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Wladimir I. Lenin 19170707 Kann man die Arbeiterklasse mit dem „Jakobinertum" schrecken?

Wladimir I. Lenin: Kann man die Arbeiterklasse mit dem „Jakobinertum" schrecken?

[Prawda" Nr. 90, 7. Juli (24. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 213-215]

Das Organ des „sozialistischen Gedankens" (nicht lachen!), der bürgerliche und chauvinistische „Djen", kommt in Nr. 91 auf den wirklich interessanten Leitartikel der „Rjetsch" vom 18. Juni zurück1. Der „Djen" hat diesen Leitartikel, in dem neben dem verärgerten konterrevolutionären Bourgeois gerade auch der Historiker hervortritt, ganz und gar nicht begriffen. Der „Djen" liest aus dem Leitartikel die „feste" Absicht der Kadetten heraus, aus der „Koalitionsregierung" auszutreten.

Das ist Unsinn. Die Kadetten drohen, um die Zeretelli und Tschernow einzuschüchtern. Das ist nicht ernst zu nehmen.

Ernst zu nehmen und interessant ist, wie der Leitartikler der „Rjetsch" am 18. Juni die Machtfrage vom Standpunkte des Historikers gestellt hat.

Wenn“ – so schrieb er – „bei der früheren Zusammensetzung der Regierung wenigstens eine gewisse Führung der russischen Revolution möglich war, so scheint ihr jetzt beschieden zu sein, sich nach den elementaren Gesetzen aller Revolutionen weiter zu entwickeln… Die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Weiterbestehens einer Regierungskombination, die sich nicht bewährt hat, wird jetzt bereits nicht von den Bolschewiki allein gestellt" (man beachte: nicht von den Bolschewiki allein), „…und nicht nur von der Mehrheit des Rates… Die Frage muss auch von den kapitalistischen Ministern selbst gestellt werden."

Es ist ein richtiges Eingeständnis des Historikers, dass nicht die Bolschewiki allein, sondern das ganze Wechselverhältnis der Klassen, das ganze Leben der Gesellschaft die Frage nach der „Zweckmäßigkeit des Weiterbestehens einer Regierungskombination, die sich nicht bewährt hat", auf die Tagesordnung gestellt hat. Schwankungen – das ist die Wirklichkeit. Die Offensive ist ein möglicher Ausweg zum Sieg der imperialistischen Bourgeoisie. Und der andere mögliche Ausweg?

Der Historiker in der „Rjetsch" beantwortet diese Frage folgendermaßen:

Wenn die Räte ,alle Macht' ergriffen haben, werden sie sich bald davon überzeugen, dass sie über sehr wenig Macht verfügen. Und sie werden diesen Mangel an Macht durch die in der Geschichte erprobten jungtürkischen oder jakobinischen Methoden ersetzen müssen … Werden sie bereit sein, indem sie erneut die ganze Frage aufrollen, bis zum Jakobinertum und zum Terror herabzusinken, oder werden sie den Versuch machen, ihre Hände in Unschuld zu waschen? Das ist die Frage, die in den nächsten Tagen entschieden werden muss."

Der Historiker hat Recht. Ob in den nächsten Tagen oder nicht in den nächsten Tagen, so doch jedenfalls sehr bald muss eben diese Frage entschieden werden. Entweder – Offensive, Wendung zur Konterrevolution, Erfolg (auf lange?) der Sache der imperialistischen Bourgeoisie, das „Hände-in-Unschuld-waschen" Tschernows und Zeretellis.

Oder – „Jakobinertum". Die Historiker der Bourgeoisie sehen im Jakobinertum ein Fallen („herabsinken"). Die Historiker des Proletariats sehen im Jakobinertum einen der Höhepunkte im Befreiungskampf der unterdrückten Klasse. Die Jakobiner haben Frankreich die besten Vorbilder der demokratischen Revolution und des Widerstandes gegen die antirepublikanische Koalition der Monarchen gegeben. Es war den Jakobinern nicht beschieden, einen vollständigen Sieg zu erringen, hauptsächlich darum, weil das Frankreich des XVIII. Jahrhunderts auf dem Festlande von allzu rückständigen Ländern umgeben war, und weil Frankreich selbst keine materiellen Grundlagen für den Sozialismus besaß, es gab keine Banken, keine kapitalistischen Syndikate, keine Maschinenindustrie, keine Eisenbahnen.

Ein „Jakobinertum" in Europa oder an der Grenze von Europa und Asien im XX. Jahrhundert wäre die Herrschaft der revolutionären Klasse des Proletariats; es könnte, unterstützt von den armen Bauern und gestützt auf das Vorhandensein materieller Grundlagen für die Bewegung zum Sozialismus, nicht nur all das Große, Unausrottbare, Unvergessliche vollbringen, was die Jakobiner des XVIII. Jahrhunderts vollbracht haben, sondern auch den dauernden Sieg der Werktätigen im Weltmaßstabe herbeiführen.

Der Bourgeoisie eignet es, das Jakobinertum zu hassen. Dem Kleinbürgertum, es zu fürchten. Die klassenbewussten Arbeiter und Werktätigen glauben an den Übergang der Staatsmacht auf die revolutionäre, unterdrückte Klasse, denn dies ist das Wesen des Jakobinertums, der einzige Ausweg aus der Krise, die Rettung vor der wirtschaftlichen Zerrüttung und dem Kriege.

1 Der Leitartikel der „Rjetsch" vom 1. Juli (18. Juni) 1917 beschäftigte sich mit der für diesen Tag angekündigten Demonstration in Petrograd und gelangte unter Berücksichtigung der Stimmung der breiten Volksmassen, die sich von den Koalitionssozialisten abwendeten, zu folgenden Schlüssen: „Das Ziel der Koalitionsregierung, die Schaffung einer festen Macht, die Vertrauen besitzt, ist nicht erreicht … Die sozialistischen Minister haben sich unter ihren eigenen Anhängern durch die ,kadettischen' Erklärungen auf dem Rätekongress diskreditiert, und mussten in der letzten Woche im Fahrwasser der Bolschewiki segeln… Statt einer stärkeren Macht stellt das Koalitionskabinett eine schwächere Macht dar die Führung der Revolution muss den Platz den elementaren Gesetzen aller Revolutionen überlassen …" Die „Rjetsch" meinte, die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Weiterbestehens der Regierungskoalition werde nicht nur von den Bolschewiki gestellt, sie müsse auch von den kapitalistischen Ministern gestellt werden. Wenn die Losung „Alle Macht den Räten" verwirklicht sein wird, würden die Räte sich überzeugen, dass sie über sehr wenig Macht verfügen, und sie würden diesen Mangel an Macht durch jungtürkische oder jakobinische Methoden ersetzen wollen. Zum Schluss erklärt die „Rjetsch", die entscheidende Frage der russischen Revolution sei, ob sie (die Sozialisten) bereit sein werden, indem sie erneut die ganze Frage aufrollen, bis zum Jakobinertum und zum Terror herabzusinken, oder ob sie den Versuch machen werden, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Der Artikel stammte aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder Miljukows. Die Ausdrücke „Historiker" und „verärgerter konterrevolutionärer Bourgeois" beziehen sich auf diesen.

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