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Wladimir I. Lenin 19170707 Über die Notwendigkeit der Gründung eines Verbandes der Landarbeiter

Wladimir I. Lenin: Über die Notwendigkeit der Gründung eines Verbandes der Landarbeiter

[„Prawda" Nr. 90 u. 91, 7. u. 8. Juli (24. u. 25. Juni) 1917, gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 216-221]

Erster Artikel

Die jetzt in Petersburg tagende Allrussische Konferenz der Gewerkschaftsverbände1 muss sich mit einer außerordentlich wichtigen Frage befassen. Es handelt sich um die Gründung eines allrussischen Verbandes der Landarbeiter.

Alle Klassen Russlands organisieren sich. Die mehr als alle anderen ausgebeutete, in größter Not lebende, am meisten zersplitterte und niedergedrückte Klasse der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter Russlands ist gleichsam vergessen. In einigen nichtrussischen Randgebieten, wie z. B. in Lettland, bestehen Landarbeiterorganisationen. In den allermeisten großrussischen und ukrainischen Gouvernements gibt es keine Klassenorganisationen des Landproletariats.

Es ist die vornehmste und unbedingte Pflicht der Vorhut der Proletarier Russlands, der Gewerkschaftsverbände der Industriearbeiter, ihren Brüdern, den Landarbeitern, zu Hilfe zu kommen. Die Schwierigkeiten der Organisierung der Landarbeiter sind gewaltig, das ist klar und wird auch durch die Erfahrung aller kapitalistischen Länder bestätigt.

Um so notwendiger ist es, so rasch und so energisch wie möglich die politische Freiheit in Russland zur sofortigen Gründung eines allrussischen Verbandes der Landarbeiter auszunützen. Gerade die Konferenz der Gewerkschaftsverbände kann und muss dies tun. Gerade die erfahreneren, aufgeklärteren, klassenbewussteren Vertreter des Proletariats, die jetzt auf der Konferenz versammelt sind, können und müssen an die Landarbeiter den Ruf ergehen lassen, dass sie in die Reihen der sich selbständig organisierenden Proletarier, in die Reihen ihrer Gewerkschaftsverbände eintreten. Gerade die Lohnarbeiter der Fabriken müssen die Initiative ergreifen und die über ganz Russland verstreuten Zellen, Gruppen, Zweigorganisationen der Gewerkschaften ausnutzen, um den Landarbeiter zu selbständigem Leben, zu tätiger Anteilnahme am Kampfe um die Verbesserung seiner Lage, zur Verteidigung seiner Klasseninteressen zu erwecken.

Viele werden wahrscheinlich glauben – und das dürfte sogar die zur Zeit vorherrschende Meinung sein –, dass gerade jetzt, wo die Bauernschaft sich in ganz Russland organisiert und die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden sowie das „gleiche" Nutzungsrecht auf den Boden proklamiert, die Gründung einer Landarbeitergewerkschaft nicht zeitgemäß sei.

Das Gegenteil ist richtig. Gerade in einer solchen Zeit ist sie besonders zeitgemäß und eine unaufschiebbare Notwendigkeit. Wer auf dem proletarischen Klassenstandpunkt steht, für den kann es keinen Zweifel geben an der Richtigkeit der auf dem Stockholmer Parteitag2 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands auf Initiative der Bolschewiki von den Menschewiki angenommenen These, die seitdem in das Programm der SDAPR eingegangen ist. Diese These lautet:

Die Partei macht es sich in allen Fällen und bei jedem Stand der demokratischen Agrarreform zur Aufgabe, unentwegt die selbständige Klassenorganisation des Landproletariats anzustreben, ihm die unversöhnliche Gegensätzlichkeit seiner Interessen gegenüber denen der bäuerlichen Bourgeoisie klarzumachen, es davor zu warnen, sich von dem System der Kleinwirtschaft verlocken zu lassen, das bei Bestehen der Warenproduktion niemals imstande ist, das Elend der Massen zu beseitigen, und schließlich auf die Notwendigkeit einer vollständigen sozialistischen Umwälzung hinzuweisen, als des einzigen Mittels, alles Elend und alle Ausbeutung aus der Welt zu schaffen."

