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Wladimir I. Lenin 19170627 Eine widerspruchsvolle Stellung

Wladimir I. Lenin: Eine widerspruchsvolle Stellung

[„Prawda" Nr. 81, 27. (14.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 182-184]

Die heute in den Zeitungen veröffentlichte Kongressresolution, die eine Verurteilung unserer Partei enthält1, wird zweifellos von jedem klassenbewussten Arbeiter und Soldaten verglichen werden mit der von unserer Partei auf dem Allrussischen Rätekongress am 11. Juni abgegebenen Erklärung, die heute in der „Prawda" veröffentlicht ist.

Das Widerspruchsvolle der Stellung der Kongressführer tritt in ihrer Resolution offen zutage und ist durch unsere Erklärung besonders anschaulich aufgezeigt worden.

Die Grundlage für den Erfolg und die Kraft der russischen Revolution liegt in der Einheit der gesamten revolutionären Demokratie der Arbeiter, Soldaten und Bauern" – so lautet der erste und wichtigste Punkt der Kongressresolution. Und dieser Punkt wäre allerdings ganz unbestreitbar richtig, wenn man hier unter „Einheit" die Einheit des Kampfes gegen die Konterrevolution verstanden hätte. Was aber dann, wenn sich ein bestimmter Teil der „Arbeiter, Soldaten und Bauern" durch ihre Führer mit der Konterrevolution koaliert, vereinigt? Ist es nicht klar, dass eben dieser Teil der „Demokratie" in Wirklichkeit aufhört, „revolutionär" zu sein?

Wahrscheinlich werden die Narodniki (Sozialrevolutionäre) und Menschewiki entrüstet sein, dass wir auch nur den Gedanken zulassen, als ob eine „Vereinigung" dieses oder jenes Teiles der „Arbeiter, Soldaten und Bauern" mit der Konterrevolution möglich und denkbar sei.

Denjenigen, die versuchen sollten, durch Entrüstung solcher Art unsere Argumente zu verwischen und den Kern der Sache zu vertuschen, antworten wir mit dem einfachen Hinweis auf den dritten Punkt derselben Resolution: „----es wächst der Widerstand der konterrevolutionären Kräfte der besitzenden Klassen." Das ist mal eine sachliche Erwägung! Dies wäre ganz wahr, wenn man gesagt hätte: der Bourgeoisie bzw. der Kapitalisten und Grundbesitzer (statt „der besitzenden Klassen", zu denen auch der wohlhabende Teil des Kleinbürgertums gehört).

Kein Zweifel, der Widerstand der Bourgeoisie wächst.

Aber gerade in den Händen der Bourgeoisie befindet sich doch eben die Mehrheit der Provisorischen Regierung, mit der die Führer der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki vereinigt sind, nicht nur im allgemeinpolitischen Sinne, sondern auch organisatorisch in der gleichen Körperschaft, im Ministerium!

Das ist der Kernpunkt der widerspruchsvollen Stellung der Führer der Räte, das ist die Hauptquelle des Schwankens ihrer ganzen Politik: sie sind im Bündnis mit der Bourgeoisie vermittels der Regierung, sie sind innerhalb der Regierung der Mehrheit der bürgerlichen Minister untergeordnet – und gleichzeitig sind sie genötigt, zuzugeben, dass „der Widerstand der konterrevolutionären Schichten der besitzenden Klassen wächst"!!

Es ist klar, dass bei einer solchen Sachlage die Partei des revolutionären Proletariats die „Einheit" der gepriesenen „revolutionären" (in Worten, aber nicht in Taten) Demokratie anerkennen kann nur „insofern – als". Wir sind insofern für die Einheit mit ihr, als sie die Konterrevolution bekämpft. Wir sind nicht für die Einheit mit ihr, insofern sie sich mit der Konterrevolution vereinigt.

Das Leben hat gerade die Frage des „wachsenden Widerstandes" der konterrevolutionären Bourgeoisie auf die Tagesordnung gestellt; diese Haupt- und Grundfrage mit allgemeinen Redensarten über „Einheit oder Übereinstimmung der Aktionen der revolutionären Demokratie" umgehen wollen, indem man die Einheit oder Übereinstimmung eines Teils desselben mit der Konterrevolution vertuscht, ist unlogisch, ist unklug.

Hieraus folgt, dass alle Erwägungen der Kongressresolution über die Verurteilung unserer Demonstration als einer „geheimen", über die Zulässigkeit von Massenaktionen und Kundgebungen nur mit Wissen oder Einwilligung der Räte aus prinzipiellen Gründen von selbst hinfällig werden. Diese Erwägungen haben keinerlei Bedeutung. Niemals wird die proletarische Partei sie anerkennen, wie schon in unserer Erklärung auf dem Allrussischen Kongress gesagt ist. Denn alle Kundgebungen, wenn sie einmal friedlich sind, sind nur Agitation, und es geht nicht an, die Agitation zu verbieten oder eine Einheitlichkeit der Agitation aufzuzwingen.

