VI. Die Verflachung des Marxismus durch die Opportunisten

VI. Die Verflachung des Marxismus durch die Opportunisten

Die Frage nach dem Verhältnis des Staates zur sozialen Revolution und der sozialen Revolution zum Staate hat die prominentesten Theoretiker und Publizisten der II. Internationale (1889 bis 1914) sehr wenig beschäftigt, wie überhaupt die Frage der Revolution sie wenig beschäftigt hat. Aber das Charakteristischste an dem Prozess des allmählichen Anwachsens des Opportunismus, der 1914 zum Zusammenbruch der II. Internationale geführt hat, ist, dass sie selbst da, wo sie hart an diese Frage herangekommen waren, sie zu umgehen suchten, oder sie nicht bemerkten.

Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dieses Ausweichen vor der Frage des Verhältnisses der proletarischen Revolution zum Staat, ein Ausweichen, das für den Opportunismus vorteilhaft war und ihn nährte, zur Entstellung und völligen Verflachung des Marxismus geführt hat.

Um diesen traurigen Prozess wenigstens kurz zu kennzeichnen, wenden wir uns den angesehensten Theoretikern des Marxismus, Plechanow und Kautsky, zu.

1. Plechanows Polemik gegen die Anarchisten

Plechanow hat der Frage des Verhältnisses zwischen Anarchismus und Sozialismus eine besondere Broschüre gewidmet, die 1894 in deutscher Sprache unter dem Titel „Anarchismus und Sozialismus" erschienen ist.

Plechanow brachte es fertig, dieses Thema zu behandeln unter völliger Umgehung des Aktuellen und politisch Wesentlichsten im Kampfe gegen den Anarchismus, nämlich des Verhältnisses der Revolution zum Staat, wie überhaupt der Frage des Staates! In seiner Broschüre ragen zwei Teile hervor: der eine Teil ist ein historisch-literarischer mit wertvollem Material zur Geschichte der Ideen Stirners, Proudhons usw., der andere Teil ist ein philiströser mit plumpen Betrachtungen darüber, dass ein Anarchist von einem Banditen kaum zu unterscheiden sei.

Die Kombination der Themen ist höchst kurios und für die ganze Tätigkeit Plechanows am Vorabend der Revolution und während der Revolutionsperiode in Russland äußerst charakteristisch: Plechanow hat sich denn auch in den Jahren 1905-1917 demgemäß halb als Doktrinär und halb als Philister erwiesen, der in der Politik im Nachtrab der Bourgeoisie marschierte.

Wir haben gesehen, wie Marx und Engels in ihrer Polemik gegen die Anarchisten ihre Ansichten über das Verhältnis der Revolution zum Staat auf das Eingehendste klargestellt haben. Engels schrieb bei Herausgabe der Marxschen „Kritik des Gothaer Programms" im Jahre 1891:

Wir (d. h. Engels und Marx) lagen damals, kaum zwei Jahre nach dem Haager Kongress der (I.) Internationale,1 im heftigsten Kampf mit Bakunin und seinen Anarchisten."

Die Anarchisten versuchten gerade die Pariser Kommune sozusagen „für sich" zu reklamieren, als eine Bestätigung ihrer Lehre, wobei sie die Lehren der Kommune und die Analyse dieser Lehren durch Marx absolut nicht begriffen hatten. Der Anarchismus hat nichts beigetragen, was der Wahrheit über die konkret-politischen Fragen auch nur annähernd nahekam: soll man die alte Staatsmaschinerie zerschlagen? – und wodurch sie ersetzen?

Aber über „Anarchismus und Sozialismus" sprechen, indem man der ganzen Frage des Staates ausweicht, indem man die ganze Entwicklung des Marxismus vor und nach der Kommune nicht bemerkt, das bedeutete unvermeidlich ein Abgleiten zum Opportunismus. Denn der Opportunismus braucht ja gerade nichts weiter, als dass die beiden von uns soeben bezeichneten Fragen überhaupt nicht gestellt werden. Das ist schon ein Sieg des Opportunismus.

2. Kautskys Polemik gegen die Opportunisten

In der russischen Literatur gibt es zweifellos ungleich mehr Übersetzungen von Kautskys Schriften als in irgendeiner anderen. Nicht umsonst scherzen manche deutsche Sozialdemokraten, Kautsky würde in Russland mehr gelesen als in Deutschland. (Nebenbei bemerkt, enthält dieser Scherz einen viel tieferen historischen Sinn, als seine Urheber vermuten, nämlich: die russischen Arbeiter, die 1905 einen wahren Heißhunger nach den besten Werken der besten sozialdemokratischen Literatur der Welt an den Tag legten und denen eine im Vergleich zu anderen Ländern unerhört große Menge von Übersetzungen und Ausgaben solcher Werke geboten wurde, übertrugen damit sozusagen auf den jungen Boden unserer proletarischen Bewegung in beschleunigtem Tempo die reiche Erfahrung des benachbarten, fortgeschritteneren Landes.)

Besonders bekannt ist bei uns Kautsky, außer durch seine populäre Darstellung des Marxismus, durch seine Polemik gegen die von Bernstein geführten Opportunisten. Kaum bekannt ist aber eine Tatsache, die nicht verschwiegen werden darf, wenn man sich die Aufgabe stellt, zu verfolgen, wie Kautsky zu der unglaublich schmachvollen Ratlosigkeit und Verteidigung des Sozialchauvinismus in der Zeit der schwersten Krise 1914/15 herabgesunken ist. Nämlich die Tatsache, dass Kautsky vor seinem Auftreten gegen die angesehensten Vertreter des Opportunismus in Frankreich (Millerand und Jaurès) und in Deutschland (Bernstein) sehr große Schwankungen aufwies. Die marxistische „Sarja"2, die 1901/02 in Stuttgart erschien und die revolutionär-proletarischen Anschauungen vertrat, sah sich gezwungen, gegen Kautsky zu polemisieren, seine aus Halbheiten bestehende, ausweichende, den Opportunisten gegenüber versöhnliche Resolution auf dem Pariser internationalen sozialistischen Kongress im Jahre 1900 als „kautschukartig" zu bezeichnen.3 In der deutschen Literatur sind Briefe von Kautsky veröffentlicht worden, die seine nicht geringeren Schwankungen vor dem Feldzug gegen Bernstein an den Tag brachten.

