Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170901 Gerüchte über eine Verschwörung

Wladimir I. Lenin: Gerüchte über eine Verschwörung

[Geschrieben am 31. August-1. September (18.–19. August) 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht 1927 im „Leninski Sbornik", Nr. 7. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1931, S. 109-115]

Die Notiz, die unter diesem Titel in Nummer 103 der „Nowaja Schisn" vom 17. August veröffentlicht wurde, verdient sehr ernste Beachtung. Man muss sich (immer und immer wieder) mit ihr beschäftigen, wenngleich die Angelegenheit, die in dieser Notiz für etwas Ernstes ausgegeben wird, absolut unernst ist.

Der Inhalt der Notiz ist, dass sich in Moskau am 14. August das Gerücht verbreitet hatte, dass einige Kosakenformationen von der Front gegen Moskau marschierten, und dass zu gleicher Zeit „bestimmte militärische Gruppen, mit denen auch gewisse Gesellschaftskreise Moskaus sympathisierten" „entschiedene konterrevolutionäre Aktionen" organisierten. Angeblich sollen ferner die Militärbehörden den Moskauer Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat davon in Kenntnis gesetzt und „unter Mitwirkung von Vertretern des Zentralen Exekutivkomitees" (d. h. der Menschewiki und Sozialrevolutionäre) Maßnahmen getroffen haben, um den Soldaten die Notwendigkeit einer Verteidigung der Stadt klarzumachen usw. Die Notiz schließt mit den Worten:

Zu diesen Vorbereitungen wurden auch Vertreter der Moskauer Bolschewiki hinzugezogen, die in vielen Truppenteilen Einfluss haben, zu denen ihnen für diesen Fall Zutritt gewährt wurde."1

Der letzte Satz ist absichtlich unklar und zweideutig formuliert: wenn die Bolschewiki in vielen Truppenteilen Einfluss haben (was unstrittig und allgemein bekannt ist), wie und wer konnte dann den Bolschewiki zu diesen Truppenteilen „Zutritt gewähren"? Das ist offenbar widersinnig. Hat man aber wirklich den Bolschewiki für diesen Fall" „Zutritt gewährt" (wer denn? Offenbar die Menschewiki und Sozialrevolutionäre!) zu irgendwelchen Truppenteilen, so bedeutet dies, dass ein gewisser Block, ein Bündnis, ein Abkommen zwischen den Bolschewiki und den Vaterlandsverteidigern zwecks „Abwehr der Konterrevolution" bestanden habe.

Dieser Umstand gibt der unernsten Notiz ernste Bedeutung und verlangt von allen klassenbewussten Arbeitern eine aufmerksame Stellungnahme zu den mitgeteilten Tatsachen.

Die Gerüchte, die die Vaterlandsverteidiger, d. h. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, verbreiten, sind offenbar unsinnig; ebenso offenbar ist auch die schmutzige und gemeine politische Spekulation, die der Verbreitung dieser Gerüchte zugrunde liegt. Wirklich konterrevolutionär ist ja gerade die Provisorische Regierung, die die Vaterlandsverteidiger angeblich verteidigen wollen. In Wirklichkeit beorderten gerade die Provisorische Regierung und die „sozialistischen" Minister die Kosakentruppen von der Front in die Hauptstädte, z. B. am 3. Juli nach Petrograd, was von dem Kosakengeneral Kaledin auf der Moskauer konterrevolutionären imperialistischen Beratung auch formell bestätigt wurde. Das ist eine Tatsache.

Diese Tatsache, die die Menschewiki und Sozialrevolutionäre entlarvt, ihren Verrat an der Revolution, ihr Bündnis mit den Gegenrevolutionären, ihr Bündnis mit den Kaledins beweist, diese Tatsache möchten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre verwischen, vertuschen, vergessen machen durch das „Gerücht", dass Kosaken unter Umgehung von Kerenski, Zeretelli, Skobelew, Awksentjew gegen Moskau marschierten, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre „die Revolution verteidigten" usw. Die politische Spekulation der verräterischen Menschewiki und Vaterlandsverteidiger ist sehr durchsichtig: sie wollen die Arbeiter betrügen, sich selbst für Revolutionäre ausgeben, irgend etwas über die Bolschewiki erfahren (selbstverständlich zwecks Weiterleitung an den Geheimdienst) und ihr Ansehen etwas heben! Die Spekulation ist ebenso niederträchtig wie grob eingefädelt! Mit kleinem Aufwand möchten sie durch Ausstreuen eines törichten „Gerüchts" „Zutritt" zu den bolschewistischen Truppenteilen erhalten und im Allgemeinen das Vertrauen zur Provisorischen Regierung stärken, indem sie die Naiven glauben machen, die Kosaken wollten diese Regierung stürzen, die nicht im Bunde mit den Kosaken sei, sondern „die Revolution verteidige" usw., usw.

