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Wladimir I. Lenin 19170602 Ist die Doppelherrschaft verschwunden?

Wladimir I. Lenin: Ist die Doppelherrschaft verschwunden?

[„Prawda" Nr. 62, 2. Juni (20. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 520-523]

Nein. Die Doppelherrschaft ist geblieben. Die Kardinalfrage jeder Revolution, die Frage der Staatsmacht, befindet sich nach wie vor in der Schwebe, in einem unbestimmten, labilen, offenkundigen Übergangszustand.

Man vergleiche die Regierungspresse, z. B. die „Rjetsch", einerseits und die „Iswestija", das „Djelo Naroda", die „Rabotschaja Gazeta" andererseits. Man lese die spärlichen, leider nur allzu spärlichen offiziellen Mitteilungen über die Sitzungen der Provisorischen Regierung nach, wie sie die Behandlung der wichtigsten Fragen immer wieder „vertagt", weil sie nicht die Kraft aufbringt, irgendeinen bestimmten Kurs einzuschlagen. Man lese aufmerksam die Resolution des Exekutivkomitees des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates vom 16. Mai über die wesentlichste, die wichtigste Frage, und zwar über die Maßnahmen zum Kampf gegen die Zerrüttung der Wirtschaft, gegen die unvermeidlich drohende Katastrophe – und man wird sich davon überzeugen, dass die Doppelherrschaft unverändert weiterbesteht.

Alle geben zu, dass das Land mit Riesenschritten der Katastrophe entgegeneilt, und sie wollen davonkommen mit einem faulen Zauber.

Ist es nicht fauler Zauber, wenn eine Resolution über eine solche Frage, wie die Katastrophe, in einem Moment, wie dem jetzigen, Kommissionen auf Kommissionen häuft, Dezernate auf Dezernate, Subdezernate auf Subdezernate? Wenn dasselbe Exekutivkomitee zu der unerhörten Skandalaffäre der Grubenherren des Donezbeckens, die der bewussten Desorganisierung der Produktion überführt sind, eine Resolution annimmt, die wiederum nichts als fromme Wünsche enthält1? Die Preise festsetzen, die Profite regulieren, Mindestlöhne festsetzen, die Bildung von staatlich regulierten Trusts in Angriff nehmen – durch wen? Wie?

„ … durch die zentralen und lokalen Institutionen des Donez–Kriwoirog-Beckens. Diese Institutionen müssen demokratischen Charakter haben und zusammengesetzt sein aus Vertretern der Arbeiter, der Unternehmer, der Regierung und der demokratischen revolutionären Organisationen!"

Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Ist es doch aller Welt bekannt, dass derlei „demokratische" Institutionen sowohl in der Provinz als auch in Petrograd (dasselbe Exekutivkomitee des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten) existierten und existieren, ohne irgend etwas ausrichten zu können. Seit Ende März – März! – finden Beratungen der Arbeiter und Industriellen des Donezbeckens statt. Mehr als anderthalb Monate sind vergangen. Das Ergebnis ist, dass die Arbeiter des Donezbeckens gezwungen sind, die bewusste Desorganisation der Produktion durch die Industriellen festzustellen!

Und das Volk wird wieder mit Versprechungen, Kommissionen, Konferenzen von Vertretern der Arbeiter und Industriellen (vielleicht gar paritätisch?) abgespeist – „und wenn man nicht mehr weiter kann, dann fängt man wieder von vorne an!"

Die Wurzel des Übels ist die Doppelherrschaft. Der Fehler der Narodniki und Menschewiki wurzelt in ihrem Nichtverstehen des Klassenkampfes, den sie ersetzen oder vertuschen, beilegen wollen durch Phrasen, Versprechungen, faulen Zauber, Kommissionen unter „Hinzuziehung" von Vertretern – – derselben Doppelregierung!

Die Kapitalisten haben sich während des Krieges in unerhörter, skandalöser Weise bereichert. Sie haben auf ihrer Seite die Mehrheit der Regierung. Sie wollen die ganze Macht, sie können vom Standpunkt ihrer Klassenlage gar nicht anders, als nach der ganzen Macht trachten, sich für sie einsetzen.

Die Arbeitermassen, die die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, die die Sowjets in ihren Händen haben, die ihre Kraft als Mehrheit fühlen, denen von allen Seiten die „Demokratisierung" des öffentlichen Lebens versprochen wird, die wissen, dass Demokratie Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ist (und nicht umgekehrt, wie die Kapitalisten es wollen), die nach einer Verbesserung ihrer Lebenslage erst seit der Revolution (und auch das nicht überall) und nicht seit Beginn des Krieges trachten, die Arbeitermassen können nicht anders als nach der ganzen Macht für das Volk streben, d. h. für die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. nach einer Entscheidung nach dem Willen der Mehrheit der Arbeiter gegen die Minderheit der Kapitalisten, und nicht auf Grund einer „Verständigung" zwischen der Mehrheit und der Minderheit.

