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Wladimir I. Lenin 19171007 Helden der Fälschung

Wladimir I. Lenin: Helden der Fälschung

[„Rabotschij Putj", Nr. 19, 7. Oktober (24. September) 1917. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 269-274]

Die sogenannte Demokratische Beratung ist zu Ende. Noch eine Komödie ist, Gott sei Dank, überstanden. Wir kommen trotz allem vorwärts, wenn es das Schicksal unserer Revolution will, dass wir nicht mehr als eine bestimmte Anzahl Komödien durchzumachen haben.

Um die politischen Ergebnisse der Beratung richtig beurteilen zu können, müssen wir ihre aus den objektiven Tatsachen sich ergebende genaue Klassenbedeutung feststellen.

Die weitere Zersetzung der Regierungsparteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, der offenkundige Verlust ihrer Mehrheit in der revolutionären Demokratie, die fortschreitende Einigung und Bloßlegung des Bonapartismus, sowohl des Herrn Kerenski als auch der Herren Zeretelli, Tschernow und Co. – das ist die Klassenbedeutung der Konferenz.

Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki haben die Mehrheit in den Räten verloren, sie mussten darum zur Fälschung greifen: die übernommene Verpflichtung, in drei Monaten einen neuen Rätekongress einzuberufen, verletzen, sich der Rechnungslegung vor den Wählern des Zentralexekutivkomitees der Räte entziehen und die „Demokratische" Beratung fälschen. Von dieser Fälschung sprachen die Bolschewiki vor der Konferenz, und ihre Ergebnisse haben ihnen völlig recht gegeben. Die Liber-Dan und die Herren Zeretelli, Tschernow und Co. sahen, dass ihre Mehrheit in den Räten zusammenschmilzt, und schritten darum zur Fälschung.

Die Argumente, wie z. B. „die bereits große Bedeutung der Genossenschaften unter den demokratischen Organisationen", oder wie die „rechtmäßig" gewählten städtischen und ländlichen Vertreter, sind so grob eingefädelt, dass nur dreiste Heuchelei sich allen Ernstes auf sie berufen kann. Erstens ist das Zentralexekutivkomitee durch die Räte gewählt. Und wenn es sich der Pflicht entzieht, den Räten Rechenschaft zu geben und seine Funktion in ihre Hände zurückzulegen, so ist das eine bonapartistische … Fälschung. Zweitens sind die Räte die revolutionäre Demokratie, soweit sie diejenigen umfassen, die revolutionär kämpfen wollen. Den Genossenschaftern und städtischen Vertretern sind die Türen nicht verschlossen. Die Herren der Räte waren dieselben Sozialrevolutionäre und Menschewiki.

Wer sich nur auf die Genossenschaften beschränkte, nur innerhalb der Grenzen der munizipalen (kommunalen und Semstwo-) Arbeit blieb, sonderte sich dadurch freiwillig von der revolutionären Demokratie ab und schloss sich der entweder reaktionären oder neutralen Demokratie an. Jeder weiß, dass sich nicht nur Revolutionäre der genossenschaftlichen und munizipalen Arbeit annehmen, sondern auch Reaktionäre. Jeder weiß, dass man in den Genossenschaften und Munizipalitäten vorwiegend für Arbeiten nicht allgemeinpolitischer Ausdehnung und Bedeutung wählt.

Die Absicht der Dan, Zeretelli, Tschernow und Co. bei der Fälschung der Beratung war, unter den Anhängern des „Jedinstwo" und unter den „parteilosen" Reaktionären für sich Hilfstruppen zu werben. Darin besteht ihre Fälschung. Darin besteht ihr Bonapartismus, der sie mit dem Bonapartisten Kerenski vereint.

Die Demokratie beschneiden und dabei den äußeren Schein der Demokratie heuchlerisch wahren, – das ist das Wesentliche.

Nikolaus II. bestahl die Demokratie um sozusagen große Summen; berief Repräsentativkörperschaften ein, gab aber den Gutsbesitzern eine hundertmal stärkere Vertretung als den Bauern. Die Dan, Zeretelli und Tschernow befassen sich mit kleinen Diebstählen an der Demokratie. Sie berufen eine Demokratische Beratung ein, auf der sowohl die Arbeiter wie die Bauern mit vollem Recht auf die Beschneidung ihrer Vertretung hinweisen, auf das ungleiche Verhältnis, auf die Ungerechtigkeit zugunsten der der Bourgeoisie (und der reaktionären Demokratie) nahestehenden Elemente der Genossenschaften und Munizipalitäten.

