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Wladimir I. Lenin 19171108 Rede über die Landfrage

Wladimir I. Lenin: Rede über die Landfrage

8. November (26. Oktober)

[„Iswestija" Nr. 209 und „Prawda" Nr. 171, 10. November (28. Oktober) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 19-23]

Wir sind der Meinung, dass die Revolution gezeigt und bewiesen hat, wie wichtig es ist, dass die Landfrage klar gestellt wird. Die Entstehung des bewaffneten Aufstandes, der zweiten Oktoberrevolution beweist ganz klar, dass das Land den Bauern übergeben werden muss. Ein Verbrechen haben die gestürzte Regierung und die Kompromisslerparteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre begangen, die die Lösung der Landfrage unter verschiedenen Vorwänden hinausschoben und damit das Land zum Ruin und zum Bauernaufstand brachten. Wie Heuchelei und feiger Betrug klingen ihre Worte über Pogrome und Anarchie im Dorfe. Wo und wann sind jemals Pogrome und Anarchie durch kluge Maßnahmen hervorgerufen worden? Wenn die Regierung klug gehandelt hätte, wenn ihre Maßnahmen den Bedürfnissen der armen Bauern entgegengekommen wären, hätte dann die Bauernmasse unruhig werden können? Aber alle Maßnahmen der Regierung, die von den Sowjets der Awksentjew und Dan gebilligt wurden, waren gegen die Bauern gerichtet und trieben sie zum Aufstand.

Nachdem die Regierung den Aufstand hervorgerufen hatte erhob sie ein Geschrei über Pogrome und Anarchie, die sie ja selbst verursacht hatte. Sie wollte den Aufstand mit Blut und Eisen unterdrücken, wurde aber selbst durch den bewaffneten Aufstand der revolutionären Soldaten, Matrosen und Arbeiter hinweggefegt. Die Regierung der Arbeiter- und Bauernrevolution muss vor allem die Landfrage lösen, womit man die ungeheuren Massen der armen Bauern beruhigen und zufriedenstellen kann Ich will die Punkte des Dekrets verlesen, das eure Sowjetregierung erlassen muss. In einem Punkte dieses Dekrets ist eine Anweisung an die Landkomitees enthalten, die auf Grund von 242 Anweisungen der örtlichen Bauernräte abgefasst worden ist.

Dekret über Grund und Boden

1. Das gutsherrliche Eigentum an Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben.

2. Die Güter der Gutsbesitzer sowie alle Ländereien des Apanagenressorts, der Klöster und der Kirchen mit dem gesamten lebenden und toten Inventar, den Gutsbaulichkeiten und allem Zubehör gehen bis zum Zusammentritt der Konstituante in die Verwaltung der Landbezirks-Landkomitees und der Kreisbauernräte über.

3. Jede Beschädigung des beschlagnahmten Eigentums, das von jetzt an dem ganzen Volke gehört, gilt als schweres Verbrechen, das vom Revolutionsgerichtshof geahndet wird. Die Kreisbauernräte ergreifen bei der Beschlagnahme der Güter der Gutsbesitzer alle notwendigen Maßnahmen zur Wahrung der strengsten Ordnung, zur Feststellung, bis zu welchem Umfange und welche Ländereien der Beschlagnahme unterliegen, zur Aufstellung eines genauen Verzeichnisses des gesamten der Beschlagnahme unterliegenden Besitzes und zur strengsten revolutionären Bewachung des ganzen, an das Volk übergehenden Grundbesitzes mit allen Baulichkeiten, Geräten, Vieh, Vorräten an Produkten usw.

4. Als Richtschnur für die Durchführung der großen Agrarreformen gilt bis zur endgültigen Entscheidung dieser Frage durch die Konstituante folgende Bauernanweisung, die unter Zugrundelegung von 242 Bauernanweisungen von der Redaktion der „Nachrichten des Allrussischen Bauernrates" zusammengestellt und in der Nummer 88 dieses Organs (Petrograd, Nr. 88 vom 1. September [19. August] 1917) veröffentlicht wurde.

5. Der Boden der einfachen Bauern und Kosaken unterliegt nicht der Beschlagnahme1.

Bauernanweisung zur Landfrage

Die Landfrage kann in ihrem ganzen Umfange nur durch eine vom ganzen Volke gewählte Konstituante gelöst werden. Die gerechteste Lösung der Landfrage ist folgende:

1. Das Recht des Privateigentums an Grund und Boden wird für immer aufgehoben; Grund und Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgendeine andere Weise veräußert werden.