Von ungleich größerer Bedeutung ist jedoch der Umstand, dass wir in seiner Polemik gegen die Opportunisten selbst, in seiner Fragestellung und seiner Art der Behandlung der Frage jetzt, beim Studium der Geschichte des neuesten Verrats Kautskys am Marxismus, ein systematisches Hinneigen zum Opportunismus gerade in der Frage des Staates feststellen können.

Nehmen wir Kautskys erstes größeres Werk gegen den Opportunismus, sein Buch „Bernstein und das sozialdemokratische Programm". Kautsky widerlegt Bernstein ausführlich. Charakteristisch ist aber folgendes.

Bernstein erhebt in seinen herostratisch berühmten „Voraussetzungen des Sozialismus" gegen den Marxismus den Vorwurf des „Blanquismus" (ein Vorwurf, den seither die Opportunisten und die liberalen Bourgeois in Russland Tausende von Malen gegen die Vertreter des revolutionären Marxismus, die Bolschewiki, wiederholt haben). Bernstein verweilt hierbei besonders bei dem Marxschen „Bürgerkrieg in Frankreich" und versucht – wie wir gesehen haben, sehr unglücklich – die Ansichten von Marx über die Lehren der Kommune mit denen Proudhons zu identifizieren. Besondere Aufmerksamkeit widmet Bernstein der Folgerung von Marx, die dieser im Vorwort von 1872 zum „Kommunistischen Manifest" unterstrich und die besagt, dass „die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann."

Bernstein „gefällt" dieser Ausspruch so sehr, dass er ihn in seinem Buch nicht weniger als dreimal wiederholt, um ihn in einem ganz entstellten, opportunistischen Sinne auszulegen.

Marx will, wie wir gesehen haben, sagen, dass die Arbeiterklasse die ganze Staatsmaschinerie zerschlagen, zerbrechen, sprengen muss (letzterer Ausdruck stammt von Engels). Bernstein dagegen stellt es so dar, als hätte Marx mit diesen Worten die Arbeiterklasse warnen wollen vor einem übertriebenen Revolutionarismus bei der Ergreifung der Macht.

Eine gröbere und skandalösere Verdrehung des Marxschen Gedankens lässt sich kaum vorstellen.

Was tat nun Kautsky in seiner sehr eingehenden Widerlegung der Bernsteinerei?

Er vermied es, die ganze Tiefe der opportunistischen Verdrehung des Marxismus in diesem Punkte zu analysieren. Er führte die weiter oben zitierte Stelle aus dem Engelsschen Vorwort zum „Bürgerkrieg" von Marx an und beschränkte sich darauf, zu sagen, nach Marx könne die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen, überhaupt aber könne sie sie in Besitz nehmen, und nichts weiter. Dass Bernstein Marx das gerade Gegenteil des wirklichen Marxschen Gedankens zuschrieb, dass Marx seit 1852 als Aufgabe der proletarischen Revolution das „Zerschlagen" der Staatsmaschinerie in den Vordergrund rückte, davon findet sich bei Kautsky nicht ein Wort.

So kam es, dass der wesentlichste Unterschied zwischen Marxismus und Opportunismus hinsichtlich der Aufgaben der proletarischen Revolution bei Kautsky verwischt erscheint!

Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur – schrieb Kautsky ,gegen' Bernstein – können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen." (S. 172 der deutschen Ausgabe von 1899.)

Das ist keine Polemik gegen Bernstein, sondern im Grunde ein Zugeständnis an ihn, eine Auslieferung von Positionen an den Opportunismus, denn vorerst verlangen die Opportunisten ja nichts weiter, als dass man alle grundlegenden Fragen nach den Aufgaben der proletarischen Revolution „ganz ruhig der Zukunft überlassen" soll.

Marx und Engels haben von 1852 bis 1891, im Laufe von vierzig Jahren, das Proletariat gelehrt, es müsse die Staatsmaschinerie zerschlagen. Kautsky dagegen begeht 1899, angesichts des vollständigen Verrats der Opportunisten am Marxismus in diesem Punkte, die Fälschung, an Stelle der Frage, ob man diese Maschine zerschlagen müsse, die Frage nach den konkreten Formen des Zerschlagens zu setzen, und rettet sich unter die Fittiche der „unbestreitbaren" (und unfruchtbaren) philiströsen Wahrheit, dass man die konkreten Formen nicht im Voraus kennen könne!!

Zwischen Marx und Kautsky klafft ein Abgrund in ihrem Verhältnis zu der Aufgabe der proletarischen Partei, die Arbeiterklasse auf die Revolution vorzubereiten.

Nehmen wir ein späteres, reiferes Werk von Kautsky, das in beträchtlichem Maße ebenfalls einer Widerlegung der Irrtümer des Opportunismus gewidmet ist. Es ist seine Broschüre „Die soziale Revolution".4 Der Verfasser behandelte hier speziell das Thema der „proletarischen Revolution" und des „proletarischen Regimes". Er gab hier sehr viel außerordentlich Wertvolles, aber gerade die Frage des Staates umging er. In der Broschüre ist überall von der Eroberung der Staatsgewalt und von nichts anderem die Rede, d. h. es ist eine Formulierung gewählt, die den Opportunisten entgegenkommt, insoweit sie die Eroberung der Macht ohne Zerstörung der Staatsmaschinerie zulässt. Gerade das, was Marx 1872 im Programm des „Kommunistischen Manifestes" als „veraltet" erklärt, erlebt 1902 bei Kautsky seine Wiedergeburt.

In der Broschüre ist ein besonderer Paragraph den „Formen und Waffen der sozialen Revolution" gewidmet. Hier wird wohl gesprochen vom politischen Massenstreik und vom Bürgerkrieg und von den „Machtmitteln des modernen Großstaates, seiner Bürokratie und Armee", aber keine Silbe darüber, was die Kommune die Arbeiter gelehrt hat. Augenscheinlich hat Engels die Sozialisten, insbesondere die deutschen, nicht ohne Grund vor der „abergläubischen Verehrung" des Staates gewarnt.

