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Wladimir I. Lenin 19170331 Referat über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution

Wladimir I. Lenin: Referat über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution1

[Züricher „Volksrecht" Nr. 77 und 78 vom 31. März und 2. April 1917. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 79-84]

Die wichtigste Vorbedingung für das „Wunder" des Umsturzes in Russland war der „große Aufruhr" der Jahre 1905-1907, der durch die heutigen Herren der Lage, die Gutschkows und Miljukows, so niederträchtig besudelt wurde und die jetzt über die „glorreiche Revolution" von 1917 frohlocken. Wenn aber die Revolution von 1905 den Boden nicht aufgewühlt, wenn sie nicht alle Klassen und Parteien in der Aktion vor Augen geführt, wenn sie nicht die Zarenbande in ihrer ganzen Barbarei und Wildheit entblößt hätte, wäre 1917 ein schneller Sieg unmöglich gewesen.

Dieses außerordentliche Zusammenfallen der Bedingungen erlaubte 1917 alle Schläge, die von verschiedensten gesellschaftlichen Kräften gegen den Zarismus gerichtet waren, zu vereinigen. Erstens: das englisch-französische Finanzkapital, das über die ganze Welt herrscht und die ganze Welt ausraubt, war 1905 gegen die Revolution und half dem Zarismus, die Revolution zu ersticken. (Milliardenanleihen 1906!) Jetzt nahm es tatkräftigen Anteil an der Revolution, indem es das Attentat der Gutschkows und Miljukows und der oberen Schichten des Militärs zur Absetzung Nikolaus II. organisiert hat.

Vom Standpunkte der Weltpolitik und des internationalen Finanzkapitals ist die Regierung Gutschkow-Miljukow ganz einfach der Kommis der Bankfirma England-Frankreich, ein Mittel der Verlängerung des imperialistischen Völkermordens.

Zweitens: Die Niederlagen der zaristischen Monarchie räumten gründlich mit dem alten Bestand der Offiziere auf und schufen neue, junge, bürgerliche Kaders.

Drittens: Die gesamte russische Bourgeoisie, die sich seit 1905 bis 1914 und besonders seit 1914 bis 1917 rapid organisiert hat, vereinigte sich mit dem Adel im Kampfe gegen den verfaulten Zarismus, in dem Wunsche, sich durch den Raub von Armenien, Konstantinopel, Galizien usw. zu bereichern. Endlich viertens – und das ist das wichtigste –: zu den imperialistischen Kräften gesellte sich eine tiefe und wild reißende proletarische Bewegung. Das Proletariat machte diese Revolution, forderte Frieden, Brot und Freiheit. Es hatte nichts gemein mit der imperialistischen Bourgeoisie, und es führte mit sich die Mehrheit der Armee, die doch aus Arbeitern und aus Bauern besteht!

Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg hat begonnen. Darin liegt die Quelle des zwieträchtigen Charakters dieser Revolution, die die erste Etappe der ersten vom imperialistischen Kriege geborenen Revolution bildet.

Die Regierung Gutschkows und Miljukows, die junkerliche und kapitalistische Regierung, kann dem Volke weder Frieden noch Brot noch Freiheit geben. Sie ist eine Regierung der Weiterführung des räuberischen Krieges, die offen erklärt, dass sie den internationalen Verträgen, die der Zar abgeschlossen hat, treu bleiben wird. Diese Verträge sind Raubverträge. Diese Regierung könnte im besten Falle die Krisis verschieben, aber das Land vom Hunger befreien kann sie nicht. Sie ist nicht imstande, auch die Freiheit zu geben, wenn sie noch so viel Versprechungen macht; denn sie ist mit den Interessen des adeligen Grundbesitzes und des Kapitals versippt.

Deswegen wäre das dümmste, was man tun könnte, eine Taktik des Zutrauens und der Unterstützung gegenüber dieser Regierung einzuschlagen, angeblich im Interesse des „Kampfes mit der Reaktion". Für einen solchen Kampf ist eine Bewaffnung des Proletariates die einzig ernste, die realste Garantie sowohl gegenüber der zarischen Konterrevolution wie gegenüber den Versuchen der Gutschkows und Miljukows, die Monarchie wiederherzustellen.

Recht hat der sozialdemokratische Abgeordnete Skobelew, der gesagt hat, dass Russland „am Vorabend der zweiten, wirklichen Revolution steht". Die Organisation dieser Revolution besteht. Es ist der Arbeiter - und Soldaten-Delegiertenrat, der nicht umsonst von den Agenten des französisch-englischen Kapitals, den Korrespondenten der „Times" und des „Temps" besudelt wird.

