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Wladimir I. Lenin 19170607 Resolutionsentwurf über Kampfmaßnahmen gegen die Zerrüttung der Wirtschaft

Wladimir I. Lenin: Resolutionsentwurf über Kampfmaßnahmen gegen die Zerrüttung der Wirtschaft1

[„Sozialdemokrat" Nr. 64 7. Juni (25. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 38-41]

1. Die vollständige Zerrüttung des gesamten wirtschaftlichen Lebens in Russland hat einen solchen Grad erreicht, dass eine Katastrophe von unerhörtem Ausmaße unvermeidlich geworden ist, eine Katastrophe, die eine Reihe der wichtigsten Industrien vollständig stilllegen, den Landwirten die Möglichkeit der Fortführung ihrer Betriebe im notwendigen Umfange nehmen, die Eisenbahnverbindungen unterbrechen und den Millionen der industriellen Bevölkerung in den Städten die Brotzufuhr abschneiden wird. Noch mehr: die wirtschaftliche Zerrüttung hat bereits begonnen und eine Reihe von Industriezweigen ergriffen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Zerrüttung der Wirtschaft ist nur möglich, wenn die Kräfte des Volkes auf das Äußerste angespannt und sowohl örtlich als auch zentral sofort revolutionäre Maßregeln ergriffen werden.

2. Eine Rettung vor der Katastrophe kann weder auf bürokratischem Wege erfolgen, d. h. durch die Schaffung von Behörden, in denen die Kapitalisten und Bürokraten überwiegen, noch wenn die Profite der Kapitalisten, ihre schrankenlose Macht in der Produktion, ihre Herrschaft über das Finanzkapital und das Geschäftsgeheimnis für ihre Bank-, Handels- und Industriegeschäfte unangetastet bleiben. Das ist durch die Erfahrung einer ganzen Reihe von Teilerscheinungen der Krise in einzelnen Produktionszweigen mit absoluter Klarheit bewiesen.

3. Der Weg zur Rettung vor der Katastrophe geht nur über die Einführung einer wirklichen Arbeiterkontrolle über die Produktion und Verteilung der Produkte. Zur Herstellung einer solchen Kontrolle ist notwendig, erstens, dass in allen entscheidenden Institutionen die Arbeiter eine gesicherte Mehrheit von nicht weniger als drei Vierteln aller Stimmen haben, wobei sowohl die noch im Betriebe tätigen Unternehmer als auch die wissenschaftlich geschulten technischen Angestellten unbedingt herangezogen werden müssen; zweitens, dass die Betriebsräte, die zentralen und örtlichen Räte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, sowie die Gewerkschaften das Recht erhalten, an der Kontrolle teilzunehmen, wobei ihnen der Einblick in die gesamte Buchführung des Handels und der Banken gewährt und alle notwendigen Angaben zur Verfügung gestellt werden müssen; drittens, dass die Vertreter aller großen demokratischen und sozialistischen Parteien das gleiche Recht erhalten.

4. Die Arbeiterkontrolle, die von den Kapitalisten in einer Reihe von Konfliktsfällen bereits anerkannt worden ist, muss unverzüglich durch eine Reihe von genau überlegten und allmählichen, aber ohne jeden Aufschub zu verwirklichenden Maßregeln zu einer vollständigen Regelung der Produktion und der Verteilung der Produkte durch die Arbeiter ausgestaltet werden.

5. Die Arbeiterkontrolle muss in demselben Umfange und mit den gleichen Befugnissen auf alle Finanz- und Bankgeschäfte ausgedehnt werden, wobei die gesamte Finanzlage der Betriebe klargestellt und sofort zu organisierende Räte und Kongresse der Angestellten der Banken, Syndikate usw. zur Teilnahme herangezogen werden müssen.

6. Die Rettung des Landes vor der Katastrophe erfordert, dass der Arbeiter- und Bauernbevölkerung vor allem klargemacht wird – und zwar nicht durch Worte, sondern durch Taten –, dass sie sich vollkommen und unbedingt darauf verlassen kann, dass die zentralen und örtlichen leitenden Machtorgane nicht davor zurückschrecken werden, den größten Teil der Profite, der Einkommen und Vermögen der größten und großen Bank-, Finanz-, Handels- und Industriemagnaten der kapitalistischen Wirtschaft in die Hände des Volkes zu überführen. Ohne die tatsächliche Durchführung dieser Maßregel kann man weder fordern noch erwarten, dass wirklich revolutionäre Maßregeln getroffen werden und die revolutionäre Energie der Arbeiter- und Bauernmassen wirklich aufgeboten wird.