Kautsky stellt die Sache folgendermaßen dar: das siegreiche Proletariat wird „das demokratische Programm zur Wahrheit machen", und er erläutert die einzelnen Punkte. Darüber aber, was das Jahr 1871 in der Frage der Ersetzung der bürgerlichen Demokratie durch die proletarische Demokratie Neues gegeben hat – kein Wort. Kautsky begnügt sich mit solchen „solide" klingenden Banalitäten, wie:

Und doch ist es selbstverständlich, dass wir nicht zur Herrschaft kommen unter den heutigen Verhältnissen. Die Revolution selbst setzt lange und tiefgehende Kämpfe voraus, die bereits unsere heutige politische und soziale Struktur verändern werden."

Freilich ist das „selbstverständlich", ebenso gut wie die Wahrheit, dass Pferde Hafer fressen und die Wolga ins Kaspische Meer fließt. Schade nur, dass vermittels einer hohlen und schwülstigen Phrase über „tiefgehende" Kämpfe die für das revolutionäre Proletariat wesentliche Frage umgangen wird, worin denn die „Tiefe" seiner Revolution gegenüber dem Staat, gegenüber der Demokratie, zum Unterschiede von den früheren nichtproletarischen Revolutionen zum Ausdruck kommt.

Indem Kautsky diese Frage umgeht, macht er in der Tat in diesem wesentlichsten Punkt ein Zugeständnis an den Opportunismus, dem er in Worten einen fürchterlichen Krieg ansagt, durch Unterstreichung der Bedeutung der „Idee der Revolution" (was mag diese „Idee" wert sein, wenn man sich fürchtet, unter den Arbeitern die konkreten Ideen der Revolution zu verbreiten?), oder durch die Bemerkung: „revolutionären Idealismus vor allem", oder durch die Erklärung, dass die englischen Arbeiter „heute kaum noch etwas anderes seien als kleine Bourgeois".

Die verschiedensten Formen des Betriebes“ – schreibt Kautsky –, „bürokratischer (??), gewerkschaftlicher, genossenschaftlicher, Alleinbetrieb … können nebeneinander in einer sozialistischen Gesellschaft existieren."

„ … Es gibt z.B. Betriebe, die ohne eine bürokratische (??) Organisation nicht auskommen, wie die Eisenbahnen. Die demokratische Organisation kann sich da so gestalten, dass die Arbeiter Delegierte wählen, die eine Art Parlament bilden, welches die Arbeitsordnungen feststellt und die Verwaltung des bürokratischen Apparates überwacht. Andere Betriebe kann man der Verwaltung der Gewerkschaften übergeben, wieder andere können genossenschaftlich betrieben werden."

Diese Betrachtung ist falsch und bedeutet einen Schritt rückwärts gegenüber dem, was in den siebziger Jahren Marx und Engels am Beispiel der Lehren der Kommune gezeigt haben.

Die Eisenbahnen unterscheiden sich, vom Standpunkt einer angeblich notwendigen „bürokratischen" Organisation, absolut durch nichts von allen sonstigen Betrieben der maschinellen Großindustrie, von einer beliebigen Fabrik, einem großen Geschäft, einem großkapitalistischen landwirtschaftlichen Unternehmen. In allen solchen Betrieben schreibt die Technik unbedingt die strengste Disziplin vor, die größte Genauigkeit bei Ausführung der jedem zugewiesenen Teilarbeit, da sonst die Stilllegung des ganzen Betriebes, eine Schädigung des Mechanismus, eine Schädigung des Produkts zu befürchten wäre. In allen solchen Unternehmungen werden die Arbeiter natürlich „Delegierte wählen, die eine Art Parlament bilden".

Aber das ist ja eben der ganze Witz, dass diese „Art Parlament" kein Parlament im Sinne der bürgerlich-parlamentarischen Körperschaften sein wird. Das ist ja der Witz, dass diese „Art Parlament" nicht nur die „Arbeitsordnung feststellen und die Verwaltung des bürokratischen Apparates überwachen" wird, wie Kautsky sich das ausmalt, dessen Gedanken nicht über den Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus hinausgehen. In der sozialistischen Gesellschaft wird natürlich „eine Art Parlament" von Arbeiterdeputierten die Arbeitsordnung feststellen und die Verwaltung des „Apparates" überwachen, aber dieser Apparat wird nicht „bürokratisch" sein. Die Arbeiter werden nach Eroberung der politischen Macht den alten bürokratischen Apparat zerschlagen, ihn bis auf den Grund zerstören, nicht einen Stein auf dem anderen lassen; sie werden ihn durch einen neuen, aus denselben Arbeitern und Angestellten gebildeten Apparat ersetzen, wobei man gegen deren Verwandlung in Bürokraten sofort die von Marx und Engels eingehend besprochenen Maßnahmen treffen wird: 1. nicht nur Wählbarkeit, sondern auch jederzeitige Absetzbarkeit; 2. eine den Arbeiterlohn nicht übersteigende Bezahlung; 3. sofortiger Übergang dazu, dass alle die Funktionen der Kontrolle und Aufsicht verrichten, dass alle eine Zeitlang „Bürokraten" werden, so dass gerade dadurch niemand zum „Bürokraten" werden kann.

Kautsky hat die Worte von Marx: „Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit", absolut nicht durchdacht.

Kautsky hat absolut nicht den Unterschied begriffen zwischen bürgerlichem Parlamentarismus, der die Demokratie (nicht für das Volk) mit dem Bürokratismus (gegen das Volk) verbindet, und proletarischer Demokratie, die sofort Maßnahmen ergreifen wird, um den Bürokratismus mit der Wurzel auszurotten, und die imstande sein wird, diese Maßnahmen restlos bis zur völligen Beseitigung der Bürokratie, bis zur Einführung der vollen Demokratie für das Volk durchzuführen.

Kautsky offenbarte hier die gleiche „abergläubische Verehrung" des Staates, den gleichen „Aberglauben" an den Bürokratismus.

