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Wladimir I. Lenin 19170901 Sie sehen vor lauter Räumen den Wald nicht

Wladimir I. Lenin: Sie sehen vor lauter Räumen den Wald nicht

[„Proletarij", Nr. 6, 1. September (19. August) 1917. Gezeichnet: N. Karpow. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1931, S. 102-108]

In der Sitzung des Zentralexekutivkomitees der Räte am 4. August sagte L. Martow (wir zitieren nach dem Bericht der „Nowaja Schisn"):

Zeretellis Kritik ist zu milde," „die Regierung leistet gegen die konterrevolutionären Anschläge der Militärkreise keinen Widerstand" und „es ist nicht unser Ziel, die jetzige Regierung zu stürzen oder das Vertrauen zu ihr zu untergraben"… „Das reale Kräfteverhältnis," fuhr Martow fort, „bietet jetzt keine Grundlage für die Forderung des Übergangs der Macht an die Rate. Eine solche könnte sich nur im Laufe eines Bürgerkriegs ergeben der aber zurzeit unzulässig ist." „Wir beabsichtigen nicht, die Regierung zu stürzen," schließt Martow, „doch wir müssen sie darauf aufmerksam machen, dass es im Lande außer den Kadetten und Militärs noch andere Kräfte gibt. Es sind das die Kräfte der revolutionären Demokratie, und auf diese muss sich die Provisorische Regierung stützen."1

Diese Gedankengänge Martows sind sehr beachtenswert, und es verlohnt sich, mit aller Aufmerksamkeit bei ihnen zu verweilen. Beachtenswert sind sie dadurch, dass sie ungewöhnlich plastisch die meistverbreiteten, schädlichsten, gefährlichsten politischen Irrtümer der kleinbürgerlichen Masse, ihre typischsten Vorurteile wiedergeben. Unter allen Vertretern dieser Masse ist Martow als Publizist wohl einer der „linksten", revolutionärsten, politisch bewusstesten und geschicktesten. Eben deshalb ist es nützlicher, gerade Martows Gedankengänge zu analysieren und nicht die des mit leeren Wortgebilden kokettierenden Tschernow oder die des stumpfsinnigen Zeretelli. Wenn wir Martow kritisieren, so kritisieren wir das, was zurzeit an den Ideen des Kleinbürgertums das Vernünftigste ist.

Äußerst bezeichnend sind vor allem Martows Schwankungen in der Frage des Überganges der Macht an die Räte. Vor dem 4. Juli war Martow gegen diese Losung; nach dem 4. Juli ist er für sie. Anfangs August ist er wieder dagegen, und man beachte, wie unglaublich unlogisch, wie komisch seine Argumentation vom Standpunkte des Marxismus ist. Er ist gegen die Übernahme der Macht, weil „das reale Kräfteverhältnis jetzt keine Grundlage biete für die Forderung des Übergangs der Macht an die Räte. Eine solche könnte sich nur im Laufe eines Bürgerkriegs ergeben, der aber zurzeit unzulässig ist".

Eine schöne Konfusion! Danach war also vor dem 4. Juli der Übergang der Macht an die Räte ohne Bürgerkrieg möglich (das ist lautere Wahrheit), – aber gerade damals war Martow dagegen … Zweitens soll nach dem 4. Juli, als Martow für den Übergang der Macht an die Räte war, dies ohne Bürgerkrieg möglich gewesen sein. Das ist eine offenkundige, himmelschreiende faktische Unwahrheit, denn gerade in der Nacht vom 4. zum 5. Juli ließen die Bonapartisten mit Unterstützung der Kadetten und nicht ohne die Lakaiendienste der Tschernow und Zeretelli, konterrevolutionäre Truppen nach Petrograd kommen. Unter solchen Umständen wäre es absolut unmöglich gewesen, die Macht auf friedlichem Wege zu übernehmen.