Die Herren Liber, Dan, Zeretelli und Tschernow haben mit der Masse der Arbeiter und armen Bauern gebrochen, haben sich von ihr entfernt. Sie suchen ihre Rettung in der Fälschung, auf die sich auch „ihr" Kerenski stützt.

Die Differenzierung der Klassen schreitet vorwärts. Im Innern der Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki erstarkt der Protest, reift infolge des Verrats der „Führer" an den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung die offene Spaltung heran. Die Führer stützen sich, entgegen den Prinzipien der Demokratie, auf die Minderheit. Daher sind für sie Fälschungen unvermeidlich.

Kerenski entlarvt sich immer mehr als Bonapartist. Man rechnete ihn zu den Sozialrevolutionären. Wir wissen jetzt, dass er nur „Märzsozialrevolutionär" war, der von den Trudowiki aus Gründen der Reklame zu den Sozialrevolutionären übergesprungen ist. Er ist Anhänger der Breschko-Breschkowskaja, dieser „Frau Plechanow" unter den Sozialrevolutionären oder „Frau Potressow" im Sozialrevolutionären „Djen". Kerenski gehört zu dem sogenannten „rechten" Flügel der sogenannten „sozialistischen" Parteien, zu den Plechanow, Breschkowskaja, Potressow. Dieser Flügel unterscheidet sich aber durch nichts Ernstes von den Kadetten.

Kerenski wird von den Kadetten gelobt. Er macht ihre Politik, er berät sich mit ihnen und mit Rodsjanko hinter dem Rücken des Volkes, er wurde von Tschernow und von anderen des Einverständnisses mit Sawinkow, dem Freund Kornilows, überführt. Kerenski ist ein Kornilowist, der sich zufällig mit Kornilow überworfen hat, aber nach wie vor im intimsten Bündnis mit anderen Kornilowisten steht. Das ist eine Tatsache, die bewiesen ist sowohl durch die Entlarvung Sawinkows und des „Djelo Naroda" als auch durch das fortgesetzte politische Spiel, das „Minister-Bockspringen" Kerenskis mit den Kornilowisten, unter der Benennung „Handels- und Industrieklasse".

Geheime Abmachungen mit den Kornilowisten, geheime Techtelmechtel mit den „alliierten" Imperialisten (durch Vermittlung von Tereschtschenko und Co., geheime Verschleppungen und Sabotierung der Konstituante, geheime Beschwindelung der Bauern zugunsten Rodsjankos d. h. der Gutsbesitzer (Verdoppelung der Getreidepreise), – das ist es, was Kerenski in Wirklichkeit treibt. Das ist seine Klassenpolitik. Darin besteht sein Bonapartismus.

Um dies auf der Beratung zu verschleiern, mussten die Liber, Dan, Zeretelli und Tschernow diese fälschen.

Und die Teilnahme der Bolschewiki an dieser niederträchtigen Fälschung, an dieser Komödie, hatte ausschließlich nur dieselbe Berechtigung wie unsere Teilnahme an der dritten Duma: auch im „Schweinestall" müssen wir unsere Sache vertreten und auch aus dem „Schweinestall" Enthüllungsmaterial zur Aufklärung des Volkes liefern.

Der Unterschied ist jedoch der, dass die dritte Duma in einer offenkundigen Niedergangsperiode der Revolution einberufen wurde, während jetzt offenkundig eine neue Revolution heranwächst, – wir wissen leider sehr wenig über den Umfang und das Tempo dieses Anwachsens.

Als charakteristische Episode der Beratung betrachte ich die Rede Sarudnys. Er erzählt, dass Kerenski nur auf eine Reorganisierung der Regierung „anzuspielen brauchte", – und sofort reichten alle Minister ihre Demission ein. „Schon am nächsten Tag," fährt der naive, kindisch-naive (und noch gut, wenn nur naive) Sarudny fort, „am nächsten Tag schon lud man uns trotz unserer Demission ein, beriet sich mit uns, und schließlich blieben wir."

Allgemeine Heiterkeit im Saal", vermerken an dieser Stelle die offiziellen „Iswestija".

Lustige Leute, diese Teilnehmer an der bonapartistischen Beschwindelung des Volkes durch die Republikaner. Wir sind ja alle revolutionäre Demokraten, ohne Scherz!