Gehen wir zum letzten und besten Werk Kautskys über, das er gegen die Opportunisten geschrieben hat, zu seiner Broschüre „Der Weg zur Macht" (die, glaube ich, nicht ins Russische übersetzt worden ist, da sie zur Zeit der ärgsten Reaktion bei uns, im Jahre 1909, erschienen ist).5 Diese Broschüre ist ein großer Schritt vorwärts, insofern in ihr nicht von einem revolutionären Programm im Allgemeinen, wie in der Schrift gegen Bernstein von 1899, nicht von den Aufgaben der sozialen Revolution, losgelöst von der Zeit ihres Ausbruchs, wie in der Broschüre „Die soziale Revolution" von 1902 die Rede ist, sondern von den konkreten Bedingungen, die uns zwingen, anzuerkennen, dass die „Ära der Revolutionen'' beginnt.

Der Verfasser weist mit Bestimmtheit hin auf die Verschärfung der Klassengegensätze im Allgemeinen und auf den Imperialismus, der in dieser Beziehung eine besonders große Rolle spielte. Nach dem „revolutionären Zeitalter 1789-1871" für Westeuropa beginne seit 1905 ein ähnliches Zeitalter für den Osten. Der Weltkrieg rücke mit großer Geschwindigkeit in bedrohliche Nähe. „Es (das Proletariat) kann nicht mehr von einer vorzeitigen Revolution reden." „Wir sind in eine revolutionäre Periode eingetreten." Die „revolutionäre Ära, die anhebt".

Diese Erklärungen sind völlig klar. Diese Schrift Kautskys kann als Maßstab dessen dienen, was die deutsche Sozialdemokratie vor dem imperialistischen Krieg zu sein versprach und wie tief sie bei Ausbruch des Krieges (mitsamt Kautsky) gesunken ist.

Die heutige Situation“ – schrieb Kautsky in der angeführten Broschüre – „bringt aber die Gefahr mit sich, dass wir (d. h. die deutsche Sozialdemokratie) leicht ,gemäßigter' aussehen, als wir sind."

In Wirklichkeit erwies sich die deutsche sozialdemokratische Partei unvergleichlich gemäßigter und opportunistischer, als sie zu sein schien!

Um so bezeichnender ist es, dass Kautsky trotz einer solchen Bestimmtheit seiner Erklärungen über die bereits begonnene Ära der Revolution auch in dieser Schrift, die nach seinen eigenen Worten der Erörterung der Frage gerade der „politischen Revolution" gewidmet ist, wiederum die Frage des Staates völlig umgeht.

Die Summe dieser Umgehungen der Frage, dieses Verschweigens und Ausweichens ergab unvermeidlich jenen völligen Übergang zum Opportunismus, über den wir sofort zu sprechen haben werden.

Die deutsche Sozialdemokratie erklärte gleichsam durch die Person Kautskys: ich behalte die revolutionären Anschauungen bei (1899). Ich erkenne insbesondere die Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution des Proletariats an (1902). Ich erkenne den Anbruch einer neuen Ära der Revolutionen an (1909). Aber dennoch gehe ich zurück gegenüber dem, was Marx bereits 1852 gesagt hat, sobald es sich um die Frage nach den Aufgaben der proletarischen Revolution dem Staat gegenüber handelt (1912).

Gerade so wurde die Frage in der Polemik Kautskys gegen Pannekoek gestellt.

3. Kautskys Polemik gegen Pannekoek

Pannekoek trat gegen Kautsky als ein Vertreter jener „linksradikalen" Richtung auf, die in ihren Reihen Rosa Luxemburg, Karl Radek und andere zählte und als Vertreterin der revolutionären Taktik einig war in der Überzeugung, dass Kautsky zum Standpunkt des „Zentrums" übergehe und prinzipienlos zwischen Marxismus und Opportunismus hin und her schwanke. Die Richtigkeit dieser Ansicht wurde durch den Krieg vollkommen bestätigt, als die Richtung des „Zentrums" (das irrtümlich marxistisch genannt wird) oder „Kautskyanertums" sich in ihrer ganzen abscheulichen Jämmerlichkeit zeigte.

In dem Artikel „Massenaktion und Revolution" („Neue Zeit", 1912, XXX, 2), in dem die Frage des Staates berührt wird, charakterisiert Pannekoek die Stellung Kautskys als die des „passiven Radikalismus", als „die Theorie des aktionslosen Abwartens". „Kautsky übersieht den Prozess der Revolution" (S. 616). Indem Pannekoek die Frage so stellte, kam er auf die Aufgaben der proletarischen Revolution gegenüber dem Staate zu sprechen.

Der Kampf des Proletariats“ – schrieb er – „ist nicht einfach ein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt … Der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats“ (S. 544) „ … Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, dass sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat." (S. 548.)

Die Formulierung, in die Pannekoek seine Gedanken kleidete, weist sehr große Mängel auf. Immerhin, der Gedanke ist klar, und es ist interessant, wie Kautsky ihn widerlegte.

Bisher“ – schrieb er – „bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten darin, dass jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides." (S. 742.)6

Wenn bei Pannekoek die Darstellung an Unklarheit leidet und der Konkretheit ermangelt (von anderen Mängeln seines Artikels, die zu dem in Rede stehenden Thema nicht gehören, sehen wir hier ab), so hat Kautsky gerade das von Pannekoek angedeutete prinzipielle Wesen der Sache genommen und hat in dieser grundlegenden prinzipiellen Frage die Stellung des Marxismus gänzlich verlassen, ist ganz und gar zum Opportunismus hinüber geschwenkt Der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten ist bei ihm ganz falsch definiert, der Marxismus ist endgültig entstellt und verflacht.

Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin, dass 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung des Staates zum Ziele setzen, dieses Ziel für durchführbar halten erst nach der Aufhebung der Klassen durch die sozialistische Revolution, als Resultat der Aufrichtung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt; die Anarchisten wollen die völlige Aufhebung des Staates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für die Durchführbarkeit einer solchen Aufhebung zu begreifen. 2. Die Marxisten erachten es für notwendig, dass das Proletariat nach Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zerstört, um sie durch eine neue, nach dem Typus der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter zu ersetzen; die Anarchisten, die für die Zerstörung der Staatsmaschinerie eintreten, sind sich völlig unklar darüber, was das Proletariat an ihre Stelle setzen und wie es die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchisten lehnen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Proletariat, dessen revolutionäre Diktatur, ab. 3. Die Marxisten fordern die Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution durch Ausnutzung des gegenwärtigen Staats; die Anarchisten lehnen das ab.

