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Wladimir I. Lenin 19170610 Eine grundsätzliche Frage

Wladimir I. Lenin: Eine grundsätzliche Frage

Vergessene Worte" der Demokratie

[„Prawda" Nr. 68, 10. Juni (28. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 56-59]

Der schmutzige Strom von Lügen und Verleumdungen, den die Zeitungen der Kapitalisten über die Kronstädter Genossen ausgegossen haben, offenbarte wieder einmal die ganze Unehrlichkeit dieser Zeitungen, die jeden belanglosen und unwichtigen Vorfall zu einem „Staatsereignis", zu einem „Abfall" von Russland usw. usw. aufbauschen.

Die „Iswestija" des Petrograder Rates berichten in Nr. 74 über die Beilegung des Kronstädter Zwischenfalls: wie zu erwarten war, ist es den Ministern Zeretelli und Skobelew leicht gelungen, sich mit den Kronstädtern auf eine Kompromissresolution zu einigen. Selbstverständlich bringen wir die Hoffnung und Überzeugung zum Ausdruck, dass diese Kompromissresolution, wenn sie von beiden Seiten loyal durchgeführt wird, auf ziemlich lange Zeit die Möglichkeit einer reibungslosen Arbeit der Revolution in Kronstadt und im übrigen Russland schaffen wird.

Der Kronstädter Zwischenfall ist für uns in doppelter Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung.

Erstens hat er die von uns schon seit langem festgestellte und offiziell in einer Resolution unserer Partei (über die Räte) hervorgehobene Tatsache aufgezeigt, dass die Revolution in der Provinz weiter vorgeschritten ist als in Petrograd. Nicht nur die Kadetten, sondern auch die Narodniki und Menschewiki, die sich von der überall herrschenden revolutionären Phrase fortreißen ließen, waren nicht gewillt oder verstanden es nicht, sich die Bedeutung dieser Tatsache klarzumachen.

Zweitens hat der Kronstädter Zwischenfall eine sehr wichtige grundsätzliche, programmatische Frage aufgeworfen, an der kein ehrlicher Demokrat, geschweige denn ein Sozialist, gleichgültig vorübergehen kann. Das ist die Frage nach dem Recht der Zentralgewalt, die von der Ortsbevölkerung gewählten Beamten zu bestätigen.

Die Menschewiki, zu deren Partei die Minister Zeretelli und Skobelew gehören, erheben nach wie vor den Anspruch, Marxisten zu sein. Zeretelli und Skobelew waren es, die die Resolution über eine solche Bestätigung durchsetzten. Haben sie dabei an ihre Pflicht als Marxisten gedacht?

Sollte der Leser diese Frage naiv finden und bemerken, dass die Menschewiki in Wirklichkeit jetzt eine kleinbürgerliche Partei, und zwar eine Partei des Oboronzentums (d. h. eine chauvinistische Partei) geworden sind, und dass es daher lächerlich sei, von Marxismus zu reden, so werden wir darüber nicht streiten. Wir werden nur sagen, dass der Marxismus den Fragen der Demokratie im Allgemeinen stets viel Aufmerksamkeit widmet, und den Titel Demokrat dürfte man den Bürgern Zeretelli und Skobelew wohl kaum absprechen.

Haben sie nun bei der Durchführung der Resolution über die „Bestätigung" der von der Kronstädter Bevölkerung gewählten Beamten durch die Provisorische Regierung an ihre Pflicht als Demokraten gedacht? An ihren „Titel" Demokraten?

Offenbar nicht.

Zur Bestätigung dieser Schlussfolgerung wollen wir die Ansicht eines Schriftstellers anführen, der wahrscheinlich auch in den Augen Zeretellis und Skobelews seine wissenschaftliche und marxistische Autorität noch nicht ganz eingebüßt hat. Dieser Schriftsteller ist Friedrich Engels.

