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Wladimir I. Lenin 19170721 Sollen die bolschewistischen Führer sich dem Gericht stellen?

Wladimir I. Lenin: Sollen die bolschewistischen Führer sich dem Gericht stellen?1

[Geschrieben am 21. (8.) Juli 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 1 (36). Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 25 f.]

Nach Privatgesprächen zu urteilen, gibt es über diese Frage zwei Meinungen.

Die Genossen, die „der Atmosphäre der Räte" erliegen, neigen oft der Ansicht zu, dass man sich stellen soll.

Die den Arbeitermassen näher Stehenden sind anscheinend dafür, dass man sich nicht stellt.

Prinzipiell läuft die Frage in erster Linie auf die Beurteilung dessen hinaus, was man als konstitutionelle Illusionen zu bezeichnen pflegt.

Wenn man der Ansicht ist, dass in Russland eine richtige Regierung, ein richtiges Gericht möglich sind, dass es sie gibt, dass die Einberufung der konstituierenden Versammlung wahrscheinlich ist, dann kann man zu dem Schluss kommen, sich zu stellen.

Aber eine solche Ansicht ist durch und durch falsch. Gerade die letzten Ereignisse nach dem 4. Juli haben in anschaulichster Weise gezeigt, dass die Einberufung der konstituierenden Versammlung (ohne eine neue Revolution) nicht wahrscheinlich ist, dass es in Russland weder eine richtige Regierung noch ein richtiges Gericht gibt und (jetzt) auch nicht geben kann.

Das Gericht ist ein Organ der Macht. Das vergessen zuweilen die Liberalen. Ein Marxist aber darf es nicht vergessen.

Aber wo ist die Macht? Wer ist die Macht?

Eine Regierung gibt es nicht. Sie wechselt von Tag zu Tag. Sie tut nichts.

In Funktion ist eine Militärdiktatur. Da ist es lächerlich, von einem „Gericht" auch nur zu sprechen. Es handelt sich nicht um ein „Gericht", sondern um eine Episode des Bürgerkrieges. Das ist es, was die Befürworter des Sichstellens leider nicht begreifen wollen.

Perewersew und Alexinski als Initiatoren der „Affäre". Ist es da nicht lächerlich, von einem Gericht zu sprechen? Ist es nicht naiv, zu glauben, dass unter diesen Umständen irgendein Gericht etwas prüfen, feststellen und untersuchen kann??

Die Macht ist in den Händen der Militärdiktatur, und ohne eine neue Revolution kann sich diese Macht für eine gewisse Zeit nur befestigen, vor allem für die Zeit des Krieges.

Ich habe nichts Ungesetzliches begangen. Das Gericht ist gerecht. Das Gericht wird prüfen. Das Gericht wird öffentlich sein. Das Volk wird verstehen. Ich werde mich stellen."

Diese Überlegung ist kindisch naiv. Nicht ein Gerichtsverfahren, sondern eine Hetze gegen die Internationalisten – das ist es, was die Macht braucht. Sie hinter Schloss und Riegel halten – das wollen die Herren Kerenski und Co. So war es (in England und Frankreich), so wird es (in Russland) sein.

Mögen die Internationalisten nach Kräften illegal arbeiten, sie sollen aber nicht die Dummheit begehen, sich freiwillig dem Gericht zu stellen!

1 In der Frage, ob Lenin und Sinowjew sich dem Gericht stellen sollten, waren bei verschiedenen Mitgliedern des Zentralkomitees Schwankungen entstanden. W. Nogin hielt es für notwendig, dass die Parteiführer sich verhaften lassen und dem Gericht stellen sollten, um einen offenen Kampf gegen die Verleumdungen und falschen Beschuldigungen zu führen. J. Stalin und S. Ordschonikidse wandten sich entschieden dagegen, weil sie die Lynchjustiz der konterrevolutionären Junker oder geheime Ermordungen im Gefängnis befürchteten. Nach Beratung mit Lenin und Sinowjew begaben sich Nogin und Ordschonikidse auf Drängen Lenins zum Zentralen Exekutivkomitee, um die Lage zu klären und im Falle der freiwilligen Stellung eine Gewähr für die Sicherheit durchzusetzen. Aus den Verhandlungen mit einem Mitglied des ZEK, Anissimow (Menschewik, Arbeiter), ging hervor, dass eine solche Gewähr nicht zu erlangen war, da die Regierungsgewalt faktisch nach den Julitagen in die Hände der konterrevolutionären Militärclique übergegangen war. Die Erklärungen Anissimows setzten den Schwankungen einzelner Mitglieder des Zentralkomitees endgültig ein Ende, und die Frage des Erscheinens vor Gericht wurde im negativen Sinne entschieden. Auf dem 6. Parteitag der SDAPR wurde die Frage des Erscheinens vor Gericht von Neuem erörtert, und der Parteitag erklärte sich entschieden dagegen, da keine Garantien für die persönliche Sicherheit der Angeklagten vorhanden waren.

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