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Wladimir I. Lenin 19170612 Sitzung des Petrograder Komitees der SDAPR

Sitzung des Petrograder Komitees der SDAPR

vom 12. Juni (30. Mai) 19171

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1923 in der Zeitschrift „Krassnaja Ljetopis" („Rote Chronik") Nr. 3 (14). Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 71-73]

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Rede zur Frage der Gründung einer Zeitung des Petrograder Komitees

Der Wunsch des Petrograder Komitees, ein besonderes Presseorgan zu besitzen, war für das Zentralkomitee eine Überraschung. Es ist unverständlich, warum diese Frage gerade in einer Zeit auftaucht, in der die Errichtung einer eigenen Druckerei im Gange ist und Verhandlungen mit den „Meschrayonzy" über die Hinzuziehung des Genossen Trotzki zur Herausgabe eines populären Organs eingeleitet sind.

Im Westen werden in den Hauptstädten oder großen Industriezentren die lokalen und die zentralen Presseorgane nicht voneinander getrennt. Eine solche Trennung ist wegen der Verzettelung der Kräfte schädlich. Ein besonderes, vom Zentralorgan getrenntes Organ des Petrograder Komitees zu schaffen, ist unzweckmäßig. Petersburg besteht nicht als einzelner Ort. Petersburg ist der geographische, politische, revolutionäre Mittelpunkt ganz Russlands. Ganz Russland verfolgt das Leben Petersburgs. Jeder Schritt Petersburgs dient als anleitendes Beispiel. Von einer solchen Sachlage ausgehend, kann man unmöglich das Leben des Petersburger Komitees zu einer lokalen Angelegenheit machen.

Warum sollte der Vorschlag des Zentralkomitees über die Bildung einer Pressekommission nicht angenommen werden? In der Geschichte der Presse Westeuropas hat es natürlich dort, wo solche Kommissionen bestanden, auch Missverständnisse zwischen der Redaktion der Zeitung und der Kommission gegeben, aber diese Missverständnisse entstanden ausschließlich auf dem Boden prinzipieller Meinungsverschiedenheiten über die Führung des Organs. Welche prinzipiellen politischen Gründe soll es aber für Konflikte zwischen dem PK2 und dem ZK geben? Das Organ des PK wird stets, ob man es will oder nicht, das führende Organ der Partei sein.

Die Erfahrung mit der Gründung eines eigenen Organs wird das PK sehr rasch von der Unmöglichkeit, sich lokal abzuschließen, überzeugen. Das ZK bestreitet nicht, dass es notwendig ist, den Bedürfnissen der Petrograder Organisation einen bedeutenden Platz in den Zeitungen einzuräumen. Das ZK bestreitet nicht, dass ein volkstümliches Organ für die Aufklärung der breiten Massen über unsere Losungen notwendig ist. Aber die Gründung einer populären Zeitung ist kompliziert und erfordert eine große Erfahrung. Darum will das ZK auch den Genossen Trotzki, der es verstanden hat, sein volkstümliches Organ, die „Russkaja Gazeta"3, zu schaffen, zur Mitarbeit an der Errichtung einer volkstümlichen Zeitung gewinnen.

In der Geschichte Westeuropas steht die Frage einer populären Zeitung nicht so akut wie bei uns. Das Bildungsniveau der Massen hat sich im Westen, dank der kulturellen Aufklärungsarbeit der Liberalen, gleichmäßiger gehoben. In solchen Ländern, wie die Tschechei und Böhmen, sind populäre Organe vorhanden. Die Aufgabe des populären Organs besteht darin, den Leser zum Verständnis des leitenden Parteiorgans emporzuheben. Wenn wir kein volkstümliches Organ herausbringen, so werden die anderen Parteien die Masse an sich ziehen und mit ihr spekulieren. Das volkstümliche Organ soll seinem Typus nach kein Lokalblatt sein, aber infolge der „Schwierigkeiten" der Postbeförderung wird es notgedrungen hauptsächlich in Petersburg verbreitet werden. Damit die örtlichen Bedürfnisse in richtiger Weise befriedigt werden, muss sich das PK einen entsprechenden Platz in der Redaktion des Organs sichern.