Im Jahre 1891 schrieb Engels in seiner Kritik des Programmentwurfs der deutschen Sozialdemokratie (des sogenannten Erfurter Programms1), dass das deutsche Proletariat die eine und unteilbare Republik brauche.

Aber nicht im Sinne der heutigen französischen – fügte Engels hinzu –, die weiter nichts ist als das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792-1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde vollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das müssen wir" (d. h. die deutschen Sozialdemokraten) „auch haben. Wie die Selbstverwaltung einzurichten ist und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann, das bewies uns Amerika und die erste französische Republik, und noch heute Australien, Kanada und die anderen englischen Kolonien. Und eine solche provinzielle und gemeindliche Selbstverwaltung ist weit freier als zum Beispiel der Schweizer Föderalismus, wo der Kanton zwar sehr unabhängig ist gegenüber dem Bund (d.h. der zentralen Staatsgewalt), aber auch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde. Die Kantonalregierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfekten, wovon man in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und die wir uns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen, wie die preußischen Landräte und Regierungsräte."

So urteilte Friedrich Engels über die Demokratie in Anwendung auf das Recht, die Beamten von oben zu ernennen. Und um seine Ansichten schärfer, unumwundener, präziser auszudrücken, empfahl er den deutschen Sozialdemokraten, folgende Forderung in das Parteiprogramm aufzunehmen:

Vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden."

Die unterstrichenen Worte lassen an Entschiedenheit und Klarheit nichts zu wünschen übrig.

Liebe Bürger Minister, Zeretelli und Skobelew! Ihr fühlt euch sicherlich sehr geschmeichelt, dass eure Namen in die Lehrbücher der Geschichte eingehen werden. Ist es aber für euch auch schmeichelhaft, dass jeder Marxist und jeder ehrliche Demokrat gezwungen sein wird, zu sagen: die Minister Zeretelli und Skobelew haben den russischen Kapitalisten geholfen, in Russland eine Republik zu schaffen, die im Grunde gar keine Republik, sondern eine Monarchie ohne Monarchen ist?

P. S. Dieser Artikel war vor dem letzten Stadium des Kronstädter Zwischenfalls geschrieben, von dem heute die Zeitungen sprechen. Das Kompromissabkommen ist von den Kronstädtern nicht verletzt worden. Niemand hat auch nur eine einzige Tatsache genannt, die auch nur im entfernten einer Verletzung des Abkommens ähnlich sähe. Die Hinweise der „Rjetsch" auf Zeitungsartikel sind eine Ausflucht, denn nicht durch Artikel, sondern nur durch Handlungen kann ein Abkommen verletzt werden. Und die Tatsache bleibt bestehen: die Minister Zeretelli, Skobelew u. Co. ließen sich zum hundertsten und tausendsten Male durch das Geschrei der erschreckten Bourgeois ins Bockshorn jagen und ergingen sich in groben Drohungen gegen die Kronstädter. Unkluge, sinnlose Drohungen, die nur der Konterrevolution dienen.

1 Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde auf dem Parteitag in Erfurt im Oktober 1891 an Stelle des veralteten Gothaer Programms angenommen; es ist von Kautsky geschrieben. Das Erfurter Programm zerfällt in zwei Teile: 1. eine Darstellung der marxistischen Theorie über die Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus (das sogenannte Maximalprogramm); 2. enthält es eine Reihe praktischer Forderungen, die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft durchführbar sind (Minimalprogramm). Das Erfurter Programm diente als Vorbild für eine Reihe von Programmen der anderen nationalen sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale, darunter auch für das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands vom Jahre 1903.

Der Programmentwurf wurde Engels zur Begutachtung übersandt, der den Entwurf einer eingehenden Kritik unterzog. Diese Kritik von 1891 erschien zehn Jahre später unter dem Titel „Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs" in der „Neuen Zeit" (Jahrgang 20, 1901/02, 1. Bd.). Siehe auch Lenin, „Staat und Revolution", Kap. IV

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