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Wladimir I. Lenin 19170708 Eine zerfahrene Revolution

Wladimir I. Lenin: Eine zerfahrene Revolution

[„Prawda" Nr. 91, 8. Juli (25. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 222-225]

Die Bolschewiki sind an allem schuld" – darüber herrscht eine Meinung, sowohl bei den Kadetten, die an der Spitze der Konterrevolution stehen, wie bei den „Sozialrevolutionären" und Menschewiki, die sich „revolutionäre Demokratie" nennen, offenbar, weil dieser feine Block jeden Tag von den Grundsätzen der Demokratie und der Revolution abweicht.

Die Bolschewiki sind an allem schuld" – an der wachsenden Zerrüttung, gegen die nichts unternommen wird, und an dem schlechten Zustand der Lebensmittelversorgung und an dem „Misserfolg" der Provisorischen Regierung in der Ukraine und Finnland. Man könnte fast meinen, irgendein böser Bolschewik habe sich in die Reihen der bescheidenen, gemäßigten, bedächtigen Finnen eingeschlichen und das ganze Volk „aufgewiegelt"!

Das allgemeine Geheul der Erbitterung und der Wut gegen die Bolschewiki, die schmutzige Verleumdungskampagne der schmierigen Herren Saslawski und der Anonymusse aus der „Rjetsch" und „Rabotschaja Gazeta" – das alles ist nur das unvermeidliche Bestreben der Vertreter der zerfahrenen Revolution, infolge einer Reihe von „Misserfolgen" ihrer Politik, „ihre Wut auszulassen".

Die Kadetten sind die Partei der konterrevolutionären Bourgeoisie. Das hat auch der in Russland regierende Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki anerkannt, der in der Resolution des Rätekongresses erklärte, dass der Widerstand der besitzenden Klassen wachse und die Grundlage der Konterrevolution bilde. Zugleich aber ist dieser Block, dem von der „Rjetsch" tagtäglich Charakterlosigkeit vorgeworfen wird, seinerseits im Block mit den Kadetten, und zwar in einem sehr originellen Block, der durch die Zusammensetzung der Provisorischen Regierung bekräftigt ist!

Zwei Blocks sind es, die Russland regieren, der Block der Sozialrevolutionäre mit den Menschewiki und der Block dieses Blocks mit den Kadetten, die wiederum mit allen rechts von ihnen stehenden politischen Parteien einen Block bilden. Hieraus ergibt sich unvermeidlich die Zerfahrenheit der Revolution. Denn alle Teile dieses regierenden „Blocks der Blocks" sind zerfahren.

Die Kadetten glauben selber nicht an ihr Republikanertum, und erst recht nicht die Oktobristen und Monarchisten anderer Schattierungen, die sich heute hinter den Kadetten verstecken und für sie stimmen. Die Kadetten trauen den „Sozial-Blockisten" nicht, sie gebrauchen die von ihnen entsandten Minister gern als „Laufburschen" zu allerhand „Beschwichtigungen", aber gleichzeitig toben und schäumen sie vor Wut über die „Begehrlichkeit" der Masse der Bauern und zum Teil auch der Arbeiter, die sich jetzt den Sozialrevolutionären und Menschewiki um ihrer bombastischen Versprechungen willen („die Werktätigen zufriedenzustellen, ohne den Kapitalisten wehe zu tun") anvertraut haben und die Frechheit besitzen, die wirkliche Erfüllung dieser Versprechen zu erwarten und zu verlangen!

Die Sozialblockisten trauen einander nicht, die Sozialrevolutionäre trauen den Menschewiki nicht, und umgekehrt. Bisher hat sich noch keine der beiden „besseren Hälften" dazu entschlossen, halbwegs klar, offen, grundsätzlich und offiziell vor aller Welt zu erklären, wie, warum, zu welchem Zweck und wie weit sich die Anhänger des struvistisch-konstruierten „Marxismus" und die des „Rechts auf Grund und Boden" vereinigt haben. Selbst innerhalb jeder einzelnen dieser „besseren Hälften" kracht die Einigkeit in allen Fugen: bei den Sozialrevolutionären ist Kerenski auf dem Parteitag mit 136 gegen 134 Stimmen durchgefallen, was zum Austritt des „Großmütterchens" aus dem ZK geführt1 und das ZK veranlasst hat, zu erklären, dass Kerenski lediglich wegen seiner Überlastung mit ministeriellen Verpflichtungen (mit Tschernow verhält es sich wohl anders) nicht gewählt worden sei! Die „rechten" Sozialrevolutionäre schimpfen in der „Wolja Naroda" auf ihre Partei und deren Parteitag, die linken haben in der „Semlja i Wolja"2 ein Obdach gefunden und erkühnen sich, zu erklären, dass die Massen den Krieg nicht wollen und ihn nach wie vor für imperialistisch halten.