Von Anfang an", sagt Sarudny, „hörten wir zwei Dinge: man solle die Kampffähigkeit der Armee und die Beschleunigung des Friedens auf demokratischer Grundlage anstreben. Was den Frieden betrifft, so habe ich in den anderthalb Monaten, in denen ich Mitglied der Provisorischen Regierung war, nicht erfahren, ob die Provisorische Regierung in dieser Richtung etwas getan hat. Ich habe nichts gesehen. (Beifall und Zurufe: ,Sie hat nichts getan', vermerken die ,Iswestija'.) Als ich mich als Mitglied der Provisorischen Regierung danach erkundigte, erhielt ich keine Antwort."1

Das sagt, laut Bericht der offiziellen „Iswestija", Sarudny.

Und die Konferenz hört schweigend zu, duldet solche Dinge, unterbricht den Redner nicht, hebt die Sitzung nicht auf und stellt nicht die Frage des sofortigen Rücktrittes Kerenskis und der Regierung. O nein! Diese „revolutionären Demokraten" halten fest zu Kerenski!

Sehr gut, ihr Herren, aber wodurch unterscheidet sich dann der Begriff „revolutionärer Demokrat" von dem Begriff … „Lakai"?

Dass Lakaien lustig lachen können, wenn „ihr" Minister, der sich durch eine seltene Naivität oder seltenen Stumpfsinn auszeichnet, ihnen berichtet, wie Kerenski die Minister wegjagt, um hinter dem Rücken des Volkes unter vier Augen sich mit den Kornilowisten zu verständigen, ist selbstverständlich. Dass Lakaien schweigen, wenn „ihr" Minister, der scheinbar die allgemeinen Phrasen vom Frieden ernst genommen und ihre Heuchelei nicht begriffen hat, zugibt, dass man ihm auf seine Frage nach realen Friedensschritten nicht einmal eine Antwort gab, ist nicht erstaunlich. Denn Lakaien ziemt es eben, sich von der Regierung betrügen zu lassen. Aber wo ist hier der Revolutionarismus, wo die Demokratie?

Und hier komme ich zu den Fehlern der Bolschewiki. Es war ein Fehler, sich in einem solchen Augenblick auf ironischen Beifall und Zwischenrufe zu beschränken.

Das Volk ist der Schwankungen und Verschleppungen müde. Die Unzufriedenheit wächst zusehends. Eine neue Revolution naht heran. Die reaktionären Demokraten, die Liber, Dan, Zeretelli usw., haben alles Interesse, die Aufmerksamkeit des Volkes auf die „Beratungs"-Komödie abzulenken, das Volk mit dieser Komödie zu „beschäftigen" und die Bolschewiki von den Massen zu trennen mittels der Fesselung der bolschewistischen Delegierten durch eine so unwürdige Beschäftigung, wie das Dasitzen und Anhören der Sarudnys! Dabei sind die Sarudnys noch nicht die Schlechtesten!

Die Bolschewiki hätten die Beratung verlassen sollen, zum Zeichen des Protestes und auch, um der Ablenkung der Aufmerksamkeit des Volkes von ernsten Problemen durch die Beratung nicht Vorschub zu leisten.

Neunundneunzig Hundertstel der bolschewistischen Delegation hätten in die Kasernen und Fabriken gehen sollen. Dort war der wirkliche Platz der Delegierten, die aus allen Ecken Russlands zusammengekommen waren und nach der Rede Sarudnys in den Abgrund der Sozialrevolutionären und menschewistischen Fäulnis geblickt hatten. Dort, in den Massen hätten die Lehren dieser Beratungskomödie in hunderten und tausenden Versammlungen und Gesprächen erörtert werden sollen.

Zehn überzeugte Soldaten oder Arbeiter aus einer rückständigen Fabrik sind tausendmal mehr wert als hundert von den Liber-Dans zusammengeschobene Delegierte. Die Ausnützung des Parlamentarismus besteht ganz besonders in revolutionären Zeiten durchaus nicht darin, dass man mit den Vertretern der Fäulnis kostbare Zeit verliert, sondern darin, die Massen am Beispiel dieser Fäulnis aufzuklären.

1 Lenin zitiert die Rede, die Sarudny am 29. (16.) September auf der Demokratischen Beratung gehalten hat, nach dem Bericht der „Iswestija des ZEK", Nr. 175 vom 2. Oktober (19. September) 1917.

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