Kautsky gegenüber vertritt Pannekoek in dieser Kontroverse den Marxismus, denn gerade Marx hat uns gelehrt, dass das Proletariat nicht einfach die Staatsmacht erobern kann im Sinne des Überganges des alten Staatsapparates in neue Hände, sondern dass es diesen Apparat zerschlagen, zerbrechen, ihn durch einen neuen ersetzen muss.

Kautsky schwenkt vom Marxismus zu den Opportunisten ab, denn bei ihm verschwindet vollkommen gerade diese Zerstörung der Staatsmaschine, die für die Opportunisten völlig unannehmbar ist, und es bleibt ihnen eine Hintertür offen dadurch, dass sie die „Eroberung" als einfache Erlangung der Mehrheit auslegen.

Um seine Entstellung des Marxismus zu bemänteln, verfährt Kautsky nach dem Rezept des bibelfesten Mannes: er lässt „ein Zitat" von Marx selbst los. 1850 schrieb Marx über die Notwendigkeit der „entschiedensten Zentralisation der Gewalt in den Händen der Staatsmacht". Und Kautsky fragt triumphierend, ob denn Pannekoek den Zentralismus zerstören wolle?

Das ist einfach Hokuspokus, ähnlich der Bernsteinschen Identifizierung der marxistischen und proudhonistischen Anschauungen über Föderalismus statt Zentralismus.

Das „Zitat" passt bei Kautsky wie die Faust aufs Auge. Zentralismus ist sowohl bei der alten wie bei der neuen Staatsmaschinerie möglich. Wenn die Arbeiter freiwillig ihre bewaffneten Kräfte vereinigen werden, so wird das Zentralismus sein, aber er wird beruhen auf der „völligen Zerstörung" des zentralistischen Staatsapparates, des stehenden Heeres, der Polizei, der Bürokratie. Kautsky benimmt sich durchaus wie ein Schwindler, indem er die ihm wohlbekannten Darlegungen von Marx und Engels über die Kommune umgeht und ein Zitat hervorholt, das mit der Frage nichts zu tun hat.

„ … Will er (Pannekoek) vielleicht die staatlichen Funktionen der Beamten aufheben?“ – fährt Kautsky fort. – „Aber wir kommen in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus7, geschweige denn in der Staatsverwaltung. Unser Programm fordert denn auch nicht Abschaffung der staatlichen Beamten, sondern die Erwählung der Behörden durch das Volk …

Nicht darum handelt es sich bei unserer jetzigen Erörterung, wie sich der Verwaltungsapparat des ,Zukunftsstaates' gestalten wird, sondern darum, ob unser politischer Kampf die Staatsgewalt auflöst, ehe wir sie noch erobert haben" (von Kautsky gesperrt). „Welches Ministerium mit seinen Beamten könnte aufgehoben werden?"

Es werden die Ministerien des Unterrichts, der Justiz, der Finanzen, des Heerwesens aufgezählt.

Nein, keines der heutigen Ministerien wird durch unseren politischen Kampf gegen die Regierungen beseitigt werdenIch wiederhole es, um Missverständnissen vorzubeugen: hier ist nicht die Rede von der Gestaltung des Zukunftsstaates durch die siegreiche Sozialdemokratie, sondern von der des Gegenwartsstaates durch unsere Opposition." (S. 725.)

Dies ist eine offensichtliche Verdrehung. Pannekoek stellt gerade die Frage der Revolution. Das wird sowohl in der Überschrift seines Artikels wie in den angeführten Stellen klar gesagt. Indem Kautsky auf die Frage der „Opposition" hinüber springt, vertauscht er den revolutionären Standpunkt gegen einen opportunistischen. Bei ihm erscheint die Sache so: gegenwärtig sind wir in Opposition; nach Eroberung der Macht werden wir weiter sehen. Die Revolution verschwindet! Das ist es gerade, was die Opportunisten brauchten.

Es handelt sich nicht um Opposition und nicht um den politischen Kampf im Allgemeinen, sondern eben um die Revolution. Die Revolution besteht darin, dass das Proletariat den „Verwaltungsapparat", ja den gesamten Staatsapparat zerstört und ihn durch einen neuen, aus bewaffneten Arbeitern gebildeten Apparat ersetzt. Kautsky offenbart eine „abergläubische Verehrung" der „Ministerien", doch weshalb sollten diese nicht ersetzt werden können, sagen wir, durch Kommissionen von Fachleuten, während alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten gehört?

Der springende Punkt besteht durchaus nicht darin, ob „Ministerien" bleiben, ob es „Kommissionen von Fachleuten" oder irgendwelche andere Institutionen geben wird, das ist ganz unwichtig. Die entscheidende Frage ist, ob die alte Staatsmaschinerie (die durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch von Routine und Trägheit durchsetzt ist) aufrechterhalten bleibt, oder ob sie zerstört und durch eine neue ersetzt wird. Die Revolution darf nicht darin bestehen, dass eine neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert, leitet, sondern muss darin bestehen, dass sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und leitet – diesen grundlegenden Gedanken des Marxismus vertuscht Kautsky, oder aber er hat ihn gar nicht begriffen.

Seine Frage wegen der Beamten beweist anschaulich, dass er die Lehren der Kommune und die Marxsche Lehre nicht erfasst hat. „Wir kommen in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus … "

Wir kommen nicht ohne Beamte aus unter dem Kapitalismus, unter der Herrschaft der Bourgeoisie. Das Proletariat ist geknechtet, die werktätigen Massen sind durch den Kapitalismus versklavt. Unter dem Kapitalismus ist die Demokratie durch das ganze Milieu der Lohnsklaverei, der Not und des Elends der Massen eingeengt, eingeschrumpft, beschnitten, verstümmelt. Aus diesem Grunde, und nur aus diesem, werden die beamteten Personen in unseren politischen und gewerkschaftlichen Organisationen durch das Milieu des Kapitalismus demoralisiert (oder genauer gesagt, haben sie die Tendenz, demoralisiert zu werden) und weisen sie die Tendenz auf, sich in Bürokraten, d. h. in den Massen entfremdete, über den Massen stehende, privilegierte Personen zu verwandeln.