7. Angesichts der vollkommenen Zerrüttung des gesamten Finanzsystems und des gesamten Geldwesens, angesichts der Unmöglichkeit seiner Gesundung bei Fortdauer des Krieges, muss es das Ziel der Organisation im gesamten Reich sein, den Austausch von landwirtschaftlichen Geräten, Kleidung, Schuhwerk usw. gegen Getreide und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse zunächst im Provinz- und dann im Reichsmaßstabe in die Wege zu leiten. Die städtischen und ländlichen Genossenschaften sind in weitgehendem Maße zu diesem Werk heranzuziehen.

8. Erst nach Verwirklichung der erwähnten Maßnahmen ist die Durchführung der allgemeinen Arbeitspflicht möglich und notwendig. Diese Maßregel erfordert ihrerseits die Einführung einer Arbeitermiliz, in der die Arbeiter nach erfolgter achtstündiger Arbeit unentgeltlich Dienst leisten; diese Arbeitermiliz soll in eine allgemeine Volksmiliz umgewandelt werden, bei der die Dienstleistung der Arbeiter und Angestellten von den Kapitalisten bezahlt wird. Nur eine solche Arbeitermiliz und die aus ihr erwachsende allgemeine Volksmiliz kann und muss die allgemeine Arbeitspflicht nicht bürokratisch und nicht im Interesse der Kapitalisten, sondern wirklich für die Rettung des Volkes vor der Katastrophe verwirklichen. Und nur eine solche Miliz kann und darf eine wirklich revolutionäre Disziplin einführen und wird die höchste Anspannung der Kräfte des ganzen Volkes zur Rettung vor der Katastrophe bewirken. Nur durch die allgemeine Arbeitspflicht kann die größtmögliche Ersparnis an den Arbeitskräften des Volkes herbeigeführt werden.

9. Eine der Hauptaufgaben unter den Maßnahmen zur Rettung des Landes vor der Katastrophe muss die Überleitung einer großen Zahl von Arbeitskräften in die Erzeugung von Kohle, Rohstoffen und in das Verkehrswesen sein. Ebenso notwendig ist die allmähliche Überleitung von Arbeitskräften aus der Munitionsindustrie in die Erzeugung von Produkten, die für die Wiederherstellung der Wirtschaft notwendig sind.

10. Eine planmäßige und erfolgreiche Durchführung aller erwähnten Maßregeln ist nur möglich, wenn die gesamte Staatsmacht in die Hände der Proletarier und Halbproletarier übergeht.

1 Die Resolution über die ökonomischen Kampfmaßnahmen gegen die Zerrüttung der Wirtschaft wurde von Lenin für die Konferenz der Betriebsräte verfasst und im Moskauer „Sozialdemokrat" Nr. 64 vom 7. Juni (25. Mai) 1917 als Resolution des Zentralkomitees der Bolschewiki veröffentlicht; in der „Prawda" erschien diese Resolution erst acht Tage später („Prawda" Nr. 71 vom 15. [2.] Juni), aber nicht als Resolution des Zentralkomitees, sondern als Resolutionsentwurf des Organisationsbüros zur Einberufung der Betriebsrätekonferenz.

Am 12.-16. Juni (30. Mai bis 3. Juni) 1917 tagte in Petrograd die Konferenz der Betriebsräte, die, wie sich zeigte, in ihrer Mehrheit auf dem Standpunkt der bolschewistischen Partei stand. Im Organisationsbüro zur Einberufung der Betriebsrätekonferenz gehörte die führende Rolle gleichfalls den Bolschewiki. Das Organisationsbüro bestimmte als Referenten für den Haupttagesordnungspunkt („Zustand der Industrie, Kontrolle der Produktion und Regelung der Arbeit in Petrograd-Stadt") den Genossen Sinowjew Die zum Referat Sinowjews vom Organisationsbüro vorgelegte Resolution über die ökonomischen Kampfmaßnahmen war eben der von Lenin verfasste und vom ZK bestätigte Entwurf (das Organisationsbüro hatte am Leninschen Text nur ein paar geringfügige Änderungen vorgenommen). Diese Resolution wurde dann mit Stimmenmehrheit 290 von 421 Stimmen – angenommen alle andern Resolutionen gegen eine kleine Minderheit abgelehnt. Die von der Konferenz als Grundlage angenommene Resolution wurde zur endgültigen Redaktion einer Kommission überwiesen; der von der Kommission bestätigte Wortlaut der Resolution wurde dann in der Schlusssitzung der Konferenz am 3. (16.) Juni mit 297 gegen 21 Stimmen bei 44 Stimmenthaltungen angenommen.

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