Nach der näheren Untersuchung der Nachrichten, die uns die Presse über den Arbeiter- und Soldatendelegiertenrat bringt, kann man feststellen, dass dort drei Richtungen vorhanden sind. Die eine Richtung ist die der sozialpatriotischen Richtung am nächsten stehende. Sie vertraut dem Justizminister Kerenski, diesem Helden der Phrase, einem Bauer2 in den Händen Gutschkows und Miljukows. Er spart nicht mit hohlen Phrasen im Sinne der westeuropäischen Sozialpatrioten und Sozialpazifisten. In der Tat aber „versöhnt" er die Arbeiter mit der Verlängerung des Raubkrieges. Durch Kerenski spricht die imperialistische Bourgeoisie zu den Arbeitern wie folgt: Wir geben euch die Republik, den Achtstundentag (der tatsächlich bereits in Petersburg eingeführt worden ist), versprechen euch allerlei Freiheiten, aber alles nur darum, dass ihr uns helft, die Türkei und Österreich zu berauben, dem deutschen Imperialismus seine Beute wegzunehmen und die Beute dem englisch-französischen Imperialismus zu sichern.

Eine andere Richtung ist durch unsere Partei, die des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Partei Russlands, vertreten. In den Zeitungen ist ein Auszug aus dem Manifest unseres Zentralkomitees veröffentlicht worden. Das Manifest ist in Petersburg am 18. März erschienen. Es stellt folgende Forderungen auf: Demokratische Republik, Achtstundenarbeitstag, Konfiskation des adeligen Grundbesitzes zugunsten der Bauern, Konfiskation der Getreidereserven, sofortige Anbahnung der Friedensverhandlungen nicht durch die Regierung Gutschkows und Miljukows, sondern durch den Arbeiter- und Soldatendelegiertenrat. Dieser Rat ist eben nach den Worten des Manifestes die wirkliche revolutionäre Regierung.

(Die Korrespondenten der „Times" und des „Temps" sprechen immer von zwei Regierungen in Russland.) Die Friedensverhandlungen sollen geführt werden nicht mit den bürgerlichen Regierungen, sondern mit dem Proletariat aller kriegführenden Länder. Das Manifest fordert alle Arbeiter, Bauern und Soldaten auf, Delegierte in den Delegiertenrat zu senden.

Das ist die einzig mögliche sozialistische und revolutionäre Taktik.

Die dritte Richtung ist durch Tschcheïdse und seine Freunde vertreten. Sie schwanken beständig, was sich auch in den Urteilen der „Times" und des „Temps" widerspiegelt, die entweder loben oder schimpfen. Wenn Tschcheïdse es ablehnte, in die zweite provisorische Regierung3 einzutreten, wenn er den Krieg als imperialistischen Krieg erklärt, dann führt er eine proletarische Politik. Wenn aber Tschcheïdse an der ersten Regierung (Dumakomitee) teilnimmt, wenn er im Punkt 3 seines Aufrufes die ausreichende Teilnahme der Vertreter der russischen Arbeiterschaft an der Regierung fordert (Teilnahme der Internationalisten an der Regierung des imperialistischen Krieges!), wenn er mit Skobelew diese imperialistische Regierung auffordert, Friedensbesprechungen einzuleiten (statt den Arbeitern zu erklären, dass die Bourgeoisie an Füßen und Händen durch die Interessen des Finanzkapitals gebunden ist, dass sie nicht imstande ist, vom Imperialismus loszulassen), wenn die Freunde Tschcheïdses, Tuljakow und Skobelew, im Auftrage der Regierung Gutschkows und Miljukows herumreisen, um die Soldaten zu beruhigen, die gegen die liberal-bürgerlichen Generäle revoltieren (Ermordung des Admirals Nepenin), dann führen Tschcheïdse und seine Freunde die schlimmste Politik der Bourgeoisie und schädigen damit die Revolution.

Welche Taktik soll das Proletariat anwenden? Wir stehen in einem Übergange von der ersten Etappe der Revolution zu der zweiten, vom Aufstande gegen den Zarismus zum Aufstande gegen die Bourgeoisie, gegen den imperialistischen Krieg, im Übergange zum Konvent, der aus der konstituierenden Versammlung sich entwickeln kann, wenn die Regierung tatsächlich ihr Versprechen einlösen wird und die Versammlung einberuft.

Die besondere Aufgabe des jetzigen Standpunktes besteht in der Organisierung des Proletariats. Aber nicht in der schablonenhaften Form der Organisation, mit der sich die Verräter am Sozialismus, die Sozialpatrioten, die Opportunisten aller Länder, begnügen, sondern in der revolutionären Organisation. Diese Organisation soll erstens eine allgemeine sein, zweitens in sich die militärischen und staatlichen Funktionen vereinigen.

Marx lehrt uns aus der Praxis der Kommune 1871, dass die „Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann". Das Proletariat soll und muss diese Maschine (Armee, Polizei, Bürokratie) zerbrechen. Das ist es, was die Opportunisten entweder bestreiten oder vertuschen. Das ist die wichtigste praktische Lehre der Pariser Kommune und der russischen Revolution von 1905.