Die Spekulation liegt auf der Hand. Die Gerüchte sind töricht und aus der Luft gegriffen. Aber das Vertrauen zur Provisorischen Regierung meint man in klingender Münze zu erhalten und so nebenbei auch noch die Bolschewiki in einen „Block" hineinzuziehen!

Es ist schwer zu glauben, dass sich unter den Bolschewiki solche Einfaltspinsel und Schufte finden könnten, die sich jetzt zu einem Block mit den Vaterlandsverteidigern hergeben würden. Es ist schwer zu glauben, denn erstens liegt eine unzweideutige Resolution des 6. Parteitages der SDAPR2 vor, in der gesagt wird (siehe „Proletarij", Nr. 4), dass „die Menschewiki endgültig ins Lager der Feinde des Proletariats übergelaufen sind". Mit Leuten, die endgültig ins Lager der Feinde übergegangen sind, verhandelt man nicht, mit ihnen schließt man keine Blocks. „Die wichtigste Aufgabe der revolutionären Sozialdemokratie", heißt es in derselben Resolution weiter, „ist ihre (der menschewistischen Vaterlandsverteidiger) vollständige Isolierung von allen auch nur einigermaßen revolutionären Elementen der Arbeiterklasse." Es ist klar, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre durch die Verbreitung unsinniger Gerüchte gegen diese Isolierung ankämpfen. Es ist klar, dass in Moskau wie in Petrograd sich die Arbeiter immer mehr von den Menschewiki und Sozialrevolutionären abwenden, weil sie ihre verräterische konterrevolutionäre Politik immer mehr durchschauen, so dass die Vaterlandsverteidiger, um die Sache einzurenken, sich auf allerlei Machenschaften einlassen müssen.

Da eine solche Parteitagsresolution vorliegt, würden die Bolschewiki, die zu einem Abkommen mit den Vaterlandsverteidigern über „Zutrittgewährung" oder zu einem indirekten Vertrauensvotum für die Provisorische Regierung (die angeblich gegen die Kosaken verteidigt werden soll) zu haben wären, selbstverständlich sofort – und mit Recht – aus der Partei ausgeschlossen werden.

Es ist aber auch noch aus anderen Gründen schwer zu glauben, dass sich in Moskau oder sonst wo Bolschewiki finden könnten, die zu einem Block mit den Vaterlandsverteidigern, zur Bildung irgendwelcher ähnlicher gemeinsamer, wenn auch provisorischer Organe, zu irgendwelcher Verständigung usw. zu haben wären. Gesetzt den für solche ziemlich unwahrscheinliche Bolschewiki besten Fall: gesetzt, dass sie in ihrer Naivität tatsächlich an die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären mitgeteilten Gerüchte glaubten. Gesetzt sogar, dass man ihnen irgendwelche ebenfalls aus der Luft gegriffene „Tatsachen" mitteilte, um ihnen Vertrauen einzuflößen. Es ist klar, dass auch in diesem Falle kein ehrlicher Bolschewik oder kein Bolschewik, der nicht vollständig den Kopf verloren hat, zu irgendeinem Block mit den Vaterlandsverteidigern, zu irgendeinem Abkommen über „Zutrittgewährung" usw. zu haben wäre. Sogar in diesem Falle würde jeder Bolschewik sagen: „Unsere Arbeiter, unsere Soldaten werden sich gegen die konterrevolutionären Truppen schlagen, wenn diese jetzt eine Offensive gegen die Provisorische Regierung beginnen, sie werden aber nicht diese Regierung verteidigen, die die Kaledin und Co. am 3. Juli herbeiriefen, sondern sie werden selbständig die Revolution verteidigen und ihre eigenen Ziele verfolgen, den Sieg der Arbeiter, den Sieg der Armen, den Sieg der Sache des Friedens, nicht aber den Sieg der Imperialisten, der Kerenski, Awksentjew, Zeretelli, Skobelew und Co." Sogar in dem außerordentlich seltenen Fall, den wir oben voraussetzten, würde ein Bolschewik den Menschewiki sagen: „Selbstverständlich werden wir uns schlagen, wir werden uns aber auf kein politisches Bündnis mit euch, auf keinerlei Vertrauensvotum für euch einlassen, – genau so wie die Sozialdemokraten im Februar 1917 mit den Kadetten zusammen gegen den Zarismus kämpften, ohne mit ihnen irgendein Bündnis zu schließen, ohne ihnen auch nur für einen Augenblick Glauben zu schenken. Das geringste Vertrauen zu den Menschewiki wäre heute ein ebensolcher Verrat an der Revolution, wie es das Vertrauen zu den Kadetten in den Jahren 1905-1917 gewesen wäre."

