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Wladimir I. Lenin 19170522 „Faktischer Waffenstillstand"

Wladimir I. Lenin: „Faktischer Waffenstillstand"

[„Prawda" Nr. 52, 22. (9.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 470-473]

Die Zeitung „Nowaja Schisn" bringt am 5. Mai Interviews mit den Ministern der „neuen" Regierung. Der Ministerpräsident Lwow erklärte: „Das Land muss ein Machtwort sprechen und seine Armee in den Kampf schicken."

Das ist der Kern des „Programms" der neuen Regierung. Offensive, Offensive, Offensive!

Der Minister Lwow, der dieses imperialistische Programm vertritt, das nunmehr auch von den Tschernow und Zeretelli übernommen worden ist, donnerte im Tone der höchsten sittlichen Entrüstung gegen den „an der Front zustande gekommenen faktischen Waffenstillstand".

Über dieses Programm der Offensive, über diese Donnerreden der Minister gegen den „faktischen Waffenstillstand" sollte jeder russische Arbeiter, jeder Bauer gründlich nachdenken.

Millionen von Menschen sind im Kriege niedergemetzelt oder zu Krüppeln geschossen worden, grenzenlos ist das Elend, das der Krieg über die Menschheit und besonders über die werktätigen Massen gebracht hat. Die Kapitalisten aber ziehen skandalös hohe Gewinne aus dem Krieg. Die Qualen und die Erschöpfung der Soldaten haben ihren Höhepunkt erreicht.

Was ist denn an dem faktischen Waffenstillstand Schlimmes? Was ist daran Schlimmes, dass die Massenschlächterei aufgehört hat? Was ist Schlimmes daran, dass die Soldaten wenigstens eine kleine Atempause bekommen haben?

Man wird einwenden, dass der Waffenstillstand nur an einer Front zustande gekommen sei und dass daher die Gefahr bestehe, dass es zu einem Sonderfrieden kommt. Aber dieser Einwand ist offenkundig nicht stichhaltig. Denn, wenn weder die russische Regierung noch die russischen Arbeiter und Bauern einen Sonderfrieden mit den deutschen Kapitalisten wollen (gegen einen solchen Frieden hat auch unsere Partei bekanntlich wiederholt protestiert, und zwar nicht nur in Artikeln der „Prawda", sondern auch in einer Resolution unserer Konferenz, die im Namen der ganzen Partei sprach), wenn niemand in Russland einen Sonderfrieden mit den Kapitalisten eines einzelnen Landes will, wie, woher, durch welches Wunder soll es zu einem solchen Frieden kommen? Wer kann ihn uns aufzwingen??

Der Einwand ist, wie jeder sehen muss, nicht stichhaltig, er ist eine offenkundige Erfindung, ein Versuch, Sand in die Augen zu streuen.

Weiter. Warum soll der faktische Waffenstillstand an einer Front die „Gefahr" eines Sonderfriedens an dieser Front in sich bergen, und nicht die „Gefahr", dass der faktische Waffenstillstand sich auf alle Fronten ausdehnt?

Der faktische Waffenstillstand ist ein labiler, ein Übergangszustand. Das unterliegt keinem Zweifel. Ein Übergang wozu? Sicherlich kann er nicht zu einem Sonderfrieden führen, da das Einverständnis der beiden Regierungen oder der beiden Völker fehlt. Warum aber sollte ein solcher Waffenstillstand nicht ein Übergang zum faktischen Waffenstillstand an allen Fronten sein können? Damit würden doch gewiss alle Völker einverstanden sein, im Gegensatz zu allen oder den meisten Regierungen.

Die Verbrüderung an einer Front kann und muss der Übergang zur Verbrüderung an allen Fronten sein. Der faktische Waffenstillstand an einer Front kann und muss ein Übergang zum faktischen Waffenstillstand an allen Fronten sein.

Die Völker würden sich von dem Gemetzel erholen. Die revolutionären Arbeiter aller Länder würden noch selbstbewusster werden, ihr Einfluss würde zunehmen, der Glaube an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern würde gestärkt werden.

Was ist denn an einer solchen Entwicklung Schlimmes? Warum sollen wir nicht nach Kräften eine solche Entwicklung fördern?

Man wird einwenden, dass der faktische Waffenstillstand an allen Fronten jetzt den deutschen Kapitalisten zugute käme, denn zur Zeit sind sie es, die die meiste Beute gemacht haben. Das ist nicht richtig, denn die englischen Kapitalisten haben noch mehr zusammengeraubt (die deutschen Kolonien in Afrika, die deutschen Inseln im Stillen Ozean, Mesopotamien, einen Teil Syriens usw.) und – im Unterschied zu den deutschen Kapitalisten – gar nichts verloren. Das erstens.

Zweitens, sollten die deutschen Kapitalisten eine noch größere Unnachgiebigkeit als die englischen an den Tag legen, so würde das die revolutionäre Entwicklung in Deutschland noch mehr verstärken. Die Revolution in Deutschland wächst zusehends. Eine Offensive der russischen Armeen würde diese Entwicklung hemmen. Der „faktische Waffenstillstand" beschleunigt diese revolutionäre Entwicklung.

Drittens, die Lage Deutschlands ist angesichts der wachsenden Hungersnot, der wirtschaftlichen Zerrüttung geradezu verzweifelt und ausweglos, sie ist schlimmer als in irgend einem anderen Lande, und besonders seitdem Amerika in den Krieg eingetreten ist. Der „faktische Waffenstillstand" wird diese Hauptquelle der Schwäche Deutschlands nicht beseitigen, sondern im Gegenteil eher die Lage der anderen Länder verbessern (freie Zufuhr) und die Lage der deutschen Kapitalisten verschlechtern (alle Zufuhren sind gesperrt, es wird schwerer sein, dem Volke die Wahrheit zu verbergen).

Das russische Volk hat die Wahl zwischen zwei Programmen. Das eine ist ;das Programm der Kapitalisten, das die Tschernow und Zeretelli übernommen haben. Es ist das Programm der Offensive, das Programm der Verlängerung des imperialistischen Krieges, der Verlängerung des Gemetzels.

Das andere ist das Programm der revolutionären Arbeiter der ganzen Welt, das in Russland von unserer Partei vertreten wird. Dieses Programm heißt: die Verbrüderung fördern (ohne den Deutschen zu gestatten, die Russen zu betrügen), sich verbrüdern durch Austausch von Aufrufen, die Verbrüderung und den faktischen Waffenstillstand auf alle Fronten ausdehnen, diese Ausdehnung mit allen Mitteln fördern, um dadurch die proletarische Revolution in allen Ländern zu beschleunigen und so den Soldaten aller kriegführenden Länder wenigstens eine zeitweilige Atempause zu verschaffen; in Russland gilt es, den Übergang der Macht auf die Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputiertenräte zu beschleunigen und damit den Abschluss eines wirklich gerechten, wirklich allgemeinen Friedens im Interesse der Werktätigen, nicht aber im Interesse der Kapitalisten zu fördern.

Unsere Regierung mit den Tschernow und Zeretelli, mit den Narodniki und Menschewiki sind für das erste Programm.

Die Mehrheit des russischen Volkes und aller Völker Russlands (und nicht allein Russlands), d. h. die Mehrheit der Arbeiter und der armen Bauern, ist zweifellos für das zweite Programm.

Jeder Tag bringt uns dem Siege dieses Programms näher.

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