Das ist das Wesen des Bürokratismus, und solange die Kapitalisten nicht expropriiert sind, solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist, solange ist eine gewisse „Bürokratisierung" sogar der proletarischen beamteten Personen unvermeidlich.

Bei Kautsky sieht die Sache so aus: da gewählte beamtete Personen bleiben, so bleiben auch die Beamten unter dem Sozialismus, bleibt die Bürokratie. Und gerade das ist falsch. Gerade an dem Beispiel der Kommune hat Marx gezeigt, dass unter dem Sozialismus die beamteten Personen aufhören, „Bürokraten", „Beamte" zu sein, sie hören es auf in dem Maße, als außer der Wählbarkeit auch noch die jederzeitige Absetzbarkeit eingeführt wird, dazu noch die Reduzierung des Gehalts auf das Niveau des durchschnittlichen Arbeiterlohnes, dazu noch die Ersetzung der parlamentarischen Körperschaften durch „arbeitende Körperschaften, die vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit" sind.

Im Grunde genommen läuft die ganze Argumentation Kautskys gegen Pannekoek und insbesondere der herrliche Einwand Kautskys, dass wir auch in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte auskämen, auf eine Wiederholung der alten „Argumente" Bernsteins gegen den Marxismus überhaupt hinaus. In seinem Renegatenbuch „Die Voraussetzungen des Sozialismus" bekämpft Bernstein die Ideen der „primitiven" Demokratie, bekämpft er das, was er als „doktrinären Demokratismus" bezeichnet: gebundene Mandate, unbezahlte Beamte, machtlose Zentralvertretung usw. Als Beweis für die Unhaltbarkeit dieser „primitiven" Demokratie beruft sich Bernstein auf die Erfahrungen der englischen Trade-Unions, wie sie das Ehepaar Webb interpretiert. Während der siebzig Jahre ihrer Entwicklung hätten die Trade-Unions, die sich angeblich „in voller Freiheit" entwickelt haben (S. 137 der deutschen Ausgabe), sich von der Unbrauchbarkeit der „primitiven" Demokratie überzeugt und sie durch die übliche Demokratie ersetzt: Parlamentarismus, verquickt mit Bürokratismus.

In Wirklichkeit haben sich die Trade-Unions nicht „in voller Freiheit", sondern in voller kapitalistischer Sklaverei entwickelt, wobei natürlich eine Reihe Zugeständnisse an das herrschende Übel, an Vergewaltigung, Lüge, Ausschluss der Armen von der „höheren" Verwaltung „nicht entbehrt werden können". Unter dem Sozialismus wird unvermeidlich vieles von der „primitiven" Demokratie wieder aufleben, denn zum ersten Mal in der Geschichte der zivilisierten Völker wird die Masse der Bevölkerung sich zur selbständigen Beteiligung nicht nur an Abstimmungen und Wahlen, sondern auch an der laufenden Verwaltungsarbeit erheben. Unter dem Sozialismus werden alle abwechselnd, der Reihe nach, in der Leitung tätig sein und sich bald daran gewöhnen, dass keiner leitet.

Marx, mit seinem genialen kritisch-analytischen Verstande, sah in den praktischen Maßnahmen der Kommune jenen Umschwung, den die Opportunisten fürchten und nicht zugeben wollen aus Feigheit, aus Furcht, mit der Bourgeoisie endgültig zu brechen, und den die Anarchisten nicht einsehen wollen, sei es aus Übereilung, sei es aus Verständnislosigkeit für die Bedingungen sozialer Wandlungen der Massen überhaupt. „An die Zerstörung der alten Staatsmaschinerie ist gar nicht zu denken – wie sollen wir denn da ohne Ministerien und ohne Beamte auskommen?" – räsoniert der durch und durch verspießerte Opportunist, der im Grunde an die Revolution, an die Schaffenskraft der Revolution nicht nur nicht glaubt, sondern vor ihr eine tödliche Angst hat (wie unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre) .

Es gilt nur, die alte Staatsmaschinerie zu zerstören, man braucht nicht in die konkreten Lehren der früheren proletarischen Revolutionen einzudringen und zu analysieren, wodurch und wie das Zerstörte ersetzt werden soll", räsoniert der Anarchist (der beste von ihnen natürlich, und nicht einer, der mit den Herren Kropotkin und Co. hinter der Bourgeoisie herläuft); daher kommt beim Anarchisten eine Taktik der Verzweiflung heraus, statt einer rücksichtslos kühnen und gleichzeitig die praktischen Bedingungen der Massenbewegung berücksichtigenden revolutionären Arbeit an konkreten Aufgaben.

Marx lehrt uns beide Fehler vermeiden, er lehrt uns grenzenlose Kühnheit bei der Zerstörung der gesamten alten Staatsmaschine, und gleichzeitig lehrt er uns, die Frage konkret zu stellen: die Kommune vermochte in einigen Wochen den Bau einer neuen proletarischen Staatsmaschine in Angriff zu nehmen und auf diese Weise die erwähnten Maßnahmen zu größerer Demokratisierung und Ausrottung des Bürokratismus durchzuführen. Wir wollen uns an der revolutionären Kühnheit der Kommunarden ein Beispiel nehmen, wir wollen in ihren praktischen Maßnahmen eine Skizzierung der praktisch-dringlichen und sofort durchführbaren Maßnahmen erblicken, und wir werden, wenn wir diesen Weg gehen, zur völligen Vernichtung des Bürokratismus gelangen.

Die Möglichkeit einer solchen Vernichtung ist dadurch gesichert, dass der Sozialismus den Arbeitstag verkürzen, die Massen zu neuem Leben emporheben, für die Mehrheit der Bevölkerung Bedingungen schaffen wird, die allen ohne Ausnahme gestatten werden, „Staatsfunktionen" auszuüben. Das aber führt zum völligen Absterben jeden Staates überhaupt.

