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Wladimir I. Lenin 19170908 Papierne Resolutionen

Wladimir I. Lenin: Papierne Resolutionen

[„Rabotschij", Nr. 2, 8. September (26. August) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 120-123]

Herr Zeretelli ist einer der geschwätzigsten „sozialistischen" Minister und Führer des Spießbürgertums. Es fällt einem schwer, seine zahllosen Reden von Anfang bis Ende zu lesen, so inhaltslos und albern, so nichtssagend und zu nichts verpflichtend, so bar jeder ernsten Bedeutung sind diese echt „ministeriellen" Reden. Besonders ist es die maßlose Selbstgefälligkeit des Redners, die diese beredten Kundgebungen (deren Leere gerade Zeretelli zum Liebling der Bourgeoisie machen mussten) so unerträglich macht, und es ist schwer zu entscheiden, ob ungewöhnlicher Stumpfsinn oder aber zynische politische Betriebsamkeit sich hinter diesen geleckten, glatten und süßlichen Phrasen verbirgt.

Je inhaltsloser Zeretellis Reden sind, um so schärfer müssen wir den unglaublichen, außerordentlichen Unglücksfall unterstreichen, der diesem Redner in der Plenarsitzung des Petrograder Sowjets am 18. August passierte. Es ist unglaublich und dennoch wahr. Zeretelli versprach sich, er sagte ein einfaches, klares, sachliches, wahres Wort. Es entschlüpfte ihm ein Wort, das eine tiefe, ernste politische Wahrheit richtig ausdrückt, eine Wahrheit, die nicht von zufälliger Bedeutung ist, sondern die ganze gegenwärtige politische Lage in ihren wesentlichsten, wichtigsten Zügen, in ihren Grundlagen charakterisiert.

Dem Bericht in der „Rjetsch" zufolge hat Zeretelli (der Leser wird sich gewiss noch erinnern, dass er gegen die Resolution über die Abschaffung der Todesstrafe aufgetreten ist) folgendes gesagt:

,.. All eure Resolutionen werden nicht helfen. Nicht papierne Resolutionen, sondern reale Taten tun hier Not…"1

Was wahr ist, ist wahr. Kluge Reden hört man gern …

Natürlich trifft Zeretelli mit dieser Wahrheit vor allem und am allermeisten sich selbst. Denn gerade er, einer der angesehensten Führer im Rat, hat dazu beigetragen, diese Institution zu prostituieren, sie zu der kläglichen Rolle irgendeiner liberalen Versammlung zu degradieren, die der Welt ein Archiv mustergültig ohnmächtiger frommer Wünsche als Erbe hinterlässt. Nachdem er Hunderte von papiernen Resolutionen in dem durch die Sozialrevolutionäre und Menschewiki kastrierten Rat eingebracht hat, steht ihm am wenigsten das Recht zu, wegen einer Resolution, die diesmal ihn selber empfindlich trifft, über „papierne Resolutionen" zu schreien. Zeretelli hat sich selbst in die besonders lächerliche Lage eines Parlamentariers gebracht, der sich stets mehr als irgendein anderer mit „parlamentarischen" Resolutionen abgab, ihre Bedeutung bis in den Himmel hob, sich am eifrigsten um sie bemühte und nun, wo es sich einmal um eine Resolution handelt, die gegen ihn gerichtet ist, aus Leibeskräften schreit, die Trauben seien sauer und die Resolution sei ja eigentlich nur eine papierne.

Aber die Wahrheit bleibt doch Wahrheit, auch wenn sie ein falscher Mensch in falschem Tone ausspricht.

Diese Resolution ist nicht deswegen eine papierne Resolution, weil der gewesene Minister Zeretelli, der die Todesstrafe für ein notwendiges Verteidigungsmittel der Revolution (man lache nicht!) hält, sie als solche bezeichnet. Die Resolution ist papieren, weil in ihr die schablonenhafte, seit dem März 1917 auswendig gelernte und sinnlos wiederholte Formel nochmals wiederholt wird: „Der Rat fordert von der Provisorischen Regierung". Man hat sich daran gewöhnt, zu „fordern" und wiederholt aus Gewohnheit dieses Wort, ohne zu merken, dass die Lage sich verändert, dass die Macht sich verschoben hat und dass eine „Forderung", die sich nicht auf Macht stützt, lächerlich ist.

Mehr noch: Die schablonenhaft wiederholte „Forderung" erzeugt in den Massen die Illusion, als habe sich die Lage nicht geändert, als sei der Rat noch eine Macht, als habe er durch Aufstellung einer „Forderung" etwas vollbracht und dürfe sich nun hinlegen und den Schlaf des (mit Verlaub) „revolutionären" „Demokraten" schlafen, der seine Pflicht erfüllt hat.

Mancher Leser wird vielleicht fragen: Sollten denn die Bolschewiki, die Anhänger der politischen Nüchternheit, der genauen Kräfteberechnung, die Gegner der Phrase, nicht für die Resolution stimmen?

Nein. Man musste schon darum für sie stimmen, weil ein Paragraph der Resolution (§ 3) den ausgezeichneten, richtigen (grundlegenden, wichtigen, entscheidenden) Gedanken enthält, dass die Todesstrafe eine gegen die Massen gerichtete Waffe ist (etwas anderes wäre es, wenn es sich um eine Waffe gegen die Gutsbesitzer und Kapitalisten handelte).2 Man musste für sie stimmen, obwohl die Sozialrevolutionären Spießer Martows Text verhunzt und an Stelle des Hinweises auf „die imperialistischen Ziele, die den Interessen des Volkes völlig fremd sind", einen durch und durch verlogenen, das Volk irreführenden, den räuberischen Krieg beschönigenden Satz von „der Verteidigung des Vaterlandes und der Revolution" eingefügt haben.