Der gesamte Boden, mag er dem Staate, dem Apanagenressort, der Domänenverwaltung, Klöstern, Kirchen, Possessionsgütern, Majoraten, privaten Besitzern, Gemeinden, den Bauern usw. gehören, wird entschädigungslos enteignet, zum Eigentum des ganzen Volkes erklärt und allen, die ihn bearbeiten, zur Nutzung übergeben.

Wer durch die Umwälzung der Besitzverhältnisse geschädigt worden ist, hat lediglich das Recht, eine öffentliche Unterstützung zu beziehen für die Zeit, die zur Anpassung an die neuen Existenzbedingungen erforderlich ist.

2. Alle Bodenschätze: Erze, Naphtha, Kohle, Salze usw., ebenso alle Waldungen und Gewässer von allgemein staatlicher Bedeutung gehen in die ausschließliche Nutzung des Staates über. Alle kleinen Flüsse, Seen, Wälder a. a. gehen in die Nutzung der Gemeinden über, unter der Voraussetzung, «aß sie von den örtlichen Selbstverwaltungsorganen verwaltet werden.

3. Ländereien mit hochentwickelten Wirtschaften: Gärten, Plantagen, Pflanzschulen, Baumschulen, Treibhäuser usw. unterliegen nicht der Aufteilung, sondern werden in Musterwirtschaften verwandelt und je nach ihrem Umfang und ihrer Bedeutung dem Staat oder den Gemeinden zur ausschließlichen Nutzung übergeben.

Hof-, Stadt- und Dorfländereien mit Haus- und Gemüsegärten verbleiben in der Nutzung der jetzigen Besitzer; der Umfang dieser Ländereien und die Höhe der Steuer für deren Nutzung wird durch das Gesetz festlegt

4. Gestüte, staatliche und private Vieh- und Geflügelzüchtereien werden beschlagnahmt, in Eigentum des ganzen Volkes umgewandelt und gehen, je nach ihrer Größe und Bedeutung, entweder in die ausschließliche Nutzung des Staates oder der Gemeinde über.

Die Frage der Entschädigung unterliegt der Prüfung durch die Konstituante.

5. Das gesamte tote und lebende Inventar der beschlagnahmten Ländereien geht ohne jede Entschädigung in die ausschließliche Nutzung des Staates oder der Gemeinden über, je nach seiner Größe und Bedeutung.

Die Bestimmung über die Beschlagnahme des Inventars erstreckt sich icbt auf die landarmen Bauern.

6. Das Recht der Nutzung von Land erhalten alle Bürger des Russischen Staates (ohne Unterschied des Geschlechts), die es selbst, mit Unterstützung ihrer Familie oder in Gemeinschaft mit anderen bearbeiten wollen, und nur solange, als sie imstande sind, es zu bearbeiten. Lohnarbeit ist nicht gestattet.

Ist irgendein Mitglied einer Landgemeinde zwei Jahre lang arbeitsunfähig, so ist die Gemeinde verpflichtet, ihm innerhalb dieser Zeit, bis zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit, durch gesellschaftliche Bearbeitung eines Bodens zu helfen.

Bauern, die infolge Alters oder Invalidität überhaupt nicht mehr imstande sind, selbst den Boden zu bearbeiten, verlieren das Nutzungsrecht an Land, erhalten aber dafür vom Staat eine Pension.

7. Die Nutzung des Landes muss eine gleichmäßige sein, d. h. das Land muss je nach den örtlichen Verhältnissen, je nach der Arbeits- oder Verbrauchsnorm unter den Werktätigen aufgeteilt werden.

Die Formen der Bewirtschaftung des Landes sind vollständig freigestellt; es können Einzelwirtschaften, Gehöfte, Gemeinde- und Artelwirtschaften gebildet werden, je nachdem, wie die einzelnen Dörfer und Siedlungen beschließen.

8. Der gesamte Boden geht, nach seiner Enteignung, in den Bodenfonds über, der Eigentum des ganzen Volkes ist. Die Verteilung des Bodens unter die Werktätigen wird von den lokalen und zentralen Selbstverwaltungen geleitet, von den demokratisch organisierten, nicht nach Ständen gegliederten ländlichen und städtischen Gemeinden bis zu den zentralen Gebietsbehörden.