Es gibt keinen einzigen klassenbewussten Arbeiter, kein einziges Gewerkschaftsmitglied, das die Richtigkeit dieser These nicht anerkannt hätte. Sie zu verwirklichen, soweit es sich um eine selbständige Klassenorganisation des Landproletariats handelt – das ist eben Sache der Gewerkschaften.

Wir hoffen, dass gerade in der revolutionären Zeit, wo unter den werktätigen Massen im Allgemeinen, und unter den Arbeitern im Besonderen, das Streben lebendig ist, sich Geltung zu verschaffen, sich den Weg zu bahnen, nicht zuzulassen, dass das neue Leben ohne die selbständige Lösung der Arbeitsfragen durch die Arbeiter selber gestaltet wird, dass gerade in einer solchen Zeit die Gewerkschaften sich nicht beschränken werden auf enge Zunftinteressen, ihre schwächeren Brüder, die Landarbeiter, nicht vergessen werden, sondern vielmehr ihnen mit aller Energie durch die Gründung eines Verbandes der Landarbeiter Russlands zu Hilfe kommen werden.

Im folgenden Artikel wollen wir versuchen, einige praktische Schritte in dieser Richtung zu behandeln.

Zweiter Artikel

Im vorigen Artikel sind wir auf die grundsätzliche Bedeutung der Frage eines Verbandes der Landarbeiter Russlands eingegangen. Jetzt wollen wir einige praktische Seiten dieser Frage berühren.

Dem Verband der Landarbeiter Russlands müssten alle angehören, die vorwiegend oder hauptsächlich oder wenigstens teilweise mit Lohnarbeit in landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt sind.

Ob es notwendig ist, diese Verbände zu teilen in Verbände reiner Landarbeiter und Verbände von Arbeitern, die nur zum Teil Lohnarbeiter sind, wird die Erfahrung zeigen. Das ist jedenfalls nicht wesentlich. Wesentlich ist, dass die grundlegenden Klasseninteressen aller, die ihre Arbeitskraft verkaufen, gleichartige sind, und dass die Zusammenfassung aller, die, sei es auch nur zum Teil, ihre Mittel zum Leben aus Lohnarbeit „im Dienste anderer" gewinnen, unbedingt notwendig ist.

Die Lohnarbeiter der Städte, der Fabriken und Werke sind durch Tausende und Millionen von Fäden mit den Lohnarbeitern des flachen Landes verknüpft. Eine Aufforderung, die die städtischen an die ländlichen Arbeiter ergehen lassen, kann nicht erfolglos bleiben. Doch darf man sich nicht auf die Aufforderung allein beschränken. Die Arbeiter der Städte haben viel mehr Erfahrung, Wissen, Mittel und Kräfte. Es ist notwendig, einen Teil dieser Kräfte herzugeben, um den Landarbeitern zu helfen, sich aufzurichten.

Es muss ein Tag festgesetzt werden, an dem alle organisierten Arbeiter ihren Verdienst für die Entwicklung und Festigung der Vereinigung der städtischen und der ländlichen Lohnarbeiter hergeben müssen. Ein bestimmter Teil dieser Summe soll ganz für die Unterstützung der Klassenvereinigung der Landarbeiter durch die Stadtarbeiter verwendet werden. Aus diesem Fond sind die Ausgaben zu bestreiten für die Herausgabe einer Reihe gemeinverständlich gehaltener Flugblätter, für die Herausgabe einer, wenn auch zunächst nur wöchentlich erscheinenden Landarbeiterzeitung, für die Entsendung wenigstens einer kleinen Zahl von Agitatoren und Organisatoren aufs Land zwecks sofortiger Gründung von Landarbeiterverbänden an verschiedenen Orten.

Nur die eigene Erfahrung solcher Verbände wird helfen, einen sichern Weg zur weiteren Entwicklung der Sache zu finden. Die erste Aufgabe jedes solchen Verbandes muss die Besserung der Lage derjenigen sein, die ihre Arbeitskraft in landwirtschaftlichen Betrieben verkaufen, die Durchsetzung höherer Löhne, besserer Wohnungs- und Ernährungsbedingungen usw.

