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Wladimir I. Lenin 19170421 Louis Blanc-Politik

Wladimir I. Lenin: Louis Blanc-Politik

[„Prawda" Nr. 27, 21. (8.) April 1917 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 121-124]

Der französische Sozialist Louis Blanc hat in der Revolution von 1848 eine traurige Berühmtheit dadurch erlangt, dass er den Standpunkt des Klassenkampfes vertauschte mit dem Standpunkt kleinbürgerlicher Illusionen, die unter dem Deckmantel einer scheinsozialistischen Phraseologie in Wirklichkeit nur der Festigung des Einflusses der Bourgeoisie auf das Proletariat dienten. Louis Blanc wartete auf die Hilfe der Bourgeoisie, er hoffte und verleitete zu der Hoffnung, die Bourgeoisie könnte den Arbeitern bei dem Werk der „Organisation der Arbeit" – dieser unklare Terminus sollte „sozialistische" Bestrebungen zum Ausdruck bringen – helfen.

Die Louis Blanc-Politik hat jetzt in Russland auf dem rechten Flügel der „Sozialdemokratie", in der Partei des Organisationskomitees, einen vollen Sieg errungen. Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow und viele andere, die heute die Führer des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates sind und auch auf der dieser Tage beendeten Allrussischen Rätekonferenz1 die Führung hatten, haben eben die Position Louis Blancs bezogen.

In allen Hauptfragen des gegenwärtigen politischen Lebens stehen diese Führer, die ungefähr dieselben Ansichten vertreten wie die in allen Ländern zu findende Richtung des Zentrums, Kautsky, Longuet, Turati und viele andere, eben auf dem kleinbürgerlichen Standpunkt Louis Blancs. Nehmen wir die Frage des Krieges.

Für den proletarischen Standpunkt ist kennzeichnend die klare klassenmäßige Charakterisierung des Krieges und die unversöhnliche Gegnerschaft gegen den imperialistischen Krieg, d. h. den Krieg zwischen Gruppen kapitalistischer (gleichviel, ob monarchischer oder republikanischer) Länder um die Teilung der kapitalistischen Beute.

Der kleinbürgerliche Standpunkt unterscheidet sich vom bürgerlichen (offene Rechtfertigung des Krieges, offene „Verteidigung des Vaterlandes", d. h. Verteidigung der „Interessen" der eigenen Kapitalisten, Verteidigung ihrer „Rechte" auf Annexionen) dadurch, dass der Kleinbürger Annexionen „verwirft", den Imperialismus „verurteilt", von der Bourgeoisie „fordert", sie solle im Rahmen der imperialistischen internationalen Verknüpfungen und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aufhören, imperialistisch zu sein. Der Kleinbürger beschränkt sich auf diese fromme, harmlose, leere Deklamation, wobei er in Wirklichkeit nur unbeholfen hinter der Bourgeoisie hertrottet, in dem einen oder anderen Punkt mit dem Proletariat in Worten „sympathisiert", in Wirklichkeit jedoch von der Bourgeoisie abhängig bleibt, nicht fähig oder nicht willens, den Weg zu erkennen, der zum Sturz der Kapitalherrschaft führt, auf dem allein sich die Menschheit vom Imperialismus befreien kann.

Von den bürgerlichen Regierungen zu „fordern", sie sollen eine „feierliche Deklaration" erlassen im Geiste der Ablehnung von Annexionen, – das ist dem Kleinbürger der Gipfel des Mutes und ein Musterbeispiel anti-imperialistischer „Zimmerwalder" Grundsatzfestigkeit. Es ist nicht schwer, zu sehen, dass dies Louis Blanc-Politik schlimmster Sorte ist.

Erstens wird ein auch nur halbwegs erfahrener bürgerlicher Politikant nie in Verlegenheit geraten, wenn es darauf ankommt, „glänzende", effektvolle, wohltönende, nichtssagende, zu nichts verpflichtende Phrasen gegen Annexionen „im allgemeinen" in jeder Menge zu produzieren. Gilt es aber die Tat, so ist es leicht, irgendeinen Trick anzuwenden, etwa so, wie das kürzlich die „Rjetsch" tat, die den traurigen Mut hatte, zu erklären, dass Kurland (das heute von den imperialistischen Räubern des bourgeoisen Deutschland annektiert ist) keine Annexion Russlands sei!!

Das ist der empörendste Rosstäuscherkniff, die niederträchtigste Beschwindelung der Arbeiter durch die Bourgeoisie, denn wer auch nur einigermaßen das politische ABC kennt, wird zugeben müssen, dass Kurland immer eine Annexion Russlands war.