Man musste für die Resolution stimmen, gleichzeitig aber den Vorbehalt machen, dass man mit einzelnen Stellen nicht einverstanden sei, und erklären: „Arbeiter! Glaubt nicht, der Rat sei imstande, auch nur das Geringste von der Provisorischen Regierung zu fordern. Gebt euch keinen Illusionen hin. Wisset, dass der Rat nicht mehr imstande ist, etwas zu fordern, und dass die jetzige Regierung in jeder Hinsicht eine Gefangene der konterrevolutionären Bourgeoisie ist. Denkt über diese bittere Wahrheit ernstlich nach." Niemand konnte die Mitglieder des Rates hindern, für die Resolution zu stimmen, indem sie solche Vorbehalte in dieser oder jener Form machten.

Und dann hätte die Resolution aufgehört, eine „papierne" zu sein.

Und dann wären wir der provokatorischen Frage Zeretellis ausgewichen, der die Mitglieder des Rates fragte, ob sie die Provisorische Regierung „stürzen" wollten: genau so, Wort für Wort so, wie unter Alexander III. Katkow die Liberalen fragte, ob sie den Absolutismus „stürzen" wollten. Wir hätten dem Exminister geantwortet: Verehrter Bürger! Ihr habt soeben ein Zuchthausgesetz gegen diejenigen erlassen, die einen „Anschlag" gegen die Regierung verüben oder auch nur den Versuch machen, sie zu „stürzen" (gegen die Regierung, gebildet durch einen Pakt der Gutsbesitzer und Kapitalisten mit den kleinbürgerlichen Verrätern an der Demokratie). Wir glauben gerne, dass alle Bourgeois euch noch mehr gelobt hätten, wenn ihr einige Bolschewiken zu Objekten dieses (für euch) angenehmen Gesetzes gemacht hättet. Wundert euch aber nicht, wenn wir es nicht als unsere Aufgabe ansehen, es euch zu erleichtern, die Gelegenheit für die Anwendung dieses „angenehmen" Gesetzes zu finden.

Wie die Sonne in einem winzigen Wassertropfen, so spiegelte sich in dem Vorfall vom 18. August die ganze politische Ordnung Russlands wider. Eine bonapartistische Regierung, Todesstrafe, Zuchthausgesetz, Verzuckerung dieser (für die Provokateure) „angenehmen" Dinge durch ebensolche Phrasen, wie sie Louis Napoleon verzapfte – von Gleichheit, Brüderlichkeit, von Ehre und Würde des Vaterlandes, von Traditionen der großen Revolution, von Unterdrückung der Anarchie.

Die süßlichen, widerlich süßlichen kleinbürgerlichen Minister und Ex-Minister schlagen sich an die Brust und versichern, sie hätten eine Seele und gäben diese der Verdammnis preis, indem sie die Todesstrafe gegen die Massen einführen und zur Anwendung bringen, und sie täten dies tränenden Auges, – sie sind eine verbesserte Auflage des „Pädagogen" der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der, dem Vermächtnis Pirogows folgend, nicht einfach nach althergebrachter Sitte prügelte, sondern das „nach Recht und Gesetz" verdroschene Spießersöhnchen mit einer menschenfreundlichen Träne benetzte.

Von ihren kleinbürgerlichen Führern betrogen, glauben die Bauern noch immer, dass aus der Ehe zwischen dem Block der Sozialrevolutionäre-Menschewiki und der Bourgeoisie die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden ohne Ablösung hervorgehen könne.

Die Arbeiter… nun darüber, was die Arbeiter denken, wollen wir so lange schweigen, bis der „humane" Zeretelli das neue Zuchthausgesetz abgeschafft hat.

1 Die Zeitung „Rjetsch" (Nr. 194 vom 1. September [19. August] 1917) brachte die Rede Zeretellis über die Todesstrafe in der Sitzung des Petrograder Rates der Arbeiter- und Bauerndeputierten folgendermaßen: „Wem konnte es zu Beginn der Revolution einfallen, dass die Todesstrafe wiederhergestellt werden würde? Selbst Gutschkow hat kaum davon träumen können, aber es sind schreckliche Tage gekommen, und die Revolution musste diese Einrichtung wieder einführen, die für immer begraben schien. Keine eurer Resolutionen können helfen. Nicht papierne Resolutionen sind hier vonnöten, sondern reale Taten. Es ist notwendig, die Möglichkeit der Wiederholung solcher Ereignisse, wie sie jetzt zur Wiedereinführung der Todesstrafe geführt haben, zu unterbinden. Hat es denn an der Front nicht Fälle von Verrat gegeben? Sind nicht Regimenter, die gegen den Feind vorgingen, verraten worden? …" (Die letzten Sätze des Redners Zeretelli beziehen sich auf die Weigerung verschiedener Truppenteile, die Offensive vom 18. Juni mitzumachen.)

2 Punkt 3 der Resolution des Petrograder Rates der Arbeiter- und Bauerndeputierten vom 31. (18.) August 1917 lautet:

,,… 3. die unter dem Vorwand des Kampfes gegen Verräter eingeführte Todesstrafe unter dem neuen Regime tritt immer klarer als eine Maßnahme zur Einschüchterung der Soldatenmassen hervor, die dem Offizierskorps versklavt werden sollen …"

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