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Wladimir I. Lenin 19170609 Man muss die Kapitalisten entlarven

Wladimir I. Lenin: Man muss die Kapitalisten entlarven

[„Prawda" Nr. 67, 9. Juni (27. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 45 f.]

In der „Nowaja Schisn"1 vom 24. Mai schrieb W. Basarow, dem niemand Sachkenntnis in den Fragen, die unsere Industrie betreffen, absprechen wird2:

Der Krieg und die durch ihn hervorgerufene Zerrüttung der Wirtschaft und der Finanzen haben eine Lage geschaffen, wo das private Interesse des privaten Unternehmers nicht darauf gerichtet ist, die Produktivkräfte des Landes zu stärken und zu entwickeln, sondern sie zu zerstören. Gegenwärtig ist es vorteilhafter, die materiellen Bestandteile des Kapitals – in Erwartung einer Preissteigerung – brachliegen zu lassen, statt sie in Umlauf zu setzen; es ist vorteilhafter, unter den ruinösesten Bedingungen für das Land Heeresartikel herzustellen, die sonst gar nicht zu gebrauchen sind, statt gewissenhaft die dringendsten Bedürfnisse der Volksmassen zu befriedigen; am vorteilhaftesten ist es, neue Betriebe der Rüstungsindustrie zu bauen, die man nie in Betrieb setzen wird, die erst in zwei bis drei Jahren fertiggestellt sein werden. Ist es da verwunderlich, dass die sogenannte ,Volkswirtschaft' bei uns zum Schauplatz einer wilden Orgie von Marodeuren, einer industriellen Anarchie, einer systematischen Plünderung des Volksvermögens geworden ist? …

Was soll einen wenig klassenbewussten oder sogar einen ganz klassenbewussten Arbeiter dazu veranlassen, auf eine ,übermäßige' Lohnerhöhung von 3-4 Rubel zu verzichten, wenn vor seinen Augen Hunderte von Millionen gestohlen und verpulvert werden?"

Kein gewissenhafter Mensch wird es zu bestreiten wagen, dass W. Basarow die reine Wahrheit spricht.

Eine „Orgie von Marodeuren" – es gibt keinen anderen Ausdruck zur Kennzeichnung des Verhaltens der Kapitalisten während des Krieges.

Diese Orgie bringt das ganze Land ins Verderben.

Hier darf nicht geschwiegen, nicht gezögert werden.

Jeder Arbeiter, der sieht und begreift, was in dieser Hinsicht in „seiner" Fabrik vor sich geht; jeder Angestellte einer Bank, einer Fabrik, eines Handelsunternehmens, dem der Untergang des Landes nicht gleichgültig ist; jeder Ingenieur, Statistiker, Buchhalter – sie alle müssen nach Kräften bemüht sein, genaues Tatsachenmaterial, wenn auch nur stückweises, und zwar möglichst dokumentarisches Material über diese Orgie von Marodeuren, d. h. über die Preise und über die Profite zu sammeln.

Hier darf nicht geschwiegen, nicht gezögert werden. Wir sind doch schließlich keine Kinder, dass wir uns durch Versprechungen der quasi-sozialistischen Minister oder durch Kommissionen, Dezernate und Subdezernate von Beamten einlullen lassen sollen.

Wenn die russische Regierung nicht die Gefangene der Kapitalisten wäre, wenn sie aus Leuten bestände, die den Willen und die Fähigkeit zum entschlossenen Handeln haben, um das Land vor dem Untergang zu retten, so würde sie sofort, ohne auch nur einen Tag, eine Stunde zu zögern, ein Gesetz erlassen, wonach sämtliche Preise für Heereslieferungen, sämtliche Angäben über den Umfang der Profite zu veröffentlichen sind.

Wer über den kommenden Zusammenbruch, über die Rettung des Landes vor dem Untergang schwätzt, ohne dies zu tun, der wird zum Betrüger der Volksmassen oder zum Spielzeug in den Händen von Betrügern.

Es wäre jedoch kindlich-naiv, von der Regierung der Kapitalisten, von den Herren Lwow, Tereschtschenko, Schingarjow und Konsorten, von ihrem impotenten und possenhaften „Anhängsel", den Tschernow, Zeretelli, Pjeschechonow, Skobelew, zu erwarten, dass sie ein solches Gesetz erlassen und die Kapitalisten entlarven. Nur wer an „ministerialistischer Gehirnerweichung" leidet, kann dies erwarten.

Um so energischer muss man an die Initiative jedes einzelnen appellieren. Genossen und Bürger! Alle, die tatsächlich zur Rettung des Landes vor der Hungersnot beitragen wollen, müssen sofort alle ihnen zugänglichen Daten über Preise und Profite sammeln und veröffentlichen.

Die Entlarvung der Kapitalisten ist der erste Schritt zu ihrer Bändigung.

Der erste Schritt zum Kampf gegen die Marodeure ist, dass der Schleier von der Orgie der Marodeure heruntergerissen wird.

1 „Nowaja Schisn" („Neues Leben") – Organ der sozialdemokratischen Internationalisten, herausgegeben von M. Gorki. Der Redaktion gehörten neben Gorki N. Suchanow, W. Strojew, In. Serebrow an. Als Mitarbeiter wurden angekündigt: B. Awilow, W. Basarow, A. Bogdanow, V. Brjussow, W. Kerschenzew, L. Krassin, N. Krestinski, A. Losowski, A. Lunatscharski, L. Martow, Ramsay Macdonald, W. Majakowski, M. Pawlowitsch, M. Pokrowski, Larissa Reißner, Romain Rolland, A. Swiderski, Philipp Snowden, J. Steklow, K. Timirjasew, A. N. Tolstoi, Uritzki, Schklowski u. a. Bis zum Oktober schwankte die „Nowaja Schisn" fortwährend zwischen dem Sozialpazifismus und der Revolution, bald trat sie gegen die Provisorische Regierung und die Kompromissler auf, bald gegen die Bolschewiki. Die Oktoberrevolution jagte dem Intellektuellenorgan, das keinen Einfluss in den Massen hatte, Schrecken ein und die „Nowaja Schisn"-Leute wandten sich scharf gegen die Sowjets. Die einen von ihnen rutschten zum offenen Menschewismus ab, andere zogen sich vom politischen Leben zurück. Die ehemaligen Bolschewiki und die sogenannten „Meschrayonzy" kamen zur Bolschewistischen Partei zurück. Eine kleine Gruppe der Anhänger der „Nowaja Schisn" schloss sich, nachdem die Hauptstadt nach Moskau verlegt wurde, der Moskauer Organisation der sozialdemokratischen Internationalisten an; diese Gruppe bestand bis zum Jahre 1919, wo sie sich mit der Kommunistischen Partei verschmolz.

2 Es handelt sich um den Artikel W. Basarows, betitelt: „Die gegenwärtige Anarchie und der kommende Napoleon" in der „Nowaja Schisn" Nr. 30 vom 6. Juni (24. Mai) 1917.

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