Ein Bolschewik würde zu den Arbeitern und Soldaten sagen: „Wir wollen kämpfen, aber keine Spur von Vertrauen zu den Menschewiki, wenn ihr euch nicht selbst der Früchte des Sieges berauben wollt."

Es ist für die Menschewiki allzu vorteilhaft, falsche Gerüchte und Vermutungen in Umlauf zu setzen, als ob die Regierung die sie unterstützen, die Revolution rette, wo sie in der Tat bereits einen Block mit Kaledin geschlossen hat, bereits konterrevolutionär ist, bereits eine Menge Schritte zur Erfüllung der Bedingungen dieses Blocks mit Kaledin getan hat und täglich neue tut.

Diesen Gerüchten zu glauben, sie direkt oder indirekt zu bestärken, würde seitens der Bolschewiki einem Verrat an der Sache der Revolution gleichkommen. Das wichtigste Unterpfand eines Erfolges der Revolution ist jetzt, dass die Massen den Verrat der Menschewiki und Sozialrevolutionäre deutlich erkennen und mit ihnen völlig brechen, dass alle revolutionären Proletarier sie ebenso unbedingt boykottieren, wie die Kadetten nach den Erfahrungen des Jahres 1905 boykottiert wurden.

Diesen Artikel bitte ich in mehreren Exemplaren abzuschreiben, um ihn einigen Parteiblättern und Parteizeitschriften zum Abdruck zu senden und gleichzeitig in meinem Namen mit folgender Nachschrift dem ZK vorzulegen:

Ich bitte den vorliegenden Artikel als meinen Bericht an das ZK zu betrachten mit dem ergänzenden Vorschlag, das ZK möge eine offizielle Untersuchung unter Beteiligung der Moskauer, die nicht Mitglieder des ZK sind, einleiten, um festzustellen, ob es gemeinsame Organe der Bolschewiki und der Vaterlandsverteidiger auf dieser Basis gegeben hat, ob es Blocks oder Abkommen gegeben hat, worin sie bestanden haben usw. Es ist notwendig, die Tatsachen und Einzelheiten offiziell zu untersuchen, alles ausführlich festzustellen. Sollte sich das Vorhandensein eines Blocks als Tatsache erweisen, so müssen die Mitglieder des ZK oder MK3 unbedingt von der Arbeit suspendiert und die Frage ihrer formellen Funktionsenthebung bis zum Parteitag der allernächsten Plenarsitzung des ZK vorgelegt werden. Denn gerade jetzt, nach der Moskauer Konferenz, nach dem Streik, nach dem 3.-5. Juli, kann Moskau zur Bedeutung eines Zentrums gelangen. In diesem ungeheuren proletarischen Zentrum, das größer ist als Petrograd, ist die Entfaltung einer Bewegung vom Typus des 3.-5. Juli durchaus möglich. Damals, in Petrograd war die Aufgabe, den friedlichen und organisierten Charakter zu wahren. Das war eine richtige Losung. Jetzt steht in Moskau die Aufgabe ganz anders. Die alte Losung wäre erzfalsch. Jetzt wäre die Aufgabe, selbst die Macht zu ergreifen und sich selbst zur Regierung zu erklären mit den Losungen: Frieden, das Land den Bauern, Einberufung der Konstituante zur festgesetzten Frist im Einvernehmen mit den Bauern im Lande usw. Es ist sehr möglich, dass durch die Arbeitslosigkeit, den Hunger, den Eisenbahnerstreik, die Zerrüttung usw. eine solche Bewegung in Moskau aufflammt. Es ist äußerst wichtig, dass in Moskau Leute das Steuer in der Hand haben, die nicht nach rechts schwanken, die zu keinem Block mit den Menschewiki fähig waren und die, falls die Bewegung einsetzt, die neuen Aufgaben, die neue Losung der Machtergreifung und die neuen Mittel und Wege hierzu begreifen würden. Darum ist eine „Untersuchung" der Blockangelegenheit, die Desavouierung der bolschewistischen Blockisten, wenn es solche gegeben hat, und ihre Entfernung, nicht nur um der Disziplin willen, nicht nur zur Wiedergutmachung der bereits begangenen Dummheit notwendig, sondern zur Wahrung der wichtigsten Interessen der künftigen Bewegung unerlässlich. Der Streik vom 12. August in Moskau hat bewiesen, dass das aktive Proletariat für die Bolschewiki ist, trotz der Mehrheit der Sozialrevolutionäre bei den Wahlen zur Duma. Das erinnert sehr an die Lage in Petrograd vor dem 3.-5. Juli 1917. Der Unterschied der Lage ist aber, dass Petrograd damals auch physisch nicht in der Lage war, die Macht zu ergreifen, und hätte man sie physisch genommen, so hätte man sie politisch nicht halten können, denn die Zeretelli und Konsorten waren damals noch nicht bis zur Unterstützung des Henkertums herabgesunken. Darum wäre damals, am 3.-5. Juli 1917, die Losung der Machtergreifung in Petrograd falsch gewesen. Damals fehlte sogar bei den Bolschewiki noch die bewusste Entschlossenheit – und das konnte nicht anders sein –, die Zeretelli und Konsorten als Gegenrevolutionäre zu behandeln. Damals besaßen weder die Arbeiter noch die Soldaten die Erfahrung, die ihnen der Monat Juli gebracht hat.