Drittens schließlich soll nach Martow ein Marxist oder sogar einfach ein revolutionärer Demokrat berechtigt sein, eine die Interessen des Volkes und der Revolution richtig ausdrückende Losung aus dem Grunde aufzugeben, weil diese „nur im Laufe eines Bürgerkriegs" verwirklicht werden könnte. Das ist ein offenbarer Widersinn, ein offenbarer Verzicht auf jeden Klassenkampf, auf jede Revolution. Denn wer weiß nicht, dass uns die Geschichte aller Revolutionen die nicht zufällige, sondern unvermeidliche Verwandlung des Klassenkampfes in den Bürgerkrieg lehrt? Wer weiß denn nicht, dass wir in Russland gerade seit dem 4. Juli den Beginn eines von der konterrevolutionären Bourgeoisie ausgehenden Bürgerkriegs erleben, die Entwaffnung von Regimentern, Erschießungen an der Front, Ermordungen von Bolschewiki. Der Bürgerkrieg ist also für diese revolutionäre Demokratie gerade dann „unzulässig", wenn die Entwicklung der Ereignisse mit eiserner Notwendigkeit dazu geführt hat, dass die konterrevolutionäre Bourgeoisie ihn eröffnete.

Martow hat sich auf das unwahrscheinlichste, lächerlichste, hilfloseste in eine Konfusion verrannt.

Um diese Konfusion zu entwirren, muss man sagen:

Gerade bis zum 4. Juli war die Losung des Übergangs der Macht an die vorhandenen damaligen Räte die einzig richtige. Damals wäre dies noch auf friedlichem Wege, ohne Bürgerkrieg möglich gewesen, denn damals gab es noch nicht jene systematische Vergewaltigung der Massen, des Volkes, wie sie nach dem 4. Juli üblich geworden ist. Damals hätte dies eine friedliche Weiterentwicklung der ganzen Revolution gesichert und insbesondere eine friedliche Überwindung des Kampfes der Klassen und Parteien innerhalb der Räte ermöglicht.

Nach dem 4. Juli ist der Übergang der Macht an die Räte ohne Bürgerkrieg unmöglich geworden, weil die Macht seit dem 4., 5. Juli an die bonapartistische Militärclique übergegangen ist, die von den Kadetten und den Schwarzhundertern unterstützt wird. Daraus folgt, dass nunmehr alle Marxisten, alle Anhänger des revolutionären Proletariats, alle ehrlichen revolutionären Demokraten die Pflicht haben, die Arbeiter und Bauern über diese radikale Veränderung der Lage aufzuklären, die einen anderen Weg des Übergangs der Macht an die Proletarier und Halbproletarier bedingt.

Martow führt keine Argumente an zur Begründung seines „Gedankens", dass der Bürgerkrieg „zurzeit" unzulässig sei, zur Begründung seiner Erklärung, wonach er nicht beabsichtige, „die jetzige Regierung zu stürzen". Ohne Motivierung aber läuft seine Meinung, besonders wenn sie in einer sozialpatriotischen Versammlung von Anhängern der Vaterlandsverteidiger geäußert wird, unvermeidlich auf das Argument der Vaterlandsverteidiger hinaus: Der Bürgerkrieg im Innern ist unzulässig, weil uns der äußere Feind bedroht.

Wir wissen nicht, ob Martow es wagen würde, ein solches Argument offen vorzubringen. In kleinbürgerlichen Kreisen ist es eines der gangbarsten Argumente. Freilich auch eines der albernsten. Die Bourgeoisie fürchtete weder im September 1870 in Frankreich noch im Februar 1917 in Russland den Bürgerkrieg und die Revolution, obwohl ein äußerer Feind drohte. Die Bourgeoisie hat sich nie gescheut, die Macht um den Preis des Bürgerkriegs zu ergreifen, auch wenn ein äußerer Feind drohte. Das revolutionäre Proletariat wird sich ebenso wenig an dieses Argument der Lügner und der kapitalistischen Lakaien kehren.

Einer der krassesten theoretischen Fehler, die Martow begeht, und der zugleich für den ganzen politischen Ideenkreis des Kleinbürgertums typisch ist, besteht in der Verwechslung der zaristischen und überhaupt der monarchistischen Konterrevolution mit der bürgerlichen Konterrevolution. Darin zeigt sich die spezifische Borniertheit oder der spezifische Stumpfsinn des kleinbürgerlichen Demokraten, der seine wirtschaftliche, politische und geistige Abhängigkeit von der Bourgeoisie nicht abschütteln kann, der in allem der Bourgeoisie den Vortritt lässt, in ihr stets das „Ideal" sieht und ihr Gezeter über die Gefahr der „Konterrevolution von rechts" ernst nimmt.