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Erste Resolution, beantragt in der Sitzung des Petrograder Komitees

Das ZK gründet zwei Zeitungen in Petersburg: das Zentralorgan und ein populäres Organ unter ein und derselben Redaktion. Das PK erhält eine beratende Stimme in der Redaktion des Zentralorgans und eine beschließende Stimme in der populären Zeitung. Zur Behandlung von Fragen rein lokaler Natur räumt das ZK eine bestimmte Anzahl von Spalten in beiden Zeitungen ein.

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Zweite Resolution, beantragt in der Sitzung des Petrograder Komitees

Das PK beschließt, an beiden Zeitungen, die das ZK gründet, unter den Bedingungen, die das ZK vorschlägt, teilzunehmen und alle Anstrengungen zu machen, um die Bedürfnisse der örtlichen Arbeit gründlicher und vollständiger zu befriedigen und die allgemeine Linie der Partei ausführlicher durchzuarbeiten. Da das PK die begründete Befürchtung hegt, dass das ZK oder die von ihm ernannte Redaktion den nicht auf dem Boden des Bolschewismus stehenden Internationalisten zu viel Vertrauen entgegenbringen, dass das ZK die Freiheit und Selbständigkeit der Petersburger Genossen einengen und ihnen nicht den Einfluss einräumen würde, der den Führern der örtlichen Parteiarbeit zukommt, so wählt das PK eine Kommission zur genauen Formulierung der Garantien der Rechte des PK im lokalen Teil beider Zeitungen.

1 Am 12. Juni (30. Mai) 1917 fand eine außerordentliche Sitzung des Petrograder Komitees der Bolschewiki statt, die sich hauptsächlich mit der Frage der Schaffung einer eigenen Zeitung beschäftigte. Vorher schon hatte sich der Vollzugsausschuss des Petrograder Komitees einstimmig für die Gründung eines besonderen Organs für Petrograd ausgesprochen. In der Diskussion trat die Mehrzahl der örtlichen Parteiarbeiter für ein selbständiges Organ ein. Lenin wandte sich gegen diesen Plan. Die Wiedergabe seiner Rede erfolgt hier nach den Aufzeichnungen des Protokolls. Die Rede ist natürlich unvollständig und ungenau, sie gibt nur den Gedankengang wieder.

Die beiden Resolutionen, die Lenin vorgeschlagen hatte, von denen die zweite einen Kompromisscharakter trug, wurden mit Stimmenmehrheit abgelehnt. Die Abstimmung über die erste Resolution hatte, wie aus den Aufzeichnungen des Protokolls hervorgeht, folgendes Ergebnis: 12 dafür, 16 dagegen und 2 Stimmenthaltungen; das Abstimmungsergebnis über die zweite Resolution ist im Protokoll nicht enthalten. Die Resolution des Petrograder Komitees für Schaffung eines eigenen Organs wurde gleichfalls mit Stimmengleichheit 14 gegen 14 abgelehnt, so dass die Frage unentschieden blieb. Lenin, der dieser Frage prinzipielle Bedeutung beimaß, richtete am nächsten Tag einen „Brief an die Bezirkskomitees" (siehe S. 82 dieses Halbbandes), in dem er die Parteimitgliedschaft aufforderte, sich zu dieser Frage zu äußern. Der Brief wurde in der Sitzung des Petrograder Komitees am 19. (6.) Juni 1917 bekanntgegeben.

2 Petersburger Komitee. Die Red.

3 „Russkaja Gazeta" (Russische Zeitung) – populäres Blatt, herausgegeben von Parvus und Trotzki, das 1905 in Petersburg erschien.

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