„ … Seine (des Massenstreiks) Aufgabe – fährt Kautsky fort – kann nicht die sein, die Staatsgewalt zu zerstören, sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu bringen, oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen … Aber nie und nimmer kann dies zu einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen … Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung." (S. 726, 727, 732.)

Das ist schon der reinste und banalste Opportunismus, der Verzicht auf die Revolution in der Tat bei einem Bekenntnis zu ihr in Worten. Kautskys Gedanke geht nicht weiter als bis zu einer „dem Proletariat entgegenkommenden Regierung" – ein Schritt rückwärts zum Spießertum, verglichen mit 1847, wo das „Kommunistische Manifest" die „Organisierung des Proletariats zur herrschenden Klasse" proklamierte.

Kautsky wird die von ihm geliebte „Einigkeit" mit den Scheidemännern, den Plechanow, Vandervelde verwirklichen müssen, die alle bereit sind, für eine „dem Proletariat entgegenkommende Regierung" zu kämpfen.

Wir aber werden uns von diesen Verrätern am Sozialismus trennen und werden für die Zerstörung der ganzen alten Staatsmaschinerie kämpfen, auf dass das bewaffnete Proletariat selbst die Regierung sei. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Kautsky wird die angenehme Gesellschaft der Legien, David, Plechanow, Potressow, Zeretelli, Tschernow teilen müssen, die alle bereit sind, für eine „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt", für die „Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung" zu kämpfen – ein höchst edles Ziel, an dem für die Opportunisten alles akzeptabel ist, alles im Rahmen der bürgerlichen parlamentarischen Republik bleibt.

Wir aber werden uns von den Opportunisten trennen, und das ganze klassenbewusste Proletariat wird mit uns sein im Kampfe nicht nur um eine „Verschiebung der Machtverhältnisse", sondern um den Sturz der Bourgeoisie, um die Zerstörung des bürgerlichen Parlamentarismus, um die demokratische Republik vom Typus der Kommune oder eine Republik der Arbeiter- und Soldatenräte, um die revolutionäre Diktatur des Proletariats.

Noch weiter rechts als Kautsky stehen im internationalen Sozialismus solche Richtungen, wie die „Sozialistischen Monatshefte" in Deutschland (Legien, David, Kolb und viele andere, einschließlich der Skandinavier Stauning und Branting), die Jaurèsisten und Vandervelde in Frankreich und Belgien, Turati, Treves und andere Vertreter des rechten Flügels der italienischen Partei, die Fabier und die Unabhängigen („Unabhängige Arbeiterpartei", die sich in Wirklichkeit stets in Abhängigkeit von den Liberalen befand) in England u. a. m. Alle diese Herrschaften, die in der parlamentarischen Arbeit und in der Parteipublizistik eine ungeheure, sehr oft eine beherrschende Rolle spielen, lehnen die Diktatur des Proletariats rundweg ab, treiben eine Politik des unverhüllten Opportunismus. Für diese Herrschaften „widerspricht" die „Diktatur" des Proletariats der Demokratie!! Sie unterscheiden sich im Grunde durch nichts ernsthaft von den kleinbürgerlichen Demokraten.

Ziehen wir diesen Umstand in Betracht, so sind wir zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass die II. Internationale in der überwältigenden Mehrheit ihrer offiziellen Vertreter sich vollkommen dem Opportunismus verschrieben hat. Die Erfahrungen der Kommune wurden nicht nur vergessen, sondern entstellt. Den Arbeitermassen wurde nicht nur nicht eingeprägt, dass die Zeit naht, wo sie sich werden erheben und die alte Staatsmaschine zerbrechen müssen, um sie durch eine neue zu ersetzen und auf diese Weise ihre politische Herrschaft zur Grundlage der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu machen – das Gegenteil wurde den Massen eingeprägt, und die „Eroberung der Macht" wurde so dargestellt, dass dem Opportunismus tausend Hintertüren geöffnet blieben.

Die Entstellung und das Verschweigen der Frage, wie sich die proletarische Revolution zum Staat verhält, musste eine ungeheure Rolle spielen, als die Staaten mit ihrem infolge der imperialistischen Konkurrenz verstärkten militärischen Apparat sich in Kriegsungeheuer verwandelten, die Millionen von Menschen vernichten, um den Streit zu entscheiden, ob England oder Deutschland, ob dieses oder jenes Finanzkapital die Welt beherrschen soll.8

1 Der Haager (5.) Kongress der Internationale (1872), auf dem Marx und Engels anwesend waren, war fast vollständig dem Kampf gegen die Bakunisten gewidmet. Auf Antrag von Vaillant nahm der Kongress eine gegen die Auffassung der Bakunisten gerichtete Resolution über die Notwendigkeit des politischen Kampfes an. Bakunin und mehrere seiner Anhänger wurden aus der Internationale ausgeschlossen. Der Haager Kongress war der letzte Kongress der I. Internationale.

2 Die „Sarja" war das theoretische Organ der russischen Sozialdemokratie, das in den Jahren 1901/02 in Stuttgart unter der Redaktion von Plechanow, Lenin, Axelrod, Martow, Sassulitsch und Potressow herausgegeben wurde. Im ganzen sind drei Hefte erschienen: Nr. 1 im April 1901, Nr. 2/3 im Dezember 1901, Nr. 4 im August 1902.

3 Der fünfte internationale Sozialistenkongress tagte vom 23. bis 27. September des Jahres 1900 in Paris. Auf dem Kongress waren gegen 800 Delegierte anwesend (die russische Sozialdemokratie war auf dem Kongress durch die verhältnismäßig große Delegation von 24 Mitgliedern vertreten).