Wir richten an die „Rjetsch" die offene und direkte Aufforderung: 1. sie möge dem Volke eine politische Definition des Begriffes „Annexion" geben, die auf alle Annexionen der Welt zutrifft, sowohl auf die deutschen wie auf die englischen und russischen, auf die Annexionen der Vergangenheit wie die der Gegenwart, auf alle Annexionen überhaupt; 2. sie möge klar und deutlich sagen, was es ihrer Meinung nach heißt, auf Annexionen verzichten, nicht nur in Worten, sondern in der Tat. Möge sie eine politische Definition des Begriffes „tatsächlicher Verzicht auf Annexionen" geben, die sich nicht nur auf die Deutschen bezieht, sondern auch auf die Engländer und auf alle Völker, die jemals irgendwelche Länder annektiert haben.

Wir behaupten, dass die „Rjetsch" entweder unserer Aufforderung ausweichen oder vor dem ganzen Volk durch uns entlarvt werden wird. Und gerade angesichts der von der „Rjetsch" angeschnittenen Kurlandfrage ist unser Streit kein theoretischer, sondern ein praktischer Streit, unaufschiebbar, dringend, aktuell.

Zweitens, nehmen wir sogar einen Augenblick lang an, dass die bürgerlichen Minister die personifizierte Aufrichtigkeit sind, dass die Gutschkow, Lwow, Miljukow u. Co. ganz ehrlich glauben, dass es möglich sei, auch unter Beibehaltung des Kapitalismus auf Annexionen zu verzichten, und auf sie tatsächlich, verzichten wollen.

Gehen wir einmal von dieser Annahme aus – ganz im Geiste Louis Blancs.

Es fragt sich, darf ein erwachsener Mensch sich damit begnügen, einfach hinzunehmen, was die Leute von sich denken, ohne es zu prüfen an Hand dessen, was sie tun? Darf ein Marxist Wünsche und Erklärungen der objektiven Wirklichkeit gleichsetzen?

Nein, er darf es nicht.

Die Annexionen sind bedingt durch die Verquickung des Finanzkapitals, des Bankkapitals, des imperialistischen Kapitals. Hier liegt die moderne wirtschaftliche Grundlage der Annexionen.

Von dieser Seite aus betrachtet, ist die Annexion der politisch garantierte Profit aus den in tausenden und aber tausenden Unternehmungen der annektierten Länder „investierten" Milliardenkapitalien. Es ist unmöglich, selbst bei vorhandenem guten Willen, auf die Annexionen zu verzichten, ohne entscheidende Schritte zum Sturz der Kapitalherrschaft zu tun.

Bedeutet dies etwa, wie das „Jedinstwo", die „Rabotschaja Gazeta" und andere „Louis Blancs" unseres Kleinbürgertums zu folgern bereit sind und wirklich folgern, dass man die entscheidenden Schritte zum Sturz des Kapitals nicht tun soll? Dass man sich mit irgendwelchen Annexionen abfinden soll?

Nein. Man muss energische Schritte zum Sturz des Kapitalismus tun. Das muss man geschickt und allmählich tun, gestützt lediglich auf das Bewusstsein und die Organisiertheit der erdrückenden Mehrheit der Arbeiter und der armen Bauern. Diese Schritte muss man aber tun. Und die Arbeiterdeputiertenräte haben an vielen Orten bereits begonnen, diese Schritte zu tun.

Die Forderung des Tages ist: entschlossene und unwiderrufliche Abgrenzung von den Louis Blancs, von den Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow, von der Partei des Organisationskomitees, von der Partei der Sozialrevolutionäre usw. usw. Aufklärung der Massen darüber, dass die Louis Blanc-Politik den Erfolg der weiteren Revolution und sogar der Freiheit in Frage stellt und unmöglich machen wird, wenn die Massen die Schädlichkeit dieser kleinbürgerlichen Illusionen nicht einsehen und sich nicht den klassenbewussten Arbeitern bei ihren vorsichtigen, allmählichen, überlegten, aber festen und unverzüglichen Schritten zum Sozialismus anschließen. Außerhalb des Sozialismus gibt es für die Menschheit keine Rettung vor Kriegen, vor Hungersnot, vor dem Untergang weiterer Millionen und aber Millionen von Menschen.

1 Die Allrussische Rätekonferenz wurde vom Exekutivkomitee des Petrograder Rates einberufen. Sie trat am 11. April (29. März) in Petrograd zusammen und stand unter dem entscheidenden Einfluss der Menschewiki. Die Konferenz entschied sich für die Plattform des sogenannten „revolutionären Oboronzentums" und der Unterstützung der Provisorischen Regierung, unter der Bedingung, dass letztere die „Vereinbarung vom 2. März" (d. h. die Vereinbarung zwischen dem Provisorischen Vollzugsausschuss der Reichsduma und dem Exekutivkomitee des Rates über die Bildung der Regierung und deren Programm, siehe Anm. 8 und 22) einhält und dass die Regierung durch den Rat kontrolliert wird. Nach einem Referat Zeretellis wurde mit 325 gegen 57 Stimmen bei 20 Stimmenthaltungen eine Resolution angenommen, in der es u. a. hieß: „…Die Konferenz der Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten fordert die Demokratie Russlands auf, alle lebendigen Kräfte des Landes auf allen Gebieten des Volkslebens zu mobilisieren, um die Front und das Hinterland zu festigen."

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