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Wladimir I. Lenin 19170520 Offener Brief an die Delegierten des Allrussischen Bauernkongresses

Wladimir I. Lenin: Offener Brief an die Delegierten des Allrussischen Bauernkongresses1

[„Soldatskaja Prawda" Nr. 19, 24. (11.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 464-469]

Genossen Bauerndelegierte!

Das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki), dem anzugehören ich die Ehre habe, wollte mir die Vollmacht erteilen, unsere Partei auf dem Bauernkongress zu vertreten. Da ich bis jetzt krankheitshalber nicht die Möglichkeit hatte, diesen Auftrag auszuführen, erlaube ich mir, mich an euch mit diesem offenen Brief zu wenden, um die allrussische Vereinigung der Bauernschaft zu begrüßen und kurz auf die tiefen Meinungsverschiedenheiten hinzuweisen, die unsere Partei von den Parteien der „Sozialrevolutionäre" und der „menschewistischen Sozialdemokraten" trennen.

Diese tiefen Meinungsverschiedenheiten beziehen sich auf die drei wichtigsten Fragen: des Bodens, des Krieges und der Staatsordnung.

Der ganze Boden muss dem Volke gehören. Alle gutsherrlichen Ländereien müssen entschädigungslos den Bauern überlassen werden. Das ist klar. Der Streit geht darum: sollen die Bauern örtlich sofort den ganzen Boden in Besitz nehmen, ohne den Grundbesitzern irgendwelche Pacht zu bezahlen und ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten, oder sollen sie es nicht tun?

Unsere Partei ist der Ansicht, dass sie es tun sollen, und empfiehlt den Bauern, sofort vom Boden Besitz zu ergreifen, diese Maßnahme möglichst organisiert durchzuführen, unter keinen Umständen die Beschädigung des Inventars zuzulassen und alle Anstrengungen darauf zu richten, dass die Produktion von Getreide und Fleisch gesteigert werde, denn die Soldaten an der Front leiden furchtbare Not. Die Konstituierende Versammlung wird die endgültige Bodenordnung festsetzen, die vorläufige Regelung aber, jetzt, sofort, zum Zwecke der Frühjahrsbestellung, ist ohnehin nicht anders möglich als durch die örtlichen Institutionen, denn unsere Provisorische Regierung, die Regierung der Grundbesitzer und Kapitalisten, verschleppt die Einberufung der Konstituante und hat bis jetzt noch nicht einmal den Termin ihrer Einberufung festgesetzt.

Vorläufig können nur die örtlichen Institutionen über den Boden verfügen. Das Bestellen der Felder ist unerlässlich. Die Mehrzahl der Bauern draußen im Lande wird es durchaus verstehen, organisiert das Land zu verwalten und zu bebauen. Das ist notwendig, um die Verpflegung der Soldaten an der Front zu verbessern. Deshalb geht es nicht an, auf die Konstituierende Versammlung zu warten. Wir bestreiten keineswegs das Recht der Konstituierenden Versammlung, die endgültigen Gesetze über die Übergabe des Bodens an das ganze Volk und die Formen der Verwaltung im Einzelnen festzusetzen. Aber vorläufig, jetzt in diesem Frühjahr, müssen die Bauern an Ort und Stelle selber über den Boden verfügen. Die Soldaten an der Front können und müssen Delegierte aufs Land entsenden.

Weiter. Damit der ganze Boden in die Hände der Arbeitenden komme, ist ein enges Bündnis zwischen den Stadtproletariern und den ärmsten Bauern (Halbproletariern) notwendig. Ohne ein solches Bündnis kann man die Kapitalisten nicht besiegen. Werden diese aber nicht besiegt, so wird kein Übergang des Bodens in die Hände des Volkes dessen Elend beseitigen können. Den Grund und Boden kann man nicht essen, und ohne Geld, ohne Kapital sind weder Arbeitswerkzeuge noch Vieh oder Samen zu beschaffen. Die Bauern dürfen weder den Kapitalisten noch den reichen Bauern (denn auch die sind Kapitalisten) vertrauen, sondern nur den Arbeitern in den Städten. Nur im Bündnis mit ihnen werden die armen Bauern es erreichen, dass der Boden, die Eisenbahnen, die Banken und Fabriken in den Besitz aller Werktätigen übergehen, denn durch den Übergang des Bodens allein in die Hände des Volkes können Not und Elend nicht beseitigt werden.

In manchen Gegenden Russlands gehen die Arbeiter bereits dazu über, eine Arbeiteraufsicht (Kontrolle) über die Fabriken einzuführen. Eine solche Kontrolle der Arbeiter ist für die Bauern vorteilhaft, denn dadurch wird die Produktion gesteigert, werden die Produkte verbilligt. Die Bauern müssen diese Initiative der Arbeiter nach Kräften unterstützen und den Verleumdungen der Kapitalisten gegen die Arbeiter keinen Glauben schenken.

Die zweite Frage betrifft den Krieg.

