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Wladimir I. Lenin 19170520 Sie wollen uns zuvorkommen

Wladimir I. Lenin: Sie wollen uns zuvorkommen

[„Prawda" Nr. 51, 20. (7.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 461-463]

Gestern, am 5. Mai, brachten zwei große Morgenzeitungen, die „Wolja Naroda" und die „Rjetsch", auf der ersten Seite eine Bekanntmachung, die am Abend von dem Gutschkow-Suworinschen „Wetscherneje Wremja"1 nachgedruckt wurde und die die größte Beachtung verdient.

In dieser Bekanntmachung wird mitgeteilt, dass in Petrograd „auf Grund einer Vereinbarung des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates mit dem Verband der Ingenieure und mit Ermächtigung der Provisorischen Regierung" ein „Zentralkomitee zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des normalen Arbeitsganges in den industriellen Unternehmungen" gebildet worden sei.

Die Hauptaufgabe des Zentralkomitees" – so heißt es in der Bekanntmachung – „wird sein die Ausarbeitung und Vereinheitlichung aller Maßnahmen zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des normalen Arbeitsganges in den industriellen Unternehmungen und die Organisation einer ständigen aktiven gesellschaftlichen Kontrolle aller Industrieunternehmungen."

Die Worte „gesellschaftliche Kontrolle" sind in der Bekanntmachung unterstrichen.

Sie erinnern an die Senats- und sonstigen bürokratischen Kommissionen der „guten alten" zaristischen Zeit. Wenn irgendein Schuft von Zarenminister, Gouverneur oder Adelsmarschall gestohlen hatte, wenn irgendeine mittelbar oder unmittelbar von der Zarenregierung abhängige Institution sich vor ganz Russland und ganz Europa besonders stark blamiert hatte, dann wurde zur „Beschwichtigung der öffentlichen Meinung" sofort eine Kommission aus Vertretern des hohen und höchsten Adels, aus hohen und höchsten Würdenträgern, aus dem Kreise der reichen und reichsten „Persönlichkeiten" eingesetzt. Und diese Persönlichkeiten „beschwichtigten" die öffentliche Meinung stets mit bestem Erfolg. Sie bereiteten jeglicher „gesellschaftlichen Kontrolle" stets ein Begräbnis erster Klasse, und sie besorgten das um so gründlicher, je schwungvollere Redensarten sie darüber machten, dass „unser weiser Zar" das „öffentliche Gewissen" beruhigt habe …

So war es, so wird es bleiben, möchte man ausrufen, wenn man die hochtrabende Bekanntmachung über das neue Zentralkomitee liest.

Die Herren Kapitalisten wollen uns zuvorkommen. Die Arbeiter werden sich immer mehr dessen bewusst, dass eine proletarische Kontrolle der Fabriken und Syndikate notwendig ist. Die „genialen" Schieber der Geschäftswelt aus den Kreisen des Ministeriums und seiner Umgebung sind auf den „genialen" Gedanken verfallen: kommen wir ihnen zuvor! Nehmen wir den Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat ins Schlepptau. Das wird nicht schwer fallen, solange die Narodniki und Menschewiki dort die Führung haben. Richten wir eine „gesellschaftliche Kontrolle" ein: das wird so wichtig, so staatsklug, so ministrabel, so solide aussehen … und das wird jede wirkliche Kontrolle, jede proletarische Kontrolle sicher und geräuschlos begraben Ein genialer Gedanke! Eine vollständige „Beruhigung" des „öffentlichen Gewissens"!

Wie das neue „Zentralkomitee" zusammensetzen? Oh, selbstverständlich demokratisch. Sind wir doch alle revolutionäre Demokraten". Wenn jemand annehmen wollte, die Demokratie erfordere, dass 200.000 Arbeiter 20 Vertreter entsenden und 10.000 Ingenieure, Kapitalisten usw. einen Vertreter, so wäre das natürlich ein „anarchistischer" Irrtum. Nein, die wahre Demokratie besteht darin, dass man ähnlich vorgeht wie die revolutionäre Demokratie" bei der Bildung ihrer „neuen" Regierung: die Arbeiter und Bauern mögen durch sechs Menschewiki und Narodniki „vertreten" sein, während acht Kadetten und Oktobristen die Grundbesitzer und Kapitalisten vertreten werden: beweisen denn nicht die neuesten statistischen Erhebungen, die von dem neuen Arbeitsministerium im Einvernehmen mit dem alten Ministerium für Industrie zum Abschluss gebracht werden, dass die Mehrheit der Bevölkerung Russlands aus Kapitalisten und Gutsbesitzern besteht?

Man sehe sich nur einmal die vollständige Liste der „Vertreter" jener Institutionen an, die auf Grund der Vereinbarung zwischen der „revolutionären Demokratie" und der Regierung das neue Zentralkomitee bilden.