Wir unterscheiden uns von den Anarchisten, indem wir die Notwendigkeit des Staates für die revolutionäre Umwälzung anerkennen. Wir unterscheiden uns aber von den Opportunisten und Kautskyanern, indem wir sagen: Wir brauchen nicht die „fertige" Staatsmaschinerie, wie sie in den demokratischen bürgerlichen Republiken existiert, sondern die unmittelbare Macht bewaffneter und organisierter Arbeiter. Das ist der Staat, den wir brauchen. Das waren, ihrem Wesen nach, die Kommune 1871 und die Arbeiterdelegiertenräte in Russland 1905 und 1917. Auf diesem Fundament müssen wir weiterbauen.

Unsere Friedensbedingungen sind folgende: 1. Der Arbeiterdelegiertenrat als revolutionäre Regierung erklärt sofort, dass er sich durch keinerlei Verträge des Zarismus wie der Bourgeoisie für gebunden hält. 2. Er publiziert sofort alle diese Raubverträge. 3. Er schlägt öffentlich allen Kriegführenden einen sofortigen Waffenstillstand vor. 4. Als Friedensgrundlage: die Befreiung aller Kolonien und aller unterdrückten Nationen. 5. Misstrauenserklärung gegenüber allen bürgerlichen Regierungen. Appell an die Arbeiterklasse zur Niederwerfung dieser Regierungen. 6. Die Kriegsschulden, die von der Bourgeoisie gemacht wurden, sind ausschließlich von den Kapitalisten zu bezahlen.

Das wäre die Politik, die imstande wäre, die Mehrheit der Arbeiter und die ärmeren Bauern auf die Seite der Sozialdemokratie zu bringen. Die Konfiskation des adeligen Grundbesitzes wäre gesichert – was aber noch keineswegs der Sozialismus ist.

Für solche Friedensvorschläge würden auch wir geneigt sein, einen revolutionären Krieg zu führen. Bei einem solchen revolutionären Krieg könnten wir auf die Hilfe des revolutionären Proletariates rechnen.

1 Unter der Überschrift: „Lenin über die russische Revolution" veröffentlichte das Züricher „Volksrecht" in Nr. 77 und 78 vom 31. März und 2. April 1917 einen Bericht über einen Vortrag Lenins. Die Redaktion des „Volksrecht" machte dazu folgende Vorbemerkung:

Genosse Lenin, der bekanntlich die am weitesten linksstehende Richtung der russischen Sozialdemokraten vertritt, hielt kürzlich in Zürich einen Vortrag über die Aufgaben der Sozialdemokratie in der russischen Revolution.

Seine Auffassungen entsprechen sicher der von einem Teil der russischen Sozialisten gegenwärtig eingeschlagenen Taktik und bilden daher einen wertvollen Beitrag zur Kenntnis der jetzigen Vorgänge in Russland. Wir können aus dem zweieinhalbstündigen Vortrag nur einen knappen Auszug veröffentlichen."

Stil und Sprache des im „Volksrecht" abgedruckten Berichtes, besonders die Prägnanz des Grundgedankens, die klare, gedrängte Darstellung und die Scharfe der Formulierungen lassen darauf schließen, dass der betreffende Bericht von Lenin selbst entworfen worden ist, oder einen Auszug aus einer umfassenderen, von Lenin selbst geschriebenen Wiedergabe seines Vortrags darstellt. In der russischen Ausgabe ist der Bericht über das Referat Lenins aus dem Deutschen zurückübersetzt. Wir bringen den Text des „Volksrechts" ohne Änderung; die Wahrscheinlichkeit, dass er von Lenin selbst abgefasst ist, entschuldigt eine gewisse Fremdartigkeit der Sprache. Der Teil des Berichtes von ,Wenn die Freunde Tschcheïdses, Tuljakow"… bis … „die militärischen und staatlichen Funktionen vereinigen" ist im „Volksrecht" irrtümlicherweise doppelt abgedruckt.

2 D. h. eine Schachfigur. Die Red.

3 Als „Zweite Provisorische Regierung" bezeichnet hier Lenin das auf Grund der Vereinbarung mit dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat am 14. (1.) März 1917 gebildete erste Kabinett des Fürsten Lwow, im Unterschied zum Provisorischen Vollzugsausschuss der Reichsduma, der am 12. März (27. Februar) gebildet wurde und dem auch Tschcheïdse angehörte. Lenin, der im Auslande naturgemäß sich über die Ereignisse im einzelnen nur sehr mangelhaft unterrichten konnte, hielt den Provisorischen Vollzugsausschuss der Reichsduma gewissermaßen für die erste Provisorische Regierung.

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