Dieser Krieg ist ein Eroberungskrieg. Die Kapitalisten aller Länder führen ihn zu Eroberungszwecken, um die Erhöhung ihrer Profite. Dem werktätigen Volk aber kann und wird dieser Krieg nichts als Vernichtung, Grauen, Verwüstung und Verwilderung bringen. Unsere Partei, die Partei der klassenbewussten Arbeiter, die Partei der ärmsten Bauern, verurteilt darum diesen Krieg entschieden und unbedingt, sie lehnt es ab, die Kapitalisten des einen Landes gegenüber den Kapitalisten eines anderen Landes zu rechtfertigen, sie lehnt es ab, die Kapitalisten irgendeines Landes zu unterstützen, sie sucht die rascheste Beendigung des Krieges durch den Sturz der Kapitalisten in allen Ländern, auf dem Wege der proletarischen Revolution in allen Ländern zu erreichen.

In unserer gegenwärtigen neuen Provisorischen Regierung gehören zehn Minister den Parteien der Grundherren und Kapitalisten an, sechs der Partei der „Narodniki" („Sozialrevolutionäre") und der „menschewistischen Sozialdemokraten". Unserer Überzeugung nach begehen die Narodniki und die Menschewiki durch ihren Eintritt in die kapitalistische Regierung und überhaupt durch ihre Bereitwilligkeit, diese Regierung zu unterstützen, einen schweren und verhängnisvollen Fehler.

Solche Männer wie Zeretelli und Tschernow hoffen, die Kapitalisten zu bewegen, diesen Eroberungskrieg möglichst bald und auf ehrliche Weise zu beenden. Aber die Führer der Narodniki und der Menschewiki sind im Irrtum: in Wirklichkeit helfen sie den Kapitalisten, eine Offensive der russischen Truppen gegen Deutschland vorzubereiten, das heißt den Krieg in die Länge zu ziehen und die unerhört schweren Opfer, die das russische Volk in diesem Krieg gebracht hat, zu vergrößern.

Wir sind überzeugt, dass die Kapitalisten aller Länder das Volk betrügen, indem sie einen baldigen und gerechten Frieden versprechen und in Wirklichkeit den Eroberungskrieg in die Länge ziehen. Die russischen Kapitalisten, die die alte Provisorische Regierung beherrschten und die auch die neue Regierung in Händen haben, wollten nicht einmal jene geheimen Raubverträge veröffentlichen, die der frühere Zar, Nikolaus Romanow, mit den Kapitalisten Englands, Frankreichs und anderer Länder geschlossen hatte, um den Türken Konstantinopel, den Österreichern Galizien, den Türken Armenien und so weiter wegzunehmen. Die Provisorische Regierung hat diese Verträge anerkannt und erkennt sie weiter an.

Unsere Partei ist der Meinung, dass diese Verträge genau solche verbrecherische Raubverträge sind, wie die Verträge der deutschen Kapitalisten und ihres räuberischen Kaisers Wilhelm und seiner Verbündeten.

Das Blut der Arbeiter und Bauern darf nicht für die Verwirklichung solcher Raubziele der Kapitalisten fließen.

Dieser verbrecherische Krieg muss möglichst bald beendet werden, und zwar nicht durch einen Sonderfrieden mit Deutschland, sondern durch einen allgemeinen Frieden, und nicht durch einen Frieden der Kapitalisten, sondern durch den Frieden, den die arbeitenden Massen gegen die Kapitalisten schließen. Es gibt dazu nur einen Weg: den Übergang der ganzen Staatsmacht in die Hände der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputiertenräte sowohl in Russland wie in den anderen Ländern. Nur solche Räte sind imstande, den Betrug der Völker durch die Kapitalisten tatsächlich zu verhindern, die Verlängerung des Krieges durch die Kapitalisten zu verhindern.

Und hier bin ich bei der letzten von mir aufgeworfenen Frage angelangt: der Frage der Staatsordnung.

Russland muss eine demokratische Republik sein. Damit ist selbst die Mehrheit der Grundbesitzer und Kapitalisten einverstanden, die immer für die Monarchie eintraten, jetzt aber doch eingesehen haben, dass das Volk in Russland die Wiederaufrichtung der Monarchie unter keinen Umständen zulassen wird. Die Kapitalisten machen jetzt die größten Anstrengungen, um die Republik in Russland der Monarchie so ähnlich wie möglich zu gestalten, damit sie möglichst leicht wieder in eine Monarchie umgewandelt werden kann (Beispiele hierfür hat es in vielen Ländern mehrfach gegeben). Darum wünschen die Kapitalisten die Beibehaltung des Beamtentums, das über dem Volke steht, der Polizei und des stehenden Heeres, das vom Volke getrennt ist und dem Kommando von nicht gewählten Generalen und Offizieren untersteht. Wenn aber die Generale und Offiziere nicht vom Volke gewählt werden, so werden sie fast immer aus der Klasse der Kapitalisten und Grundbesitzer kommen. Das weiß man aus der Erfahrung aller Republiken der Welt.