Die Hauptfrage, auf die die Aufmerksamkeit des Kongresses konzentriert war, und die zu einer lebhaften Debatte führte, war die Frage der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und der Zulässigkeit der Beteiligung von Sozialisten an bürgerlichen Ministerien. Diese Frage erfuhr, im Zusammenhang mit dem sogenannten „Fall Millerand", eine ganz besondere Zuspitzung. Millerand, französischer Sozialist und Mitglied des Parlaments, war unter dem Vorwand der Notwendigkeit der Verteidigung der Republik gegen die monarchistische Gefahr im Juni 1899 als Handelsminister in das Kabinett Waldeck-Rousseau (dem auch der berüchtigte General Gallifet, der Henker der Pariser Kommune, angehörte), eingetreten und blieb trotz aller Proteste des revolutionären Flügels der französischen Sozialisten, vor allem der „Guesdisten" und „Blanquisten", in der Regierung, auch nachdem diese auf streikende Arbeiter in Chälons und auf Martinique hatten schießen lassen. Jaures, der Führer der französischen Opportunisten, unterstützte Millerand.

Zu dieser Frage nahm der Kongress folgende, von Kautsky vorgeschlagene „versöhnliche" Resolution an: „Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat kann in einem modernen demokratischen Staat nicht das Werk eines bloßen Handstreiches sein, sondern kann nur den Abschluss einer langen und mühevollen Arbeit der politischen und ökonomischen Organisation des Proletariats, seiner physischen und moralischen Regenerierung und der schrittweisen Eroberung von Wahlsitzen in Gemeindevertretungen und gesetzgebenden Körperschaften bilden.

Aber die Eroberung der Regierungsmacht kann dort, wo sie zentralisiert ist, nicht stückweise erfolgen. Der Eintritt eines einzelnen Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium ist nicht als der normale Beginn der Eroberung der politischen Macht zu betrachten, sondern kann stets nur ein vorübergehender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein.

Ob in einem gegebenen Falle eine solche Zwangslage vorhanden ist, dass ist eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips. Darüber hat der Kongress nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall kann dieses gefährliche Experiment nur dann von Vorteil sein, wenn es von einer geschlossenen Parteiorganisation gebilligt wird und der sozialistische Minister der Mandatar seiner Partei ist und bleibt.

Wo der sozialistische Minister unabhängig von seiner Partei wird, wo er aufhört, der Mandatar seiner Partei zu sein, da wird sein Eintritt in das Ministerium aus einem Mittel, das Proletariat zu stärken, ein Mittel, es zu schwächen, aus einem Mittel, die Eroberung der politischen Macht zu fördern, zu einem Mittel, um sie zu verzögern. Der Kongress erklärt, dass ein Sozialist ein bürgerliches Ministerium verlassen muss, wenn die organisierte Partei erklärt, dass es Parteilichkeit im Kampf zwischen Kapital und Arbeit bewiesen hat."

Der Text der Resolution, die von Guesde vorgeschlagen wurde und bei der Abstimmung in der Minderheit blieb, lautete:

Der fünfte Internationale Kongress zu Paris erklärt wiederholt, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, gleichviel ob sie auf friedlichem Wege erfolgt, die gewaltsame politische Expropriation der Kapitalistenklasse bedeutet.

Sie lässt deshalb die Teilnahme am Bourgeois-Regiment dem Proletariat nur in der Form der Eroberung von Mandaten aus eigener Kraft auf dem Boden des Klassenkampfes zu und untersagt jede Teilnahme der Sozialisten an bürgerlichen Regierungen, denen gegenüber die Sozialisten auf den Standpunkt unbeugsamer Opposition stehen bleiben müssen." (Siehe Seite 19 „Internationaler Sozialistenkongress zu Paris 1900", Verlag der Buchhandlung „Vorwärts", Berlin — Die Red.)

Plechanow, Axelrod und Sassulitsch stimmten für die Resolution Guesdes. Nachdem der Kongress eine Reihe von Beschlüssen zu anderen Fragen (auch zur Frage des Blocks mit bürgerlichen Parteien und zur Frage des Generalstreiks) angenommen hatte, beschloss er auch ein ständiges internationales Büro oder Sekretariat mit dem Sitz in Brüssel zu gründen.

Dem Kongress ist der Artikel Plechanows in Nr. 1 der „Sarja" gewidmet, der den Titel trägt „Einige Worte über den letzten internationalen Sozialistenkongress in Paris".

4 Lenin meint das Buch Kautskys „Die soziale Revolution. I. Sozialreform und Soziale Revolution. II. Am Tage nach der sozialen Revolution". Das Buch erschien im Jahre 1902 in Berlin im Verlag des „Vorwärts". In russischer Sprache erschien es im Jahre 1903 in Genf in der Übersetzung und unter der Redaktion von Lenin, im Verlag der Liga der „Revolutionären Sozialdemokratie Russlands".

In seinem Buch „Staat und Revolution" zitiert Lenin überall die ausländischen Verfasser nach dem Urtext. Da er anscheinend mit den vorhandenen Übersetzungen nicht zufrieden ist, übersetzt er jedes Zitat aus dem Deutschen neu.

5 Lenin meint das Buch von K. Kautsky „Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über die Revolution". Berlin 1909. Verlag: Buchhandlung „Vorwärts". Die russische Ausgabe erschien zum ersten Mal im Jahre 1918 in der Übersetzung von N. L. Meschtscherjakow.

6 Der Artikel Kautskys gegen Pannekoek „Die neue Taktik" ist in der „Neuen Zeit", XXX. Jahrgang, Bd. II, 1911/12, veröffentlicht worden.

7 Mit dem Wachstum der kapitalistischen Unternehmen entstanden in diesen Unternehmen Verwaltungen mit Angestellten. Diese Angestellten wurden damals oft in Analogie mit den Beamten des Staatsapparats als „Privatbeamte“ bezeichnet. Mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung wurden die aufkommenden Hauptamtlichen der Parteien und Gewerkschaften oft ebenso als „Partei-“ bzw. „Gewerkschaftsbeamte“ bezeichnet

8 Im Manuskript folgt weiter:

VII. Kapitel

Die Erfahrung der russischen Revolutionen von 1905 und 1917

Das in dem Titel dieses Kapitels genannte Thema ist so unermesslich groß, dass man darüber Bände schreiben könnte und müsste. In dieser Broschüre wird man sich natürlich nur auf die wichtigsten Lehren der Erfahrung beschränken müssen, die die Aufgaben des Proletariats in der Revolution gegenüber der Staatsgewalt unmittelbar betreffen." (Hier bricht das Manuskript ab. Die Red.)

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