Der Bodenfonds wird periodisch neu aufgeteilt, je nach der Zunahme der Bevölkerung und der Hebung der Produktivität und Kultur der Landwirtschaft.

Bei der Änderung der Grenzen der Anteile muss der ursprüngliche Kern des Anteils unangetastet bleiben.

Das Land der ausscheidenden Mitglieder geht wieder in den Bodenfonds über, und zwar erhalten ihre nächsten Verwandten und die von ihnen bezeichneten Personen das Vorzugsrecht bei der Zuweisung dieser Anteile.

Wird ein Anteil an den Bodenfonds zurückgegeben, so müssen die Ausgaben für Düngung und Melioration (wesentliche Verbesserungen) zurückerstattet werden, soweit sie nicht ausgenutzt worden sind.

Erweist sich in den einzelnen Gegenden der vorhandene Bodenfonds als ungenügend für die Befriedigung der gesamten örtlichen Bevölkerung, so muss der Überschuss der Bevölkerung umgesiedelt werden.

Die Organisierung der Umsiedlung sowie die Unkosten für die Umsiedlung und Versorgung mit Inventar usw. muss der Staat übernehmen.

Die Umsiedlung geht folgendermaßen vor sich: landlose Bauern, die eine Umsiedlung wünschen, dann bescholtene Gemeindemitglieder, Deserteure u. a. und schließlich nach dem Los oder nach Übereinkunft."

Der gesamte Inhalt dieser Anweisung als Ausdruck des unbedingten Willens der gewaltigen Mehrheit der zielbewussten Bauern ganz Russlands wird zum provisorischen Gesetz erklärt, das bis zum Zusammentritt der Konstituante nach Möglichkeit sofort, in bestimmten Teilen aber in jener Reihenfolge durchzuführen ist, die von den Kreisbauernräten festgesetzt wird.

Hier werden Stimmen laut, dass das Dekret und die Anweisung ja von den Sozialrevolutionären abgefasst worden seien. Das macht nichts. Ist es nicht einerlei, von wem sie abgefasst worden sind? Als demokratische Regierung können wir doch einen Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, auch wenn wir mit ihm nicht einverstanden sind. Wenn die Bauern anfangen werden, dieses Dekret in der Praxis anzuwenden, bei sich zu Hause durchzuführen, so werden sie im Kampfe des Lebens selbst erkennen, wo die Wahrheit liegt. Und wenn sogar die Bauern den Sozialrevolutionären weiter Gefolgschaft leisten, wenn sie sogar dieser Partei die Mehrheit in der Konstituante geben, werden wir auch hier sagen: das macht nichts. Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer Recht hat. Mögen die Bauern diese Frage von dem einen Ende lösen und wir vom anderen. Das Leben wird uns, in dem allgemeinen Strom der revolutionären schöpferischen Arbeit, bei der Herausbildung der neuen Staatsformen, einander näher bringen. Wir müssen mit dem Leben Schritt halten, wir müssen der schöpferischen Kraft der Volksmassen volle Freiheit geben. Die alte, durch den bewaffneten Aufstand gestürzte Regierung wollte die Landfrage mit Hilfe der nicht abgesetzten alten zaristischen Bürokratie lösen. Anstatt aber die Frage zu lösen, führte die Bürokratie lediglich den Kampf gegen die Bauern. Die Bauern haben in den acht Monaten unserer Revolution manches gelernt, sie wollen selber alle Bodenfragen lösen. Deshalb sind wir gegen jede Korrektur in diesem Gesetzentwurf, wir wollen keine Detaillierung, weil wir eben ein Dekret und kein Aktionsprogramm schreiben. Russland ist groß, und die örtlichen Verhältnisse in Russland sind verschieden. Wir glauben, dass die Bauernschaft selbst, besser als wir, die Fragen richtig, wie es sich gehört, lösen wird. Ob sie das im Geiste unseres Parteiprogramms oder des Parteiprogramms der Sozialrevolutionäre tun wird – das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinne, dass es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, dass die Bauern selbst alle Fragen entscheiden, selbst ihr Leben einrichten müssen.

1 Im gedruckten Text ist der Punkt 5 am Schluss der „Bauernanweisung zur Landfrage" eingefügt worden. Die Red.

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