Formell ist die Resolution noch schwächer. Um etwas zu verbieten oder vorzuschreiben, muss man die Macht im Staate sein. Werdet erst diese Macht, ihr Herren Sowjetführer von heute – wir sind dafür, obgleich ihr unsere Gegner seid –, dann erst werdet ihr das Recht haben, zu verbieten oder vorzuschreiben. Solange ihr nicht die gesamte Staatsgewalt in Händen habt, solange ihr die Macht von zehn Ministern der Bourgeoisie über euch duldet, bleibt ihr in eurer eigenen Schwäche und Unentschlossenheit verstrickt.

Mit Redensarten über den „klar ausgedrückten Willen" und ähnliches mehr kommt man nicht davon: der Wille, falls er staatlich ist, muss als von der Staatsgewalt festgelegtes Gesetz zum Ausdruck kommen, sonst ist das Wort „Wille" bloße Lufterschütterung durch einen leeren Schall. Sowie ihr aber an ein Gesetz denken solltet, meine Herrschaften, würdet ihr euch erinnern müssen, dass die Verfassung freier Republiken friedliche Demonstrationen und beliebige Massenkundgebungen beliebiger Parteien oder Gruppen nicht verbieten kann.

Die widerspruchsvolle Position führte zu einer vollendeten Absonderlichkeit der revolutionären Ideen, der Ideen über die Bekämpfung der Konterrevolution, der Staats-(Verfassungs-)ideen, überhaupt der juristischen Ideen. Sobald das wüste Geschimpfe gegen unsere Partei fortfällt, bleibt nichts, rein gar nichts übrig!

Nach dem wüsten Geschimpfe über unsere Initiative zur Demonstration wird eine Demonstration angesagt… für eine Woche später.

1 In der Resolution des ersten Rätekongresses über die Ereignisse vom 22. (9.) und 23. (10.) Juni 1917, die vom Präsidium vorgeschlagen und in der Sitzung vom 24. (11.) Juni angenommen wurde, hieß es nach einer längeren Einleitung, in der die Notwendigkeit der Einheit der revolutionären Demokratie zum Kampfe gegen die Konterrevolution betont wurde: „Der Allrussische Rätekongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten verurteilt entschieden den Versuch, in Petrograd hinter dem Rücken des Rates eine Demonstration zu veranstalten, ohne dass einigermaßen wirksame Maßnahmen ergriffen wurden, damit diese Demonstration keine bewaffnete werde und nicht zu für die Revolution verderblichen blutigen Zusammenstößen führe, und beschließt: 1. gegen den klar ausgedrückten Willen der Räte, als der berufenen Organe der revolutionären Demokratie, haben Gruppen und Parteien, die den Räten der Arbeiter- und Soldatendeputierten angehören, kein Recht, Massenaktionen zu unternehmen; 2. friedliche, unbewaffnete Kundgebungen können von diesen Gruppen und Parteien nur mit Wissen der Räte organisiert werden; 3. alle bewaffneten Aktionen, auch Kundgebungen unter Beteiligung Bewaffneter nicht ausgenommen, können nur veranstaltet werden auf Beschluss der Räte, als der einzigen Organe, die den Willen der gesamten revolutionären Demokratie repräsentieren. Der Kongress fordert alle Genossen, die Arbeiter, Soldaten und Bauern, auf, sich diesem Beschluss zu fügen und den eigenmächtigen Aufrufen, die mit den oben erwähnten Beschlüssen in striktem Widerspruch stehen, keine Folge zu leisten, von welcher Seite diese Aufrufe auch ausgehen mögen. Jede Verletzung dieses Beschlusses leitet Wasser auf die Mühle der Konterrevolution und droht, den Bürgerkrieg zu entfesseln. Gleichzeitig beschließt der Kongress zur allseitigen Klarstellung aller Umstände, die die Vorbereitung der Demonstration vom 9. und 10. Juni im Gefolge hatten, eine Kommission zu bilden, an der die Vertreter aller dem Rat angehörenden Parteien teilnehmen sollen, und beauftragt diese Kommission, ihr besonderes Augenmerk darauf zu richten,' in welchem Grade und in welchen Formen zweifelhafte und konterrevolutionäre Elemente an dieser Bewegung beteiligt waren, die danach strebten, sie für ihre Zwecke auszunützen". Aus diesem Anlass überreichte die bolschewistische Fraktion dem Kongress eine besondere Erklärung.

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