Diesen Ideenkreis oder vielmehr diese Ideenlosigkeit des Kleinbürgertums brachte Martow zum Ausdruck, als er in seiner Rede sagte: „Den gegen sie (die Regierung) von rechts ausgeübten Druck müssen wir durch Gegendruck auszugleichen suchen."

Das ist ein Musterstück philisterhafter Vertrauensseligkeit, ein Musterbeispiel dafür, wie man den Klassenkampf vergisst. Die Regierung steht danach also gewissermaßen über den Parteien, über den Klassen; es wird nur ein zu starker „Druck" von rechts auf sie ausgeübt; also heißt es noch stärker von links her drücken. O Weisheit, würdig eines Louis Blanc, Tschernow, Zeretelli und dieser ganzen verächtlichen Sippschaft. Wie unendlich vorteilhaft ist diese Philisterweisheit für die Bonapartisten; wie gerne wollen sie die Sache den „dummen Bauern" gerade so dargestellt haben, als kämpfe die gegenwärtige Regierung sowohl gegen rechts wie gegen links, nur gegen die Extreme, um die wahre Staatlichkeit zu verwirklichen, um die wahre Demokratie durchzusetzen. In Wirklichkeit ist jedoch gerade diese bonapartistische Regierung die Regierung der konterrevolutionären Bourgeoisie.

Für die Bourgeoisie ist es vorteilhaft (und wenn ihre Herrschaft für alle Zeit gesichert werden soll, auch notwendig), das Volk irrezuführen und die Sache so darzustellen, als verkörpere sie „die Revolution überhaupt, von rechts aber, vom Zaren, drohe die Konterrevolution". Nur durch die grenzenlose Borniertheit der Dan und Zeretelli, durch die grenzenlose Selbstgefälligkeit der Tschernow und Awksentjew hält sich überhaupt dieser, von den Lebensbedingungen des Kleinbürgertums genährte Gedanke in den Kreisen der „revolutionären Demokratie".

Jeder aber, der aus der Geschichte oder aus der marxistischen Lehre auch nur das Mindeste gelernt hat, muss zugeben, dass die Kardinalfrage einer politischen Analyse die Klassenfrage ist; um die Revolution welcher Klasse handelt es sich? Und um die Konterrevolution welcher Klasse?

Frankreichs Geschichte zeigt uns, dass die bonapartistische Konterrevolution zu Ende des 18. Jahrhunderts (und dann zum zweiten mal in den Jahren 1848–1852) auf dem Boden der konterrevolutionären Bourgeoisie entstanden ist, um dann wiederum ihrerseits der Restauration der legitimen Monarchie den Weg zu ebnen. Der Bonapartismus ist die Regierungsform, die hervorwächst aus der konterrevolutionären Gesinnung der Bourgeoisie, unter den Bedingungen der demokratischen Umgestaltungen und der demokratischen Revolution.

Man muss schon absichtlich die Augen schließen, um nicht zu sehen, wie der Bonapartismus in Russland unter sehr ähnlichen Bedingungen vor unseren Augen emporwächst. Die zaristische Konterrevolution ist gegenwärtig äußerst schwach; sie hat nicht die geringste politische Bedeutung; sie spielt nicht die geringste politische Rolle. Das Schreckgespenst der zaristischen Konterrevolution wird von Scharlatanen absichtlich vorgeschoben und aufgebauscht, um damit den Dummen Angst zu machen, den Philistern eine politische Sensation zu bieten, und die Aufmerksamkeit des Volkes von der wirklichen, ernsthaften Konterrevolution abzulenken. Man kann nicht ohne Lachen die Betrachtungen irgendeines Sarudny lesen, der sich wichtigtuerisch bemüht, der konterrevolutionären Rolle irgendeines winzigen Hinterhofbundes, „Heiliges Russland" genannt, Gewicht beizumessen, und die konterrevolutionäre Rolle des Bundes der gesamten Bourgeoisie Russlands, „Kadettenpartei" genannt, „nicht bemerkt".

Die Kadettenpartei ist die politische Hauptmacht der bürgerlichen Konterrevolution in Russland. Diese Macht hat es vorzüglich verstanden, alle Schwarzhunderter um sich zu scharen, sowohl bei den Wahlen2 als auch (was noch wichtiger ist) im Apparat der militärischen und zivilen Verwaltung und bei dem Lügen-, Verleumdungs- und Hetzfeldzug der Presse, der sich zuerst gegen die Bolschewiki, d. h. gegen die Partei des revolutionären Proletariats, und dann gegen die Räte richtete.

