu bringen. Aber es geht eben beim besten Willen nicht. Ich bin gezwungen, mich auf eine schriftliche Unterhaltung mit Ihnen zu beschränken. Für die Befreiungsbewegung des internationalen Proletariats ist es sehr wichtig, dass sich ihr möglichst viele Menschen mit Hochschulbildung anschließen. Die Bildung hilft, sich in den Erscheinungen zurechtzufinden und sie geschichtlich zu werten. Da ich in Ihrer Person es mit Menschen zu tun habe, die an ihrer Bildung arbeiten, erlaube ich mir, Ihre Aufmerksamkeit auf folgenden bemerkenswerten Umstand zu richten. Der Beschluss, den 1. Mai zu feiern, wurde auf dem Pariser internationalen sozialistischen Kongress im Jahre 1889 gefasst. Auf diesem Kongress waren Vertreter vieler kapitalistischer Länder, die damals schon auf einer höheren ökonomischen Entwicklungsstufe standen, als die, welche Russland jetzt erreicht hat. Die Anarchisten schlugen dem Kongress vor, das Proletariat zur sozialen Revolution aufzurufen. Der Kongress, der in seiner Mehrheit aus Marxisten bestand, forderte dieses Proletariat auf, für den Achtstundentag zu kämpfen. Er begriff, dass die soziale, genauer die sozialistische Revolution eine lange aufklärende und organisatorische Arbeit in den Tiefen der Arbeiterklasse voraussetzt. Das vergessen jetzt bei uns die Leute, die die russische werktätige Masse zur Ergreifung der politischen Macht aufrufen, die nur in dem Falle einen Sinn haben könnte, wenn die objektiven Bedingungen vorhanden wären, die für die soziale Revolution notwendig sind. Diese Bedingungen sind vorläufig noch nicht vorhanden, und Sie, die mit der wissenschaftlichen Methode vertraut sind, sollten alle diejenigen, die es angeht, so oft wie möglich daran erinnern. Die Aufgabe der linken Parteien in Russland besteht in der Befestigung der Positionen, die durch die soeben vollzogene Revolution erobert worden sind. Zur Lösung dieser Aufgabe ist es notwendig, die Provisorische Regierung nicht zu stürzen, wie das einige politische Fanatiker tun möchten, sondern sie einmütig zu unterstützen. G. Plechanow."

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