Jetzt liegen die Dinge ganz anders. Wenn es jetzt in Moskau zum Ausbruch einer spontanen Bewegung kommt, muss die Losung gerade die Machtergreifung sein. Darum ist es ganz besonders wichtig, dass in Moskau geeignete Leute die Bewegung leiten, die diese Losung restlos begriffen und gut durchdacht haben. Darum muss man immer und immer wieder auf die Untersuchung und Entfernung der Schuldigen bestehen.

1 Die Notiz der „Nowaja Schisn", Nr. 103 vom 30. (17.) August 1917 unter dem Titel „Gerüchte über eine Verschwörung", gab die Tatsachen, die sich in Moskau zur Zeit der Staatsberatung zugetragen hatten, im Allgemeinen richtig wieder. Zum Zwecke der Vorbereitung eines konterrevolutionären Umsturzes durch die Kornilowisten wurde tatsächlich ein Kosakenregiment von der Front zurückgerufen und nach Moskau geschickt, später aber unterwegs aufgehalten. Der menschewistisch-sozialrevolutionäre Moskauer Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten ergriff, als er von dem in Vorbereitung befindlichen Umsturz erfuhr, eine Reihe von Maßnahmen zur Verteidigung der Stadt; er wandte sich gleichzeitig um Hilfe an die Bolschewiki, die er bat, in der Zeit vom 25. (12.) bis zum 29. (16.) August Versammlungen bei den Soldaten abzuhalten (vorher war es sechs Wochen lang den Bolschewiki verboten gewesen, die Moskauer Kasernen zu betreten). Zu gleicher Zeit organisierte der Moskauer Rat – für den Fall einer konterrevolutionären Aktion – ein nicht öffentliches revolutionär-militärisches Organ, das aus zwei Bolschewiki (Nogin und Muralow), zwei Menschewiki (Chintschuk und Matwejew), zwei Sozialrevolutionären (Gawronski und Schubnikow) und einem Vertreter des Moskauer Militärbezirks zusammengesetzt war. Das Ergebnis war, dass die Kornilow-Leute ihre Aktion um einige Zeit verschoben, und zwar bis zum 8. September (26. August).

2 Der 6. Parteitag der SDAPB (Bolschewiki) tagte halblegal in Petrograd in der Zeit vom 8. August (26. Juli) bis zum 16. (3.) August 1917. Auf dem Parteitag waren 157 Delegierte mit beschließender Stimme anwesend, die 112 Organisationen mit insgesamt 177.000 Mitgliedern vertraten. Lenin, der sich zu jener Zeit versteckt halten musste, wohnte den Sitzungen nicht bei. Der Parteitag wählte ihn zum Ehrenvorsitzenden. Die Hauptfragen der Tagesordnung waren folgende: politischer und organisatorischer Bericht des ZK (Berichterstatter – Stalin und Swerdlow), Berichte aus der Provinz, aktuelle Lage (Bucharin und Stalin), wirtschaftliche Lage (Miljutin), Organisationsfrage, Vorbereitung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, Gewerkschaftsbewegung (Berichterstatter – Jurenjew), Vereinigung der Parteien usw. Der Parteitag wählte eine Sektion für die Revision des Parteiprogramms, nahm aber zu dieser Frage keine Resolution an und verschob die Durcharbeitung des Programms.

3 Moskauer Komitee. Die Red.

Kommentare