Das Zentralkomitee besteht aus Vertretern 1. des Exekutivkomitees des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten; 2. des Provisorischen Ausschusses der Reichsduma; 3. des Allrussischen Semstwoverbandes2; 4. des Allrussischen Städtetages; 5. der Petrograder Stadtverwaltung; 6. des Verbandes der Ingenieure; 7. des Rates der Offiziersdelegierten; 8. des Rates der Kongresse der Vertreter von Industrie und Handel; 9. des Petrograder Fabrikantenvereins; 10. des zentralen Kriegsindustriekomitees3 11. des Semgor; 12. des Komitees der kriegstechnischen Hilfe; 13. der „Freien ökonomischen Gesellschaft"4

- Ist das alles?

Alles.

Genügt das etwa nicht, um das öffentliche Gewissen gründlich zu beruhigen?

Wenn nun aber eine und dieselbe Großbank oder ein und dasselbe kapitalistische Syndikat durch seine Aktionäre in diesen zehn oder zwölf Institutionen fünf- oder zehnmal vertreten ist?

O, man darf nicht an „Einzelheiten" herumnörgeln, wo es doch darauf ankommt, eine „ständige, aktive, gesellschaftliche Kontrolle" zu sichern!

1 „Wetscherneje Wremja" („Die Zeit am Abend") – Abendblatt in Petrograd, erschien in den Jahren 1911-1917, politisch der Richtung des „Nowoje Wremja" nahestehend. Herausgeber des Blattes war Suworin jr., ein Sohn des Besitzers des „Nowoje Wremja".

2Semstwo-Verband" – eine Organisation, die die Semstwos (eine Art Provinziallandtag) der Gouvernements und der Kreise zusammenfasste zwecks besserer Organisation des Sanitätswesens, des Verpflegungswesens usw. für die Armee. Die städtischen Selbstverwaltungen hatten ihre besondere Organisation: den Verband der Städte (Städtetag). Die Organisation, die diese beiden Verbände, der Städte sowohl wie der Semstwos, zusammenfasste, hieß „Semstwo- und Städteverband", abgekürzt „Semgor". Vorsitzender des Semstwoverbandes und des Semgor war Fürst G. E. Lwow. der spätere Ministerpräsident; Vorsitzender des Städtetages war der Moskauer Oberbürgermeister Tschelnokow. Die Bourgeoisie verfolgte bei der Schaffung dieser Organisationen ein doppeltes Ziel: einmal die Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte für den Sieg über den äußeren Feind, und zum andern ein allmähliches Hineinwachsen der gesellschaftlichen Organisationen der Bourgeoisie in den zaristischen Staatsapparat. Während der drei Kriegsjahre entwickelte sich der Semstwoverband, der über große Subventionen der Regierung verfügte, eine große Anzahl von Mitarbeitern um sich scharte und das Netz seiner Organisationen über die Front und das Hinterland ausbreitete, zu einem großen gesellschaftlichen Machtfaktor, der bestrebt war, das politische Leben des Landes zu beeinflussen. In den Jahren des Bürgerkrieges arbeitete der Semstwoverband für die Weißgardisten. Gegenwärtig bestehen noch Organisationen des Semstwoverbandes im Auslande, in den Zentren der konterrevolutionären Emigration, sie befassen sich mit Gewährung von Hilfe an die Emigranten.

3 Die Kriegsindustriekomitees wurden von den russischen Fabrikanten im Herbst 1915 gebildet; ihr Zweck war, Lieferungsaufträge für das Heer zu erhalten, dieselben auf die einzelnen Werke zu verteilen und die gegenseitige Konkurrenz auszuschalten. Offiziell wurde natürlich die „Versorgung der Armee" und „Förderung der Landesverteidigung" als Zweck angegeben. Zur Teilnahme an diesen Komitees wurden auch Vertreter der Industriearbeiter herangezogen, die Arbeiter haben jedoch in den meisten Fällen unter Führung der Bolschewiki diese Komitees boykottiert.

Das zentrale Kriegsindustriekomitee hatte seinen Sitz in Petrograd und leitete die Tätigkeit der örtlichen Komitees; Vorsitzender war Gutschkow. An der Spitze der Arbeiterfraktion im zentralen Kriegsindustriekomitee, die ausschließlich aus Oboronzen bestand, stand Gwosdjew, der spätere Vizeminister für Arbeit in der Koalitionsregierung. Die Heranziehung von Arbeitern zu den Kriegsindustriekomitees, die von Gutschkow eifrig betrieben wurde, sollte den „Klassenfrieden" herbeiführen und die Streikbewegung lähmen.

4 „Freie ökonomische Gesellschaft" – einer der ältesten wissenschaftlichen Vereine in Petrograd; in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sowie im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts diente sie als Mittelpunkt der liberalen und radikalen Intelligenz.

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