Die Doppelherrschaft bleibt bestehen. Die Regierung der Kapitalisten bleibt eine Regierung der Kapitalisten, trotz ihres Anhängsels von Narodniki und Menschewiki. Die Räte bleiben die Organisation der Mehrheit. Die Führer der Narodniki und Menschewiki pendeln hilflos hin und her und möchten gleichzeitig auf zwei Stühlen sitzen.

Doch die Krise dehnt sich aus. Wie weit wir gekommen sind, zeigen die unerhört frechen Verbrechen der Kapitalisten der Bergwerksindustrie, die Sabotage und Stilllegungen der Produktion durch sie. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Man spricht von Aussperrungen. Eigentlich haben die Aussperrungen bereits begonnen, nämlich in der Form der Desorganisierung der Produktion durch die Kapitalisten (ist doch die Kohle das Brot der Industrie!!), in der Form zunehmender Arbeitslosigkeit.

Die gesamte Verantwortung für diese Krise, für die herannahende Katastrophe fällt auf die Führer der Narodniki und Menschewiki. Denn gerade sie sind gegenwärtig die Führer der Sowjets, d. h. der Mehrheit.

Es ist unvermeidlich, dass die Minderheit (die Kapitalisten) sich der Mehrheit nicht fügen will. Wer nicht alles vergessen hat, was die Wissenschaft sowohl wie die Erfahrung aller Länder lehrt, wer den Klassenkampf nicht vergessen hat, der wird in einer so grundlegenden und brennenden Frage nicht vertrauensselig auf die „Verständigung" mit den Kapitalisten warten.

Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die Räte, d. h. die Arbeiter und Bauern hätten die volle Möglichkeit, die Situation zu retten, die Kapitalisten an der Desorganisierung und Stilllegung der Produktion zu hindern, die Produktion unverzüglich in der Tat unter ihre Kontrolle zu stellen, wenn nicht die „Verständigungs"politik der Führer der Narodniki und der Menschewiki sie daran hinderte. Diese tragen die ganze Verantwortung für die Krise und für die Katastrophe.

Aber anders als durch die Entscheidung der Mehrheit der Arbeiter und Bauern gegen die Minderheit der Kapitalisten gibt es keinen Ausweg. Kein Aufschub wird hier helfen, er wird die Krankheit nur verschlimmern.

Vom Standpunkt des Marxismus ist das „Paktieren" der Führer der Narodniki und Menschewiki ein Ausdruck der Schwankungen des Kleinbürgertums, das fürchtet, sich den Arbeitern anzuvertrauen, das fürchtet, mit den Kapitalisten zu brechen. Diese Schwankungen sind unvermeidlich, ebenso unvermeidlich, wie unser Kampf, der Kampf der proletarischen Partei für die Überwindung dieser Schwankungen, für die Aufklärung des Volkes über die Notwendigkeit, die Produktion gegen die Kapitalisten wieder aufzubauen, zu organisieren, zu steigern.

Einen anderen Ausweg gibt es nicht. Entweder zurück zur Allmacht der Kapitalisten oder vorwärts zur wirklichen Demokratie, zur Entscheidung durch die Mehrheit. Die gegenwärtige Doppelherrschaft kann sich nicht lange halten.

1 Die Frage der Sabotage der Grubenherren des Donezbeckens wurde in der Sitzung des Exekutivkomitees des Petrograder Rates am 16. Mai 1917 behandelt. Die „Iswestija" Nr. 68 vom 30. (17.) Mai 1917 berichten darüber folgendes: „Die Delegierten der Arbeiter des Donezbeckens Sandomirski und andere schilderten den traurigen Zustand aller Industriezweige des Donezbeckens, der offensichtlich eine Gefahr für die Existenz des Landes ist. Nach Meinung der Delegation ist das sofortige Eingreifen der Staatsmacht der einzige Ausweg aus der geschaffenen Lage. Nach Besprechung der Frage wird folgende Resolution angenommen: ,1. Festsetzung von Höchstpreisen für alle Erzeugnisse der Montan- und Hüttenindustrie auf dem heutigen Niveau, 2. Regulierung des Profits, 3. Festsetzung von Mindestarbeitslöhnen und weitere planmäßige Regulierung derselben in Verbindung mit der Versorgung der Arbeiter mit Bedarfsgegenständen nach festgesetzten Preisen, um einen ausreichenden Lebensstandard zu gewährleisten, 4. die Bildung von staatlich regulierten Trusts ist in Angriff zu nehmen, 5. alle Maßnahmen sind durchzuführen durch die zentralen und lokalen Institutionen des Donez-Kriwoirog-Beckens (z. B. das Donez-Komitee). Diese Institutionen müssen demokratischen Charakter haben und zusammengesetzt sein aus Vertretern der Arbeiter, der Unternehmer, der Regierung und der demokratischen revolutionären Organisationen."

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