Die jetzige Regierung führt langsam aber zielbewusst gerade jene Politik durch, die die Kadettenpartei seit März 1917 systematisch propagiert und vorbereitet hat. Die Wiederaufnahme und Verschleppung des imperialistischen Krieges, das Verstummen des „Geschwätzes" vom Frieden, die Ermächtigung der Minister, zuerst Zeitungen, dann Tagungen zu verbieten, dann Verhaftungen und Ausweisungen vorzunehmen, die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Erschießungen an der Front, die Entwaffnung der Arbeiter und der revolutionären Regimenter, die Überschwemmung der Hauptstadt mit konterrevolutionären Truppen, die beginnenden Verhaftungen und Verfolgungen von Bauern wegen „eigenmächtiger Besitzergreifung" von Grund und Boden, die Stilllegung von Fabriken und die Aussperrungen – das ist die bei weitem noch nicht vollständige Liste der Maßnahmen, die uns sonnenklar das Bild einer bürgerlichen Konterrevolution des Bonapartismus zeichnen.

Und die aufgeschobene Einberufung der Konstituierenden Versammlung sowie die Krönung der bonapartistischen Politik durch den „Semski Sobor" in Moskau, dieser Übergang zur Aufschiebung der Konstituante bis nach Kriegsende? Ist das nicht eine Perle bonapartistischer Politik?… Aber Martow sieht noch immer nicht, wo der Generalstab der bürgerlichen Konterrevolution sitzt… Wahrlich, vor lauter Bäumen sehen sie den Wald nicht.

Welch unendlich schmutzige Lakaienrolle hat das Zentralexekutivkomitee der Räte, d. h. die in ihm herrschenden Sozialrevolutionäre und Menschewiki, bei der Aufschiebung der Einberufung der Konstituante gespielt! Die Kadetten gaben den Ton an, warfen den Gedanken der Verschiebung auf, eröffneten eine Pressekampagne und schoben den Kosakenkongress mit der Forderung der Aufschiebung vor. (Ein Kosakenkongress! Wie sollten da die Liber, Awksentjew, Tschernow und Zeretelli nicht Lakaiendienste leisten!) Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre liefen den Kadetten nach und krochen auf den Pfiff des Herrn zu Kreuze, wie die Hunde, wenn die Peitsche droht.

Statt dem Volke an Hand einfacher, realer Tatsachen zu zeigen, wie schamlos frech die Kadetten die Einberufung der Konstituante seit März verschleppten und behinderten, statt ihre verlogenen Ausflüchte zu entlarven, ihre Versicherungen, es sei unmöglich, die Konstituante zur festgesetzten Frist einzuberufen, statt dessen warf das Büro des Zentralen Exekutivkomitees rasch alle „Zweifel" beiseite, die sogar von Dan (sogar von Dan!) geäußert worden waren, und das Lakaienkollegium entsandte zwei Lakaien, Bramson und Bronsow, zur Provisorischen Regierung mit einem Vortrag „über die Notwendigkeit einer Verschiebung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung bis zum 28.-29. Oktober …" Ein wunderbares Vorspiel zur Krönung der Bonapartisten durch den „Semski Sobor" in Moskau. Wer noch nicht den letzten Grad der Gemeinheit erreicht hat, muss sich um die Partei des revolutionären Proletariats scharen! Ohne dessen Sieg gibt es für das Volk keinen Frieden, für die Bauern kein Land, für die Arbeiter und alle Werktätigen kein Brot.

1 Die Rede L. Martows in der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees vom 17. (4.) August 1917 ist in Nr. 93 der „Nowaja Schisn" vom 18. (5.) August 1917 veröffentlicht worden.

2 Bei allen Wahlen, die im Jahre 1917 stattfanden, war die Kadettenpartei von allen politischen Gruppierungen, die eigene Listen aufstellten, die am weitesten rechts stehende. Die Oktobristen, der Verband des russischen Volkes u.a. rechts stehende Parteien wagten nicht, eigene Kandidaten aufzustellen, und stimmten für die Kadetten.

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