Bei den Menschewiki ist der rechte Flügel in den „Djen" übergesiedelt, an dessen Spitze Potressow steht, dem sogar das „Jedinstwo" „verliebte Blicke" zuwirft (das gestern noch bei den Wahlen in Petersburg im Block mit der gesamten Partei der Menschewiki war). Der linke Flügel sympathisiert mit dem Internationalismus und gründet eine eigene Zeitung. Block der Banken mit den Potressow durch die Zeitung „Djen", Block aller Menschewiki, von Potressow bis Martow, durch die „einige" menschewistische Partei.

Ist das nicht Zerfahrenheit?

Das „Oboronzentum" verhüllt nur schlecht diese Zerfahrenheit der Revolution, denn sogar jetzt, sogar nach der Wiederaufnahme des imperialistischen Krieges, sogar bei dem durch die Offensive verursachten Begeisterungstaumel, hat sich die „Offensive" der Anhänger Potressows gegen seine Gegner in dem einen, der Anhänger Kerenskis gegen seine Gegner in dem anderen Block, verschärft.

Die „revolutionäre Demokratie" glaubt nicht mehr an die Revolution, sie hat Angst vor der Demokratie und fürchtet mehr als alles in der Welt den Bruch mit den englisch-französischen Kapitalisten, sie fürchtet die Unzufriedenheit der russischen Kapitalisten. („Unsere Revolution ist eine bürgerliche", an diese von Dan, Zeretelli und Skobelew amüsant entstellte „Wahrheit" glaubt Minister Tschernow „selbst".) Die Kadetten hassen die Revolution und die Demokratie.

Ist das nicht Zerfahrenheit?

Das allgemeine wilde Geheul der Erbitterung und der Wut über die Bolschewiki ist die gemeinsame Klage der Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki über die eigene Zerfahrenheit.

Sie haben die Mehrheit. Sie sind an der Macht. Sie bilden alle miteinander einen Block. Und sie sehen, dass nichts dabei herauskommt!! Wie soll man da nicht über die Bolschewiki aufgebracht sein?

Die Revolution hat außerordentlich schwierige Fragen, Fragen von ungeheurer Wichtigkeit, von welthistorischer Bedeutung aufgerollt. Ohne die entschiedensten revolutionären Maßnahmen, die sich auf den opferfreudigen Heldenmut der unterdrückten und ausgebeuteten Massen stützen, ohne das Vertrauen und die Unterstützung der organisierten Vorhut – des Proletariats – durch diese Massen wird man weder der Zerrüttung Herr werden noch der furchtbaren Zange des imperialistischen Krieges entrinnen können.

Die Massen versuchen zunächst einen „leichteren" Ausweg zu finden: durch den Block der Kadetten mit dem Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki.

Das ist aber kein Ausweg.

1 Auf dem dritten Parteitag der Sozialrevolutionäre, der in Moskau am 7. Juni (25. Mai) 1917 tagte, wurde Kerenski bei der Wahl des Zentralkomitees nicht gewählt. Gegen ihn stimmten die Linken (die Gruppe Kamkow) und ein Teil des Zentrums (die Gruppe Kogan-Bernstein). Breschko-Breschkowskaja, von den Sozialrevolutionären das „Großmütterchen der russischen Revolution" genannt, die einen extrem-rechten Standpunkt einnahm, hatte als Protest daraufhin es abgelehnt, die Wahl in das ZK anzunehmen.

2Semlja i Wolja" („Land und Freiheit") Sozialrevolutionäre Tageszeitung, Organ des Petrograder Komitees der Sozialrevolutionären Partei, erschien 1917 in Petrograd.

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