Unsere Partei, die Partei der klassenbewussten Arbeiter und der ärmsten Bauern, strebt deshalb eine demokratische Republik anderer Art an. Wir wollen eine solche Republik, in der es die das Volk verhöhnende Polizei nicht gibt, in der alle Beamten von unten bis oben gewählt werden und jederzeit auf Verlangen des Volkes abgesetzt werden können, in der das Gehalt dieser Beamten den Lohn eines qualifizierten Arbeiters nicht übersteigt, in der auch in der Armee alle Vorgesetzten gewählt werden und das stehende, vom Volk getrennte Heer, das der Befehlsgewalt dem Volk feindlicher Klassen untersteht, ersetzt wird durch die all meine Volksbewaffnung, durch die Volksmiliz.

Wir wollen eine Republik, in der die ganze Staatsmacht von unten bis oben ausschließlich und ganz den Räten der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und anderen Deputierten gehört.

Die Arbeiter und die Bauern bilden die Mehrheit der Bevölkerung. Die Macht muss ihnen, nicht aber den Grundbesitzern und Kapitalisten gehören.

Die Arbeiter und die Bauern bilden die Mehrheit der Bevölkerung. Die Machtausübung und die Verwaltung muss ihren Räten anvertraut werden, nicht aber den Beamten.

Das sind unsere Ansichten, Genossen Bauerndelegierte! Wir sind fest davon überzeugt, dass die Erfahrung bald den breitesten Massen des Volkes zeigen wird, wie falsch die Politik der Narodniki und Menschewiki ist. Die Erfahrung wird den Massen bald zeigen, dass die Rettung Russlands, das sich ebenso wie Deutschland und die anderen Länder am Rande des Abgrundes befindet, dass die Rettung der durch den Krieg zermarterten Völker nicht durch Kompromisse mit den Kapitalisten erreicht werden kann. Die Rettung aller Völker ist nur möglich durch den direkten Übergang der Staatsmacht in die Hände der Mehrheit der Bevölkerung.

7. Mai 1917

N. Lenin

1 Der erste Allrussische Bauernkongress tagte in Petrograd im Volkshaus vom 17. Mai bis 11. Juni (4.–28. Mai) 1917. Anwesend waren Delegierte sowohl von der Front als auch aus der Provinz. Insgesamt waren 1115 Delegierte, davon 537 Sozialrevolutionäre, 465 Parteilose, 103 Sozialdemokraten, 6 Trudowiki, 4 Volkssozialisten. Zum Vorsitzenden wurde Awksentjew gewählt; zu Ehrenvorsitzenden Breschko-Breschkowskaja, Tschernow und Vera Figner. Der Kongress wurde begrüßt von den „sozialistischen Ministern" Tschernow, Pjeschechonow, Kerenski und Skobelew. Referenten waren: Tschernow (über die politische Lage und die Provisorische Regierung), Kondratjew (über das Verpflegungswesen), Nekrassow (über die Lage des Transportwesens), Bunakow-Fundaminski und Kotschetow (über den Krieg), Kiltschewski (über die Räte der Bauerndeputierten), Oganowski, Tschernow, Pjeschechonow, Wichljajew, Bychowski und S. L. Maslow (über die Agrarfrage). Zeretelli berichtete dem Kongress über die Ereignisse von Kronstadt (es handelte sich um einen Konflikt zwischen dem Sowjet von Kronstadt und der Provisorischen Regierung), erhielt aber von Trotzki eine kräftige Abfuhr. Der Kongress wählte ein Exekutivkomitee von 30 Personen, vorwiegend Sozialrevolutionäre (u. a. Tschernow, Breschko-Breschkowskaja, Kerenski, Awksentjew, Rubanowitsch, Vera Figner, Tschaikowski, Götz, Maslow usw.).

Der Kongress, der ganz unter der Führung der Sozialrevolutionäre, genauer des rechten Flügels der Sozialrevolutionäre, stand, sprach sich einstimmig für die Übergabe des Bodens an das Volk aus. Mit allen Stimmen gegen die einer kleinen Gruppe der Bolschewiki nahm der Kongress den Sozialrevolutionären Plan der sogenannten „Sozialisierung des Bodens" an, vertagte jedoch die Durchführung des Programms „bis zum Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung" und verbot den Bauern die eigenmächtige Bestellung der gutsherrlichen Ländereien. Die von Lenin beantragte Resolution über die Agrarfrage fand nicht die Zustimmung des Kongresses und vereinigte nur eine kleine Stimmenzahl auf sich. Der Kongress erklärte sich für die volle Unterstützung der Provisorischen Regierung (im Gegensatz zu der Vorbehaltsformel des Exekutivkomitees des Petrograder Rates: „In dem Maße wie …"), billigte die Koalition mit der Bourgeoisie und die Teilnahme der Sozialisten an der Provisorischen Regierung, sanktionierte die ,,Freiheitsanleine" und unterstützte eifrig die Vorbereitungen zur Offensive an der Front, indem er die sozialchauvinistischen Resolutionen der Sozialrevolutionäre vollständig annahm.

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