Dem Vorurteil, als ob die bevorstehende Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden imstande sei, jedem Landarbeiter und Tagelöhner „Land zu geben", die Wurzeln der Lohnarbeit in der Landwirtschaft selbst abzuschneiden, muss der entschiedenste Kampf angesagt werden. Das ist ein Vorurteil und ein äußerst schädliches Vorurteil. Die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden ist eine gewaltige und unbedingt fortschrittliche, den Interessen der ökonomischen Entwicklung wie denen des Proletariats unbedingt entsprechende Reform, die jeder Lohnarbeiter aus ganzer Seele und mit allen Kräften unterstützen wird, die aber die Lohnarbeit noch keineswegs beseitigt.

Den Grund und Boden kann man nicht essen. Ohne Vieh, ohne Geräte, ohne Samen, ohne Produktenvorrat, ohne Geld kann man auf dem Boden nicht wirtschaften. Sich auf „Versprechungen" verlassen, von wem sie auch ausgehen mögen – auf Versprechungen, dass man den Lohnarbeitern des flachen Landes „helfen" würde, Vieh, Gerätschaften usw. anzuschaffen – wäre der schlimmste Irrtum, eine unverzeihliche Naivität.

Die Grundregel, das erste Gebot jeder Gewerkschaftsbewegung lautet: verlass dich nicht auf den „Staat", verlass dich nur auf die Kraft deiner Klasse. Der Staat ist die Organisation der herrschenden Klasse.

Verlass dich nicht auf Versprechungen, verlass dich nur auf die Kraft des Zusammenschlusses und des Bewusstseins deiner Klasse!

Dem Landarbeiterverband muss daher sofort die Aufgabe gestellt werden – nicht nur Kampf für die Besserung der Lage der Arbeiter überhaupt, sondern insbesondere auch bei der bevorstehenden großen Bodenreform Verteidigung ihrer Interessen als Klasse.

Die Arbeitshände müssen den Landbezirkskomitees zur Verfügung gestellt werden" – so urteilen oft die Bauern und die Sozialrevolutionäre. Der Standpunkt der Klasse der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter ist ein entgegengesetzter: die Landbezirkskomitees müssen den „Händen" zur Verfügung gestellt werden! Die Stellung der Besitzer und die der Lohnarbeiter tritt durch solche Gegenüberstellung klar zutage.

Der Grund und Boden dem ganzen Volke". Das ist richtig Aber das Volk ist in Klassen geteilt. Jeder Arbeiter weiß, sieht, fühlt, erlebt diese Wahrheit, die die Bourgeoisie absichtlich verwischt und das Kleinbürgertum ständig vergisst.

Dem einzelnen Armen wird man nicht helfen können. Kein „Staat" wird dem Lohnarbeiter auf dem flachen Lande, dem Landarbeiter, dem Tagelöhner, dem ärmsten Bauer, dem Halbproletarier helfen, wenn er sich selbst nicht hilft.

Der erste Schritt hierzu ist die selbständige Klassenorganisation des Landproletariats.

Sprechen wir den Wunsch aus, dass die Allrussische Konferenz der Gewerkschaftsverbände mit größter Tatkraft an diese Sache herangehe, dass sie in ganz Russland ihren Ruf vernehmen lasse, dass sie ihre hilfreiche Hand, die machtvolle Hand der organisierten Vorhut des Proletariats, den Proletariern des flachen Landes entgegenstrecke.

1 Die erste Allrussische Konferenz der Gewerkschaften tagte in Petrograd vom 4. Juli (21. Juni) bis 11. Juli (28. Juni) 1917.

2 Der Stockholmer Parteitag der SDAPR, auch Vereinigungsparteitag genannt, fand im April 1906 statt. Der Parteitag hatte sich zur Aufgabe gestellt, die beiden feindlichen Fraktionen, die Bolschewiki und die Menschewiki, sowie alle nationalen sozialdemokratischen Organisationen (die Sozialdemokratie Polens, die Sozialdemokratie Lettlands, den „Bund") zu einer Partei zusammenzuschließen. Auf dem Stockholmer Parteitag waren die Menschewiki in der Mehrheit, und es wurden im allgemeinen die von den Menschewiki vorgeschlagenen, vom Geiste des Opportunismus getragenen Resolutionen angenommen.

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